Von Andreas Kalckhoff | Vortrag im Rahmen der Saazer Gespräche anlässlich der Tausendjahrfeier im Prager Senatsgebäude (Waldsteinpalais) am 10. September 2004
Die erste neuhochdeutsche Prosadichtung
Zwei der für die deutsche Literatur bedeutendsten Dichter stammen aus Böhmen: Franz Kafka – und der Autor des „Ackermann aus Böhmen“, Johannes von Saaz, der in den lateinischen Quellen abwechselnd als Iohannes Tepla und Iohannes de Sitbor erscheint. Im westböhmischen Schüttwa (Šitboř) im ehemaligen Bezirk Bischofteinitz ist er wahrscheinlich geboren, im nordböhmischen Tepl, wo es eine Lateinschule gab, aufgewachsen, doch die meiste Zeit seines Lebens hat er in Saaz verbracht. Er hat studiert, auf jeden Fall auch Rechtswissenschaft, und den Magistertitel erworben. Man vermutet, daß er Beziehungen zur Prager Hofkanzlei hatte, mit großer Wahrscheinlichkeit zu Johannes von Neumarkt, der zwanzig Jahre lang der Kanzler Kaiser Karls IV. war. Er wird sogar als sein Schüler bezeichnet, obwohl ein direkter Kontakt zwischen Johannes von Neumarkt und Johannes von Saaz nicht nachweisbar ist.
Johannes von Neumarkt, von dem wir noch mehr hören werden, war bis 1374 als Kanzler im Amt. Im Jahr darauf ist unser Johannes erstmals in Saaz urkundlich. Es wäre denkbar, dass er zuvor in der Prager Hofkanzlei tätig war. Spätestens seit 1383 war er Stadtschreiber und Notar in Saaz (civitatis notarius), denn in diesem Jahr legte er das Saazer Stadtbuch an, ursprünglich eine Urkundensammlung, später auch mit erzählenden Einträgen. Außerdem war er Leiter der Saazer Lateinschule (rector scolarum). 1411 – also nach über 35jähriger Tätigkeit – gab er seine Ämter in Saaz auf, um in der 1348 gegründeten Prager Neustadt erster Notar und Stadtschreiber zu werden. Zwei Jahre später – 63jährig oder älter – erkrankte er schwer und starb zwischen Juni 1414 und April 1415. Er hinterließ fünf Kinder und eine Witwe namens Clara.
Johannes von Saaz hat außer dem berühmten Prosatext „Der Ackermann aus Böhmen“ als dichterisches Werk nur noch einige deutsche Verse hinterlassen. Die Formelbücher, die er verfaßt hat – es handelt sich dabei um Musterbriefsammlungen –, sind seiner Stadtschreibertätigkeit zuzuordnen. Es fällt deshalb schwer, betrachtet man seine Lebensleistung, ihn als Dichter zu bezeichnen. Aber zwischen Kunst und Wissenschaft wurde damals noch nicht so streng unterschieden wie heute.
„Der Ackermann aus Böhmen“ ist aus zwei Gründen bedeutend: Es handelt sich um die erste neuhochdeutsche Prosadichtung und um einen der frühesten humanistischen Texte nördlich der Alpen. Sein zeitgenössischer Ruhm hatte freilich andere Gründe, über die zu sprechen ist. Der Autor hat von diesem Ruhm nicht mehr profitiert, denn größere Verbreitung fand das Werk erst ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod – daran waren zu einem Gutteil die hussitischen Unruhen schuld. Aus den Jahren zwischen 1450 und 1550 sind dann aber 16 Handschriften und 15 Drucke überliefert. Berücksichtigt man, dass diese nur einen Bruchteil der verbreiteten Exemplare repräsentieren, wird klar, daß Johannes von Saaz mit seinem Text einen Nerv der Zeit getroffen haben muß. Leider ist der Originaltext nicht erhalten; die älteste Handschrift stammt von 1449 und noch nicht einmal aus Böhmen.
Der „Ackermann aus Böhmen“ ist die in 34 Kapitel gegliederte Klage eines „Ackermanns“ gegen den personifizierten Tod anläßlich des schmerzlichen Verlustes seiner jungen Frau Margaretha. Der Ackermann beschimpft dabei den Tod „als schädlichen Urfeind aller Welt“, als „schändlichen Mörder aller Menschen“, verflucht ihn „ewiglich“ und fordert Gott auf, ihn aus der Schöpfung zu tilgen. Der Tod nennt ihn dafür töricht, denn alle irdische Kreatur müsse notwendigerweise „zunichte“ werden; er selbst – „der Herr Tod“ – sei lediglich „Gottes Hand, ein gerecht arbeitender Mäher“. Dem Text zufolge ist Margaretha am 1. August 1400 im Kindbett gestorben.
Diese genaue Angabe deutet daraufhin, dass Margaretha keine literarische Figur ist, sondern tatsächliche gelebt hat, obwohl eine Ehefrau dieses Namens für Johannes von Saaz nicht belegt ist. Wenn die persönliche Betroffenheit tatsächlich Auslöser der Dichtung war, so ließ sich der Autor bei aller Pathetik dennoch nicht von seinem Schmerz davontragen: Vielmehr deuten die strenge Form von Rede und Wechselrede, die dem Gerichtsprozess entlehnt ist, und die Metaphorik der Sprache auf andere Ziele hin. Der Autor bezeichnet sich als Ackermann, dessen Pflug „vom Vogelkleide stammt“ – also die Schreibfeder ist. Als Gegenspieler des tödlichen Mähers, des Schnitters Tod, muss man sich den Ackermann als Säer denken, der die Saat auf den Acker bringt und für das Wachsen der Frucht sorgt. Es sind also Leben und Tod, Welt und Jenseits, die gegeneinander argumentieren.
Das neue humanistische Denken
Vor 1411 – der Autor gibt sich noch als civis Zacensis, als „Saazer Bürger“, zu erkennen – schickt Johannes den libellus Ackerman, das „Ackermann-Büchlein“, wie er selbst es nennt, an seinen Jugendfreund Peter Rothers. Rothers – auch als „Petrus von Tepl“ urkundlich – ist ein wohlhabender Jude in Prag, der gute Kontakte zum Hof Wenzels IV. hat und auch als Geldgeber der Stadt Saaz auftritt. In dem lateinischen Begleitbrief zum Buch ist von Trauer nicht die Rede – vielleicht auch, weil der Tod Margarethas schon etwas zurückliegt. Stattdessen bezeichnet Johannes sein Werk bescheiden als rhetorische Stilübung. Um solch ein rhetorisches „Stückl“ hatte der Freund offensichtlich gebeten. Es scheint aber so, dass Johannes sich auch aktiv um die Verbreitung seiner Schrift bemühte. Mit Peter Rothers und dessen Beziehungen zum Hof hatte er jedenfalls einen geeigneten Multiplikator.
Rhetorik war damals groß in Mode. Die Begeisterung dafür hatte Petrarca aus Italien nach Böhmen gebracht – auch er ein gelernter Jurist, darüber hinaus Dichter, Gelehrter und Diplomat. 1356 kam er als Gesandter der Mailänder Visconti an den Prager Hof Karls IV., wo Johannes von Neumarkt seit zwei Jahren Kanzler war. Rhetorik hatte in der Renaissance einen ganz anderen Stellenwert als heute: Sie galt nicht bloß als sprachliche Verzierung, sondern war in Ciceros Sinne eine ars movendi: die Kunst, seelische Bewegungen hervorzurufen und damit die Welt selbst in Bewegung zu setzen. Petrarcas Anschauung von Wert, Würde und Macht der Sprache wurde zu einem entscheidenden Merkmal des Humanismus.
Über Johannes von Neumarkt kam Johannes von Saaz offensichtlich in Berührung mit diesen neuen Ideen. Im Saazer Stadtbuch finden wir – sogar an zwei Stellen eingeschoben – eine „Empfehlung der Rhetorik“ (Commendacio grammtice), die wahrscheinlich von Johannes selbst stammt. Dort heißt es unter anderem: „Durch sie (die Rhetorik) werden nämlich Gottes Wohltaten dem Gedächtnis der Menschen auf ewig überliefert, werden Freunde angeleitet, Feinde abgeschreckt und unterdrückt, Gesetze gestärkt, Traurige getröstet, Unbarmherzige besänftigt – kurz gesagt: durch sie wird alles Gute in der Welt machtvoll und heilbringend gestärkt.“
Die göttlichen Wohltaten ins rechte Licht rücken: Das tut Johannes tatsächlich mit seinem „Ackermann“. Während der Tod ganz in der mittelalterlichen Tradition des contemptus mundi, der Weltverachtung, die Welt eitel nennt und den Menschen als „Kotfaß“, als „faules Aas“, als „ein gemaltes Blendwerk“ denunziert, besteht der Ackermann darauf, „daß Gott den Menschen und alle Dinge vollkommen gut erschaffen und den Menschen über sie alle gesetzt hat“. Der Tod, der zu früh kommt und die Falschen trifft, stört diese Vollkommenheit: „Eher das Tüchtige als das Untüchtige nimmt er hinweg; das Schädliche, Alte, Sieche, Unnütze läßt er oft hier, die Guten und Wackeren rafft er alle dahin.“
Der Autor bezeichnet denn auch sein Werk in dem genannten Brief an Peter Rothers als „Schmähschrift gegen das unvermeidliche Schicksal des Todes“ (inveccio contra fatum mortis inevitabile). Freilich lässt er dem Tod nicht nur schlechte, sondern auch gute Argumente, vor allem den nötigen Hinweis auf das ökologische Problem der Unsterblichkeit: „Hätten wir von des ersten lehmgeformten Mannes Zeit an die Leute auf Erden, die Tiere und das Gewürm … nicht ausgerodet: vor kleinen Mücken könnte es heute niemand aushalten, vor Wölfen getraute sich heute niemand auszugehen; es würde fressen ein Mensch den andern, … die Erde würde ihnen zu eng.“ Auch das ist freilich ganz innerweltlich gedacht und demonstriert – jenseits aller theologischen und philosophisch-stoischen Argumenten, die auch vorgetragen werden – das neue humanistische Denken.
Das Erwachen der Volkssprachen
Noch in einer anderen Hinsicht ist der libellus Ackerman wegweisend: in seiner Volkssprachlichkeit. Auch diesbezüglich haben Johannes von Neumarkt und sein Kreis zu seinem Entstehen beigetragen. Unter Kaiser Karl IV., einem Luxemburger, dessen Mutter eine Přemysl war, also aus dem alten tschechischen Königsgeschlecht, wurde Deutsch als Sprache der Reichskanzlei in Prag eingeführt. Das ging nicht gegen die Tschechen, denn Karl war sehr um einen Ausgleich zwischen den Interessen der beiden Sprachgemeinschaften in Böhmen bemüht. Vielmehr ersetzte Deutsch das Lateinische, das nur Gelehrte verstanden. Früher war jeder, der lesen konnte, ein Gelehrter, aber das hatte sich geändert: Bürgertum und Landadel konnten jetzt wohl lesen und schreiben – aber nicht unbedingt auch lateinisch!
Johannes von Neumarkt besorgte für diese Bürgerschicht eine Reihe von deutschen Prosaübersetzungen lateinischer Werke, nach dem Vorbild der italienischen Frühhumanisten. Er war dabei nicht der Einzige, und dies geschah nicht nur in Böhmen. Daß es aber auch in Böhmen passierte, zeigt, wie bedeutend das deutsche Bürgertum dort war. In Saaz, schreibt Ivan Hlaváček, hätte im 14. Jahrhundert „der tschechische Anteil an der ursprünglich deutschen Bevölkerung“ zugenommen – das heißt, dass Saaz eine deutsch geprägte Stadt war. Es gab dort deutsche Bürgermeister und deutsche Stadtschreiber. Für die gebildeten Bürger also schrieb der Stadtschreiber Johannes nun den libellus Ackerman – den ersten neuhochdeutschen Text, der keine Übersetzung oder Nachdichtung einer lateinischen Vorlage war. Das erschien für Böhmen so überraschend, dass die Forschung lange Zeit nach einer solchen Vorlage gesucht hat – bisher ohne Ergebnis!
Natürlich hat sich Johannes von anderen Werken anregen lassen, z. B. vom Tractatus de crudelitate mortis („Abhandlung über die Grausamkeit des Todes“), von dem wir wissen, dass er in seinem Besitz war. Auch in diesem Text besteht der Tod gegenüber einem advocatus mundi („Anwalt der Welt“) darauf, ein Organ des göttlichen Willens zu sein; aber in vielen anderen Argumente weicht er vom „Ackermann“ ab. Die dialogische Struktur, ja sogar der Titel erinnert weiters an William Langlands berühmtes Gedicht Piers Plowman, das man mit „Peter Ackermann“ übersetzen könnte. Eine andere Traditionslinie führt nach Frankreich zu den literarischen Complaintes funèbres („Totenklagen“), in denen ebenfalls lamentatio und accusatio, die Klage über den Tod und die Anklage des Todes, verbunden sind. Eustache Deschamps, der Autor einer gereimten „Klage über den Tod einer tugendhaften und gläubigen Frau“ (Complainte de la mort d’une vaillante femme et religieuse) – sie heißt Marguerite! – lebte gleichzeitig mit Johannes von Saaz.
Die Thematik und die literarische Form des „Ackermann“ lagen also in der europäischen Luft. Dabei kam in Böhmen natürlich nicht nur die deutsche Sprache zu literarischen Ehren, sondern auch die tschechische. Wenige Jahre nach dem „Ackermann“ entstand eine ganz ähnliche tschechische Dichtung, der Tkadleček („Das Weberlein“) aus der Feder eines sonst unbekannten Ludvik. Darin klagt der von seiner Geliebten verlassene Weber in hohem rhetorischen Stil das grausame Schicksal an und hebt dabei das eher komödienhafte Thema auf die philosophische Ebene von menschlichem und göttlichem Willen. In Struktur und Argumentation lehnt sich Ludvik stark an Johannes von Saaz an. Josef Vintr zufolge bezeugt „das Kunstwerk mit vielschichtiger, meist noch nicht entschlüsselter Allegorie und einem wirksamen kompositorischen Gegensatz zwischen emotionsgeladenen und philosophierenden Passagen das hohe Niveau der Kunstrezeption unter den vorhussitischen tschechischen Intellektuellen“.
Im 19. und 20. Jahrhundert ist dieses „Erwachen“ der Volkssprachen im 14. Jahrhundert nationalistisch gedeutet worden, wobei man offensichtlich ganz übersehen hat, dass es bereits seit dem Frühmittelalter volkssprachliche Literatur gibt, jedenfalls im deutschen, englischen und französischen Sprachraum. Der Unterschied zum Spätmittelalter war freilich, daß es sich bei den früh- und hochmittelalterlichen Dichtungen um Literatur für ein weitgehend illiterates adeliges Publikum handelte, die zwar aufgezeichnet, aber nicht gelesen, sondern in öffentlichem Vortrag angehört wurde. Die Handschriften – und bald auch Druckschriften – des 15. Jahrhunderts wurden dagegen von Adeligen und Bürgerlichen tatsächlich im stillen Kämmerlein gelesen. Ohne die Literarisierung und Verbürgerlichung der Bildung, von der auch die religiösen und politischen Bewegungen wie etwa der Hussitismus mit ihren Flugschriften profitierten, ist der Siegeszug des Buchdrucks überhaupt nicht zu denken. An dieser Erfolgsgeschichte hat auch der libellus Ackerman teil.
Mit Nationalismus hat das alles nichts zu tun: Die volkssprachlichen Texte, ob als Dichtung, Chronik oder Urkunde, dienten dem Bildungshunger und dem politischen Mitbestimmungswillen von Bürgertum und Landadel – nicht der Selbstversicherung nationaler Identität oder gar der feindlichen Abgrenzung gegen andere Nationalitäten. Politische und religiöse Schriften wurden, um breite Wirkung zu erzielen, schnell in andere Volkssprachen übersetzt, z. B. die hussitischen Flugblätter vom Tschechischen ins Deutsche. Daß nicht nationale Gegensätze das 15. und 16. Jahrhundert bestimmten, sondern religiöse und politisch-revolutionäre, zeigt der Einsatz des deutschen Bürgertums von Saaz für die hussitische Sache. Wie lang diese Treue anhielt (oder jedenfalls in Erinnerung war), belegt der lateinische Vers des Prager Hofdichters Jiří Carolides von Karlsberg (gestorben 1612), der heute noch das Saazer Priestertor ziert: Darin ermahnt er die Saazer, „Gottes unbewegliches Wort“ (Jovae immobile verbum) zu bewahren – also keine ketzerischen Veränderungen am Glauben zuzulassen.
Den nationalen Kult, den die Sudentendeutschen seit dem ersten Weltkrieg um Johannes von Saaz und den „Ackermann aus Böhmen“ aufführten, muß deshalb ein großes Missverständnis genannt werden. 1924 etwa bezeichnete Josef Nadler dieses Werk als „größte und schönste Schöpfung des mitteldeutschen Siedlungslandes und des ganzen neudeutschen Ostraumes“. In der Folge wurde der „Ackermann“ zum Identifikationstext der so genannten „Grenzdeutschen“. 1933 wurde in Karlsbad die Zeitschrift „Der Ackermann aus Böhmen. Monatschrift für das geistige Leben der Sudetendeutschen“ gegründet: Darin wird der Ackermann als deutscher Mensch gefeiert, der sich gegen das Schicksal auflehnt – gedacht wurde dabei natürlich auch an das politische Schicksal der Deutschen in Böhmen. Die Tschechen reagierten 1945 auf diese Politisierung des „Ackermann“, indem sie die erst 1921 angebrachte deutsche Gedenktafel für Johannes von Saaz von der Stirnwand des Rathauses entfernten.
Der Vortrag ist auch im Neudruck des Tagungsbandes veröffentlicht: „Der Ackermann aus Böhmen. Materialien einer deutsch-tschechische Konferenz über den Tod und das Sterben Saaz 14.-15.10.2006“, hg. Michael Popovic/ Ivan Peiffer, Bad Schussenried 2016.