Heute lebt nur noch eine jüdische Familie in Saaz

VON OTOKAR LÖBL | Rede auf dem Jüdischen Friedhof in Saaz am 27. Mai 2013

Sehr geehrte Damen und Herren,

Genozid (neulateinisch: genocidium, „Völkermord“) ist seit der Konvention von 1948 über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes ein Straftatbestand des Völkerrechts, der nicht verjährt. Von Genozid spricht man dann, wenn viele Menschen einer bestimmten nationalen, ethnischen oder religiösen Gruppe systematisch ermordet werden.

Als Holocaust (hebräisch: schoah, „Unheil, Katastrophe“) wird der Völkermord an 5,6 bis 6,3 Millionen Menschen bezeichnet, die das Deutsche Reich in der Zeit des Nationalsozialismus als Juden definierte. Er gründete auf dem vom NS-Regime propagierten Antisemitismus und zielte auf die vollständige Vernichtung der europäischen Juden. Er wurde ab 1941 systematisch, ab 1942 auch mit industriellen Methoden durchgeführt.

Auch unserer Stadt hat dieser Genozid große Opfer gekostet. Saazer Juden, denen es nicht rechtzeitig gelang, Europa zu verlassen, landeten fast alle in den Gaskammern der Vernichtungslager. Die Saazer Juden haben in dieser Stadt, wie überall in Europa, einen bedeutenden Beitrag zu Wirtschaft und Kultur geleistet, der heute schmerzlich fehlt. Unser Projekt „Die Juden von Saaz“ möchte nicht nur da Schicksal der Ermordeten betrauern, sondern auch deren Beitrag zur tschechischen und deutschen Geschichte der Stadt in Erinnerung bringen.

Der Antisemitismus war kein Monopol von Nazi-Deutschland. Er war auch schon in Österreich-Ungarn verbreitet. In der ersten Tschechoslowakischen Republik tarnte er sich mit dem Vorwurf, dass die Juden überwiegend deutsch sprachen und sich zur deutschen Kultur bekannten. Dieses Dilemma der böhmischen Juden formulierte Theodor Herzl schon 1897: „Was haben sie denn getan, die kleinen Juden von Prag, die braven Kaufleute von Prag, die friedlichsten aller friedlichen Bürger? In Prag warf man ihnen vor, dass sie keine Tschechen, in Saaz und Eger, dass sie keine Deutschen seien.“

Bei der Volkzählung im Jahre 1930 wurden 944 Juden in Saaz registriert. Das waren jene Einwohner, die sich selbst als eine eigene Volksgruppe neben Deutschen und Tschechen betrachteten. Die tatsächliche Anzahl der Bürger jüdischer Abstammung war jedoch höher, sie lag bei über zehn Prozent der Saazer Bevölkerung. Die meisten davon hatten für die deutsche Volksgruppe optiert, einige auch für die tschechische. Dieses Bekenntnis zum Deutschtum nutzte ihnen freilich im November 1938 nichts. Die Nazis sortierten nach Rasse – was immer das sein mag – und nicht nach Kultur. In der Nacht vom 9. auf den 10. November, der sogenannte „Reichskristallnacht“, brannte auch in Saaz die Synagoge. Dabei wurde die ganze Inneneinrichtung zerstört.

Danach begann der Abtransport der jüdischen Mitbürger in Lager. Im Mai 1939 lebten in Saaz nur noch 91 nach den Nürnberger Gesetzen so genannte „Rassejuden“. Heute gibt es in Saaz nur noch eine jüdische Familie, deren Mitglieder in der jüdischen Gemeinde Teplitz aktiv sind. Dies ist die Familie Beck. Dazu gehören die Tochter meines Freundes Karel, der hier auf dem Friedhof beerdigt ist, und die Enkelin des letzten Kantor der Saazer jüdischen Gemeinde Otto Beck, Gabriela. Letztere ist hier anwesend als Stellvertretende Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Teplitz, die Saaz mitbetreut. Saaz hat keine eigene jüdische Gemeinde mehr.

Die ungeheure Schuld der deutschen Nazis an der Vernichtung der Juden auch in Böhmen, an der auch Sudetendeutsche teilnahmen, soll nicht relativiert werden. Aber es sei doch ein Blick auf die Geschichte Böhmens seit dem späten 19. Jahrhundert erlaubt, auf die Situation der Juden in Österreich-Ungarn und in der ersten Tschechoslowakischen Republik, die durchaus als Menetekel der späteren Judenvernich­tung gesehen werden kann, und nicht zuletzt auf die aktuelle Lage in der Tschechischen Republik.

Gegen Ende des 19. Jahrhundert begann die Lage für die Juden in Böhmen und Mähren kritisch zu werden. Als Warnung vor dem Kommenden kann die Wahl von Karl Lueger zum Bürgermeister von Wien gelten, der ein offen antisemitisches Programm vertrat. In den achtziger Jahren breitete sich von Österreich die pangermanische Bewegung des Georg von Schöner aus, die besonderen Widerhall bei der Landbevölkerung und den Arbeitern in Nordböhmen fand. So wurde Nordböhmen zur Wiege des deutschen Nationalsozialismus. Dies gipfelte im Jahre 1919 in der Gründung der Deutschen Nationalsozialistischen Arbeiter Partei (DSNAP) mit Sitz in Aussig. Die reichsdeutsche NSDAP wurde erst ein Jahr später gegründet.

Aber auch im tschechischsprachigen Böhmen erschienen jetzt antisemitische Bücher und Pamphlete, im Namen der Narodni Ochrana („Nationalen Verteidigung“) z. B. der Titel „Gedanken über den materiellen und sittlichen Niedergang der tschechischen Nation“, an dem auch die Juden schuld seien: Die Juden verkaufen angeblich billige, aber schlechte Ware, mit denen sie die tschechischen Frauen verführen. Tschechen sollten deshalb nur bei Christen zu kaufen. 1910 vermischt ein Gedicht, das in einem volkssozialistischen Blatt erscheint, nationalrevolutionäres Pathos auf fatale Weise mit antisemitischer Hetze: „Gleiches zu Gleichem! Erkenne das Richtige! Erhebe stolz Deinen Kopf, Du zu Tode gehetztes, unterdrücktes Volk! Schau doch an, wie da aus deinen Hautschwielen die Juden wachsen ….“ So geht das in einem fort weiter.

Was waren das für großen Pfadfinder in Prag, die schon am 14. Oktober 1938, also zwei Wochen nach dem Münchner Abkommen, ein Memoranden der obersten Stände der Ärzte, Rechtsanwälte, Notare und Techniker herausgaben, in dem sie verlangten, „dass es in Zukunft im Interesse des Volkes nicht zulässig sei, dass ärztliche, anwaltliche und technische Berufe von Juden ausgeübt werden“! So eine Haltung konnte nicht im Laufe von zwei Wochen unter deutschem Druck entstehen, sie musste schon länger im Denken verwurzelt sein. Worin unterschieden sich Deutsche und Tschechen dann in ihrer Einstellung zu den Juden? Durch die Nürnberger Gesetze? Auch diese versuchte die Resttschechei mit Meilenschritten nachzuholen.

Am Anfang des 21. Jahrhunderts müssen wir überall auf der Welt das Wiederaufleben des Antisemitis­mus feststellen, z. B. in der Form eines europaweiten Neonazismus, mit dessen Verbreitung sich die Angriffe auf jüdische Einrichtungen vermehren; im islamischen Fundamentalismus, der unter der Fahne des Antizionismus den jüdischen Staat existentiell bedroht; aber auch in Gestalt einer überzogenen und einseitigen Kritik an der Politik des Staates Israel, hinter der sich oft alte antijüdische Sentiments und Ressentiments verbergen.

Zum Schluss möchte ich noch aus dem Bericht über den Stand des Antisemitismus zitieren, den die „Föderation der Jüdischen Gemeinden in der Tschechischen Republik“ 2010 veröffentlicht hat: „Trotz der überwiegend positiven Haltung der tschechischen Öffentlichkeit den Juden gegenüber ist es nötig zu bemerken, dass tschechische Rechtsextremisten wie gehabt in ihren Schriften Konspirationstheorien über die Vorherrschaft der Juden verbreiten. Dies geht mit einem Antijudaismus einher, der üblicherweise aus christlichen Kreisen stammt. Die Juden werden als Urheber des Bösen in der Welt und in der Tschechischen Republik bezichtigt. Diese Extremisten werden durch den arabischen Antisemitismus inspiriert, der in der arabischen Welt im Trend ist. Erhöhte Aktivität hinsichtlich einer antiisraelischen Haltung beobachten wir im Nahen Osten, z. B. im Zusammengang mit der europäischen Aktion ‚Flotte der Freiheit‘. Die Extremisten benutzen außer schriftlichen Medien überwiegend Internetvideos, die sie aus fremdsprachigen Quellen übernehmen.“

In diesem Zusammenhang sei die faschistoide Aktion D.O.S.T. (Akronym aus Důvěra, Objektivita, Svoboda, Tradice = Glaube, Objektivität, Freiheit und Tradition; tschechisch „dost“ heißt aber auch „Es reicht!“) erwähnt, deren Propagandist Ladislav Bátora bis zum Herbst 2011 einen hohen Posten im Bildungsministerium besetzte. Bátora war 2006 für die rechtsextreme Nationalpartei ins Parlament gewählt worden und durch antisemitische Äußerungen, Ausfälle gegen Sinti und Roma sowie Homosexu­elle hervorgetreten. D.O.S.T. muss nicht nur für die tschechischen Juden, sondern für die ganze Republik als ein gefährliches Phänomen betrachtet werden.

Ich danke für ihre Aufmerksamkeit.