Tschechien und Deutschland im gemeinsamen Europa

Von Otokar Löbl | Festrede zur 15-jährigen Städtepartnerschaft zwischen Bad Hersfeld und Šumperk|Mährisch Schönberg in Bad Hersfeld, 10. Oktober 2009

Meine sehr geehrten Damen und Herren, sehr geehrte Gäste,

Bad Hersfeld Ottoes ist für mich eine große Ehre, anlässlich des 15-jährigen Bestehens der Städtepartnerschaft zwischen Bad Hersfeld und Šumperk (deutsch Mährisch Schönberg) über das Thema „Tschechien und Deutschland im gemeinsamen Europa“ zu sprechen. Dies gibt mir die Gelegenheit, Ihnen meine Ansichten über die deutsch-tschechischen Beziehungen und ihre Bedeutung für Europa darzulegen.

Doch erlauben sie mir zuerst, mich Ihnen vorzustellen: Ich bin nach den Krieg, 1950, in der Stadt Žatec, auf deutsch Saaz, in Nordböhmen geboren. Damals waren Tschechen und Slowaken noch in der Tschechoslowakei vereint. Ich bin der Sohn deutschsprachiger Eltern, einer katholischen Mutter und eines jüdischen Vater. Die Angehörigen meines Vaters sind während der deutschen Besatzung Böhmens alle, bis auf meine Großmutter, im KZ umgekommen. Die Großmutter überlebte im Ghetto Theresienstadt, starb aber vor meiner Geburt. Mein Vater überlebte den Krieg nur Dank hoher Tapferkeitsauszeichnungen im 1. Weltkrieg. Die Geschwister meiner Mutter wurden nach dem Krieg von den Tschechen aus dem Egerland vertrieben. Mein Vater durfte als Jude zusammen mit meiner Mutter in der Heimatstadt Saaz bleiben.

Während des „Prager Frühlings“ 1968 war ich als Jugendlicher politisch sehr aktiv. Nach der gewaltsamen Unterdrückung dieser Bewegung durch sowjetische Panzer sah ich für mich unter dem kommunistischen Regime keine Zukunft mehr. 1970 gelang es mir, in Rahmen einer Familienzusammenführung legal in die Bundesrepublik auszureisen. Seit den 90er Jahre bemühe ich mich als Mitglied deutscher und tschechischer Vereine um eine Verständigung der beiden Nachbarn in Europa. Dazu soll der „Saazer Weg“ dienen, der die Versöhnung zwischen Tschechen und der Schicksalsgemeinschaft der Heimatvertriebenen auf dem Wege von Wahrheit und Vergebung vorsieht und einen zukunftsorientierten und demokratischen Dialog anstrebt, ohne sturem Beharren auf Rechtsstandpunkten und einseitigen Schuldbekenntnissen.

Seit 2003 wird dieses generationenübergreifendes Projekt vor allem vom „Förderverein der Stadt Saaz“ vertreten, dessen Vorsitzender ich bin, in enger Zusammenarbeit mit dem tschechischen Partnerverein „Landsleute und Freunde der Stadt Žatec (Saaz)“ und dem Heimatkreis Saaz in Roth. Erlauben Sie mir, aus dem „Saazer Weg“ zu zitieren:

Der Saazer Weg ist der Versuch, sich von der Vergangenheit und ihren schrecklichen Ereignissen nicht gefangen nehmen zu lassen, sondern der gemeinsamen Zukunft von Tschechen und Deutschen im europäischen Haus eine Zukunft zu geben. Die den Saazer Weg gehen wollen, sind überzeugt: Ohne Erinnerung kann es keine Versöhnung geben, aber ewige Vorwürfe führen auch nicht zum Ziel. Die Freundschaft, die heute Deutsche mit Franzosen und Polen verbindet, muss auch zwischen Tschechen und Deutschen möglich sein.

Dies ist aus der aktuellen Version von 2003 in der Formulierung unseres Schriftführers, des Historikers Dr. Kalckhoff, der freundlicherweise auch diese Rede hier durchgesehen hat.

Bei meinen Bemühungen um das deutsch-tschechische Verhältnis lasse ich mich von dem Gießener Philosophen Odo Marquardt und dessen skeptischem, aber aufgeklärten Konservatismus leiten: Weil wir als Zeitgeborene immer schon eine Welt vorfinden, über die wir nicht frei verfügen können – vielmehr anknüpfen müssen an Vorhandenes im negativen wie im positiven Sinne –, ist unser Handeln stärker durch Traditionen und Gewohnheiten als durch Neuanfänge und Veränderungen bestimmt. Dies trifft selbst dann noch zu, wenn wie in der Moderne eine allgemeine Wandlungsbeschleunigung der Lebensverhältnisse stattfindet. „Zukunft braucht Herkunft“, und wenn Herkunft schwindet, finden sich Mittel und Wege, ihren Verlust zu ersetzen oder auszugleichen. Dies ist nicht nur für die deutsch-tschechischen Beziehungen von Bedeutung, sondern für den ganzen Integrationsprozess und die Zukunft der Völker in Europa. Dies bedeutet, dass die Völker im gemeinsamen Europa nicht ihre Identität, ihre Traditionen und Wurzeln verlieren dürfen.

Böhmen besteht seit mehr als tausend Jahren. Dank seiner Lage im Zentrum des europäischen Kontinents spielte es im Laufe der Geschichte als Königreich und Sitz mehrerer deutscher Kaiser eine bedeutende Rolle. Seine Geschichte ist zutiefst europäische Geschichte. In ihr spiegeln sich die Probleme der gesamteuropäischen Geschichte, im Positiven wie im Negativen. Man denke nur an die Bedeutung von Prag und Saaz für die europäische Bildungsgeschichte, den Frühhumanismus und die Frühreformation, aber auch an die düsteren Aspekte der Hussitenkriege und die kriegsauslösende Rolle Böhmens im Dreißigjährigen Krieges.

Böhmen war Teil des Habsburger Reichs und wurde bei dessen Umwandlung in die Österreichisch-Ungarische Monarchie dem Teilreich Österreich zugeschlagen. Damit war der nachfolgende Konflikt vorprogrammiert. Gab es früher Auseinandersetzungen um die Religion, so war das Verhältnis zwischen Tschechen und Deutschen im 19. Jahrhundert vom Sprachenstreit bestimmt. Die Amtssprache in Böhmen war Deutsch. Mit wachsendem tschechischen Nationalbewusstsein wurde dies zum Ärgernis für die slawische Mehrheit in Böhmen.

Während die Österreicher die tschechische Sprachmehrheit bis zum Ende der Donaumonarchie nicht gesetzlich respektierten, wurden die Deutschen nach dem 1. Weltkrieg in der Tschechoslowakei zu einer geduldeten Minderheit. Der Sprachenstreit setzte sich fort, jetzt unter umgekehrtem Vorzeichen. Während vor dem Krieg die Tschechen aus Enttäuschung über ihre nationale Zurücksetzung nach Unabhängigkeit riefen, taten es jetzt die Deutschen. Diese  separatistischen Tendenzen hatten aber mehrere Ursachen. Ich nenne hier nur die Wirtschaftskrise und die Arbeitslosigkeit, * Bemerkung* Aufstieg des Nationalsozialismus in Deutschland und der radikale Versuch der Regierung in Prag, ohne Rücksicht auf die vorhandenen und gefestigten Strukturen auch in dem Teil Böhmens, der von überwiegend Deutschen bewohnt war , einen zentralen  tschechoslowakischen Staat aufzubauen. Dies alles führte 1938 zum Münchner Abkommen, das einer Kastrierung der böhmischen Länder gleichkam – einer Lösung, die sich später rächte. Hitlers Besetzung des Restes der Tschechoslowakei im Jahr darauf mit der Gründung des Protektorates Böhmen und Mähren und eines  slowakischen faschistischen Satellitenstaates  war das Ende der kurzen Selbständigkeit. (Der Beginn der Tragödie und eines Trauma für die Tschechen)

Die anschließenden Verbrechen der deutschen Nationalsozialisten – Lidice, Ležáky, Malín, sowie die Ermordung der Juden – belasten die deutsch-tschechischen Beziehung bis in die heutige Zeit schwer. Dabei erschien das Protektorat lange als eine Oase inmitten des europaweiten Kriegs und wirkte kaum wie ein besetztes Land. Denn die Verhaftungen, Folterungen, Hinrichtungen und Verschleppungen in Arbeitslager wurden in aller Heimlichkeit durchgeführt. Da die gut ausgebildeten tschechischen Arbeiter für die deutsche Rüstungsindustrie von großer Wichtigkeit waren, durfte kein Aufsehen erregt werden. Ziel der Liquidierungen war die Intelligenz des Landes, waren Studenten und bürgerlicher Mittelstand, die für den Nazistaat nutzlos und gefährlich zugleich waren.

Dieses System der Heimlichkeit wurde nach dem Krieg von der tschechischen Nationalfront unter Leitung der Kommunisten weitergeführt. Die ethnischen Säuberungen an den Deutschen, die Massaker an ihnen und ihre Vertreibung aus den angestammten Wohngebieten, die von den Siegermächten in Potsdam nachträglich gebilligt wurde, wurden vertuscht oder verharmlost und den Nachgeborenen in ihrem wahren Ausmaß verheimlicht. Gleichzeitig waren sie eine Generalprobe für das, was die Tschechische Republik in den nächsten fünfzig Jahren erwartete. Die Abrechnung mit dem „Klassenfeind“, mit dem alten westlich orientierten Bürgertum, und der Versuch, eine neue „proletarische“ Intelligenz zu schaffen,  waren die ersten Schritte. Die Deutschen aber, die Jahrhunderte lang zusammen mit den Tschechen das Land Böhmen kultiviert hatten, wurden zu Ausländern, zu denen man kaum mehr Kontakt hatte, weder zu den Westdeutschen, noch zu den „sozialistischen Brüdern“ in der DDR.

Auch in Deutschland nahm man 1945, die „Stunde Null“, zum Anlass für einen Neuanfang, doch auf ganz andere Weise. Die bürgerliche Gesellschaft, die von den Nationalsozialisten zerstört worden war, wurde wieder aufgebaut, Deutschland zurückgeführt in die Gemeinschaft freier Völker.

Dieses Deutschland (BRD) stellte sich der Schuld des Dritten Reichs und empfand Scham über seine Kriegsverbrechen, wenn auch manchmal nur zögerlich. Acht Millionen Heimatvertriebene, darunter die über zwei Millionen Deutschböhmen, beteiligten sich intensiv am Wiederaufbau. Dieses Jahr feiern wir den 60-jährigen Geburtstag einer freiheitlichen rechtstaatlichen Ordnung, auf die wir sehr stolz sind. Während die Tschechen und Slowaken Gefangene des sowjetischen Panzerkommunismus blieben, konnte sich die Mehrzahl der Deutschen an der Gründung eines freiheitlichen Staatenbunds in Europa beteiligen.

Auch letzteres  war dem tschechischen Volk nach der Befreiung von der deutschen nationalsozialistischen Herrschaft nicht vergönnt. Die Enttäuschung über das Verhalten der Westmächte 1938, die Dankbarkeit gegenüber den Russen für die militärische Befreiung und die Begeisterung über die scheinbar wiedergewonnene Freiheit machte viele blind für die Gefahren bolschewistischer Herrschaft. Viele glauben noch heute an das Märchen von einer demokratischen Tschechischen Republik 1945-1948. In Wirklichkeit begann mit dem Kaschauer Programm im April 1945 die Diktatur der sog. „Nationalen Front“ unter der Führung der KPČ. Der „Februar-Umsturz“ 1948 bedeutete nur eine Formalisierung und Zementierung der tatsächlichen Machtverhältnisse. Dass 1945 mit den Deutschen angeblich nur Nazi-Invasoren und hochverräterische Separatisten vertrieben wurden, wurde zur Lebenslüge der tschechoslowakischer Innenpolitik – die nach den traumatischen Besatzungsjahren nur allzu leicht geglaubt wurde. Sie vergiftete indes das Verhältnis zum westdeutschen Nachbarn bis in die jüngste Zeit.

Die Tschechoslowakei zwischen 1948 bis 1989 scheint, bei oberflächlicher Betrachtung, als totalitäres Regime sowjetischer Bauart. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass es immer wieder Phasen relativer Freiheit gab und für kurze Zeit die totalitären Machtmechanismen sogar gelähmt schienen. Die 1960er Jahre waren eine Zeit des zunehmenden Optimismus. Eine breite Front aus Intellektuellen, Schriftstellern und Künstlern, aus KP-Mitgliedern und Parteilosen begann, den Terror der vorgegangenen zehn Jahre als Anomalie wahrzunehmen und eine Liberalisierung der „sozialistischen Gesellschaft“ anzustreben. Im „Prager Frühlings“ 1968 erkämpfte man sich ein beachtliches Maß an Bürgerrechten, Freiräume für autonome Aktionen auf politischem, gesellschaftlichem und kulturellem Gebiet entstanden, der „eiserne Vorhang“ war für kurze Zeit durchlässig. Im Rahmen eines antipluralistischen, undemokratischen und zentralistischen Systems war dies etwas Paradoxes. Der Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes, mit dem das Experiment eines „dritten Weges“ militärisch beendet wurde, erscheint da im Nachhinein nur logisch.

Mit dem Ende der Sowjetmacht 1989 verschaffte sich auch der Freiheitswillen der Tschechen und Slowaken wieder Raum. Wie in der DDR wurde die bolschewistische Parteidiktatur in kurzer Zeit hinweggefegt. Daran erinnern wir uns gerade in diesen Tagen wieder. Ziemlich genau vor 20 Jahren begann in Prag die „samtene Revolution“, die Demokratie, Bürgerrechte, Marktwirtschaft und nationale Selbstbestimmung brachte.

Leider erfüllte sich nicht die deutsche Hoffnung, dass die Verständigung und Versöhnung über die Gräben des Krieges und der Nachkriegsereignisse hinweg mit einem demokratischen Nachbarn ungleich leichter sein würde als mit dem kommunistischen. Die neuen demokratischen Politiker in der Tschechoslowakei – von  Ausnahmen abgesehen – waren und sind teilweise noch geprägt von der kommunistischen Geschichtslüge über die im Großen und Ganzen humane und gerechte „Abschiebung“ (odsun) der Deutschen, die ihnen in der Schule aufgetischt wurde. Auf der anderen Seite zeigen sich viele Sudentendeutsche, besonders aber einige – ich betone einige Verbandsfunktionäre der SL – nicht bereit zum Verzicht auf „historische Rechte“ und juristische Ansprüche. Dies spiegelt sich leider auch in der Satzung der SL wieder. Sie wollen nicht den Zusammenhang zwischen nationalsozialistischen Verbrechen und Vertreibung sehen und erkennen nicht, dass auch die Tschechen und Slowaken einen Anspruch auf Entschuldigung für erlittenes Unrecht haben. (Bemerkung: Es wird mit den gleichen konstruierten Kausalitäten argumentiert.)

Die tschechische Presse hat sich neuerdings verstärkt des Themas Vertreibung und Massaker an Deutschen angenommen – angeregt durch Initiativen von Vereinen wie dem unseren, wie ich in aller Bescheidenheit erwähnen darf. Auf der anderen Seite sorgen deutsche Fernsehsendungen und Vereinsinitiativen dafür, dass die Verbrechen der Naziherrschaft in Böhmen nicht in Vergessenheit geraten.

Formell wurden die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und Tschechien mittlerweile durch den „Vertrag über gute Nachbarschaft“ von 1992 auf ein stabiles Fundament gestellt. Regelmäßige Treffen auf allen politischen Ebenen, die ausgezeichnete Zusammenarbeit in der EU und in anderen internationalen Organisationen sowie gemeinsame Initiativen in gesellschaftlichen Bereichen haben ein festes Band geschaffen. Ein Zeugnis dafür ist auch diese Veranstaltung anlässlich des 15-jährigen Bestehens der Städtepartnerschaft zwischen Bad Hersfeld und Šumperk.

Aus den zahlreichen Stiftungen, die sich der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit verschrieben haben, ist besonders der Deutsch-Tschechische Zukunftsfonds hervorzuheben.

Weiter die Aktivitäten der Ackermann-Gemeinde, die gerade ihr Bundestreffen zum ersten Mal in Tschechien (nämlich in Pilsen) veranstaltet hat, sowie die kulturellen Veranstaltungen des Adalbert-Stifter-Vereins. Auch die Bemühungen von Heimatvertriebenenvereine etwa hinsichtlich der Restaurierung von Kirchen und anderen schützenswerten Bauwerken.

Sicher ist, dass die Völker nur dann ruhig in die Zukunft schauen können, wenn sie auch die dunklen Seiten ihrer Vergangenheit annehmen und die Wahrheit nicht verdrängen. Nur so ist Versöhnung und Vergebung möglich, nur so ruhen die Toten in Frieden, nur so ist die Zukunft wirklich sicher. Nur auf der Grundlage eines gemeinsamen Geschichtsverständnisse  lässt sich ein sicheres Haus Europa bauen.

Ich bedanke mich für ihre Aufmerksamkeit.