Eine Ausstellung über die „Wilde Vertreibung“ zeigt, dass es im Katastrophenjahrzehnt 1938-1948 auf allen Seiten Verlierer gab.
VON KATHARINA BRUNS | LandesZeitung – Zeitung der Deutschen in der Tschechischen Republik 19. März 2012
Die Autorin ist Historikerin und lebt als freie Journalistin in Frankfurt am Main.
Immer wieder bleiben sie stehen. Verharren still vor einer der Schautafeln. Für ein paar Minuten sind sie wieder dort – in Postelberg (Postoloprty), Saaz (Žatec) oder in auch in einem der vielen anderen Orte in Nordböhmen, die damals Schauplatz der brutalen Vertreibungen waren. Damals, das meint die Monate nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, in denen keiner der deutschsprachigen Bürger Nordböhmens mehr sicher war.
Die Ausstellung „Die Wilde Vertreibung der Deutschen in Nordböhmen 1945“ in Frankfurt am Main zeigt ihren Besuchern anhand von Schautafeln chronologisch die Besiedlungsgeschichte Böhmen und Mährens. Man hat Wert darauf gelegt, sie von ihren Anfängen aus darzustellen, um die Entwicklungen und Beziehungen der verschiedenen Völker in den folgenden Jahrhunderten besser erklären zu können.
Vertreibung als solche ist in der Geschichte der beiden Identitätsgruppen keine Besonderheit. Aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit wurden im Verlauf der Jahrhunderte viele Menschen aus ihren Heimatgebieten vertrieben – Tschechen und Deutsche gleichermaßen. Im 20. Jahrhundert aber änderten sich die Beweggründe der Vertreiber und Vertriebenen. Das Jahrhundert der Ideologien und des Nationalismus brach an. Seinen schrecklichen Höhepunkt fand es in der grausamen Diktatur Adolf Hitlers.
Leid auf allen Seiten
Unter den Deutschen in Tschechien fand die Politik des Nationalsozialismus immer mehr Anhänger. Die Arbeitslosigkeit unter den so genannten „Sudetendeutschen“ war hoch und in gleichem Maße ihre Frustration. Nach der Gründung der Tschechoslowakei 1918 wurde die deutschsprachige Minderheit faktisch diskriminiert. Die daraus resultierende Unzufriedenheit ließ die „Sudentendeutschen“ wieder näher an Deutschland rücken und in ihnen die Hoffnung auf Hilfe aufkeimen. Und Adolf Hitler handelte. Im Zuge der Räumung des Sudetenlandes und der Besetzung der Tschechoslowakei wurden zahllose tschechische und deutschsprachige Intellektuelle, Oppositionelle und Juden verfolgt, weggesperrt oder ermordet.
Als es 1945 zur Kapitulation Deutschlands und dem Einmarsch der roten Armee kam, wurden in der Tschechoslowakei die Russen als Befreier gefeiert. Die neue Regierung der tschechoslowakischen Republik unter Edvard Beneš wurde von russischer Seite in ihrem Plan, das Land von den deutschen Mitbürgern zu säubern, in vollem Maße unterstützt.
Josef Hasenöhrl aus Podersam (Podbořany) stammend, der die Ausstellung mitorganisiert hat und selbst Zeitzeuge ist, erinnert sich:
Mit meiner Mutter war ich in Rübenfeldern, zwei Monate lang haben wir zwischen Rüben gelegen. Meine Mutter hatte Angst, dass sie vergewaltigt wird von den Russen.
Es begann die so genannte „Wilde Vertreibung“. Eine Zeit voller Angst und Willkür. Heute weiß man, dass diese „Abschiebungen“ in keiner Weise wild oder auch spontan waren, sondern von oberster Regierung geplant und gewollt. Im Mai 1945 forderte Edvard Beneš, vor allem die Deutschen in den böhmischen Ländern und die Ungarn in der Slowakei kompromisslos zu beseitigen. In der Zeit der „Wilden Vertreibung“ ist von schätzungsweise 3 Millionen Deutschen jeder vierte aus seiner Heimat vertrieben worden.
„Erinnern ohne Scheuklappen“
Die Ausstellung zeigt anhand verschiedener Orte Nordböhmens, welche Auswirkungen die „Wilde Vertreibung“ auf die Menschen hatte und wie die persönlichen Erinnerungen an die Gräueltaten mit den Berichten der tschechischen Archive zu vereinbaren sind.
In seinem Geleitwort betont der Vorsitzende der „Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte“, Karl Harfen, die Wichtigkeit der Ausstellung zur Aufarbeitung der deutschen Vor- und Nachkriegsvergangenheit:
Die Ausstellung „Die Wilde Vertreibung der Deutschen in Nordböhmen 1945“ erklärt die Gewalt auf allen Seiten und verurteilt sie genauso wie die noch anzutreffende Rechtfertigung von Gewalt; sie stellt die Geschehnisse in einen historischen Zusammenhang, ohne das individuelle Erlebnis zu unterschlagen. Sie ist daher ein Beitrag zur Versöhnung“, so Hafen.
Der in Brünn lehrende Historiker Dr. Adrian von Arburg ruft in seinem Grußwort zu Empathie auf:
Jene Zeit, sie brachte viel zu viele Verlierer. Was wir brauchen, ist Empathie für alle. Für alle, welche von der damaligen Zeit dauerhaft verletzt wurden. Was wir brauchen, bitter sogar, ist ein gemeinsames Erinnern ohne Scheuklappen.
Geschichtsaufarbeitung als Therapie
Der Ausstellungsleiter Otokar Löbl glaubt, dass gerade die Kombination aus persönlichen Zeugnissen und archivierten Dokumenten zur Aufklärung beitragen kann:
Die Ausstellung soll das historische Bild entnationalisieren. Sie soll der Jugend zeigen, dass es gewisse Vorgänge in der Geschichte gab, die sich immer wieder wiederholt haben. Wir holen mit dieser Ausstellung die Vergangenheit in die Gegenwart – mit Blick auf die Zukunft. Nur so können wir unter Umständen Fehler in der Zukunft vermeiden.
Nach all den Jahren bewegen die Bilder und Kommentare der Ausstellung die betroffenen Besucher noch immer. Otokar Löbl sieht darin eine Chance, mit dieser Ausstellung eine gewisse therapeutische Wirkung zu erzielen:
Sie müssen sehen, diese Leute sind ja auch traumatisiert. Die durften jahrelang nicht darüber reden, was ihnen passiert ist. Es ist wichtig, dass man das, was war, auch zeigt. Und durch die originalen tschechischen Dokumente kann man dies auch verifizieren.
Hier geht es zur Ausstellung Online …