Ein großer Sohn der Stadt Saaz: Karel Reiner

Komponist, Pianist, Musikkritiker 1910-1979

Saaz war keine Provinz. Goethe speiste hier zu Mittag und lobt die schöne Lage der Stadt. Im Saazer Theater gastierten namhafte Künstler und Ensembles aus Wien und München. Opernsänger, Schauspieler und Komponisten sind in Saaz geboren, die es allerdings alle in die Welt hinaus zog oder, wenn sie sich zum Tschechentum bekannten, nach Prag. Zu letzteren gehört Karel Reiner, in der Nachkriegszeit ein renommierter Vertreter der modernen Klassik. Eine Ausstellung in Saaz würdigt das aufregende Leben und Werk des jüdischen Musikers, der wie ein Wunder Ausschwitz überlebt hat.

Als Karl, der sich später Karel nannte, am 27. Juni 1910 auf die Welt kam, war Saaz eine überwiegend deutsche Stadt. Seine jüdischen Eltern stammten aus Czernowitz, wo man ebenfalls mehrheitlich Deutsch sprach. Der Vater hatte am Wiener Konservatorium studiert, in Saaz arbeitete er als Klavier- und Gesangslehrer und diente der jüdischen Gemeinde als der Oberkantor. Auch die Mutter unterrichtete am Klavier. Karls musikalisches Talent wurde bald erkannt. Er zeigte sich als Wunderkind, das mit Zwölf auf dem Piano Haydn und Mendelssohn­-Bartholdy spielte. So war klar, dass ihm Saaz musikalisch zu eng wurde. Achtzehnjährig begann er in Prag mit dem Musikstudium. Da er in Tschechisch Abitur abgelegt hatte, fand er sich in der neuen Umgebung schnell zurecht.

Karl Reiner mit seinen Eltern Josef und Sima

In Prag lernte er bei Berühmtheiten wie Alois Hába und Josef Suk, die unterschiedliche Musikstile vertraten. Während Suk die Klassik des 19. Jahrhunderts lehrte, war Hába ein Vertreter der musikalischen Moderne, experimentierte mit Viertel­, Fünftel-, Sechstel- sowie im diatonisch-chromatischen Tonsystemen und erregte damit das Aufsehen in der Fachpresse des In- und Auslandes. Unter diesen Einflüssen entwickelt Reiner eine eigene moderne Klangsprache, die das klassische Tonsystem mit polyphonen Klängen bereicherte. Eine bedeutende Rolle spielte dabei das Multitalent E. F. Burian, der sich vor allem als Theaterleiter hervortagt. Seine avantgardistischen Inszenierungen machten ihn ebenfalls über die Landesgrenzen hinaus bekannt. Reiner wurde bei Burian musikalischer Leiter. Daneben arbeitete als Chefredakteur der Musikzeitschrift „Rytmus“.

Karel Reiner (Mitte oben) mit
E. F. Burian (links), dem russischen
Regisseur W. Meyerhold
(rechts) und Ensemblemitgliedern
1936/ 37

Es waren die dreißiger Jahr. Anfangs glaubte Karel Reiner trotz böser Vorzeichen noch, dass die tschechoslowakische Republik stark genug sein würde, den inneren und äußeren Bedrohungen standzuhalten. Den tschechischen Nationalismus und Antisemitismus fand er ebenso fatal wie die Gefahr durch Hitler-Deutschland. Leider irrte er, wie viele andere, in der Annahme, die Westmächte würden einen Angriff nicht dulden. Doch es kam anders. Im September 1938 marschierten deutsche Truppen ins Sudetenland ein, im März darauf in Prag. Dem Juden Karl Reiner und seinen jüdischen Leidensgenossen blieb noch eine Galgenfrist von der Einführung der Rassengesetze bis zur Deportation ins KZ Theresienstadt.

Sonate No. 2 für Klavier, „Vítěztví“ („Der Sieg“)

Infolge der Rassengesetzte hatten Karel Reiner und seine Kollegen öffentliches Auftrittsverbot. Also organisierten sie heimlich Konzerte in privaten Räumlichkeiten. Reiner nutzte überdies die Zeit zum Sammeln tschechischer Volks- und Kinderlieder und Vertonen volkstümlicher Reimliteratur. Und natürlich arbeitete er an seinen Kompositionen weiter, darunter die optimistische Sonate „Der Sieg“. Spätestens 1942, als die ersten Juden nach Theresienstadt verschleppt wurden, war ihm jedoch klar, dass auch diese musikalische Untergrundarbeit ein Ende haben würde. Doch da Theresienstadt mit Blick auf ausländische Besucher als Musterlager konzipiert war, boten sich ihm wie anderen Künstlern dort weiter Möglichkeiten, kreativ tätig zu sein. Es gab interne Theateraufführungen und Konzerte, an denen er mitarbeitete.

Kinder in Theresienstadt: 400 starben dort, 7.500 in Auschwitz.

Daneben war er, wie seine Frau Hana, zur Kinderbetreuung eingeteilt. Vielleicht rettete ihm dies das Leben. Denn so wurde er erst im September 1944 nach Ausschwitz transportiert, als die Rote Armee dort schon nahe war. Das Lager befand sich in Auflösung. Bereits nach einer Woche kam er in einen Arbeitskräftetransport nach Dachau, ins Außerlager Kaufering, wo man an einer unterirdischen Flugzeugfabrik baute. Als dort im April 1945 die Amerikaner anrückten, ging es auf einen letzten Marsch in Richtung Alpen, solange, bis sich die SS aus dem Staub machte. Als Karel Reiner am 22. Mai in Prag eintraf, wog er noch fünfundvierzig Kilo. Aber auf wunderbare Weise erwartete ihn dort seine Frau Hana am Hauptbahnhof. Auch drei seiner engen jüdischen Freunde hatten überlebt, der Schriftsteller Norbert Frýd, der Theatermacher E. F. Burian und sein Lehrer Alois Hába.

Man könnte meinen, nach dem erlittenen Leid würde jemand wie er, der das künstlerische Leben Prags bereichert hatte, mit offenen Armen in seiner Heimat aufgenommen. Das Gegenteil war der Fall. Als gebürtiger Deutscher musste er erst beweisen, dass er ein guter Tscheche war. Mit Hilfe von Hába gelang es ihm schließlich, die Behörden davon zu überzeugen, das er sich, seit er in Prag lebte, als Tscheche gefühlt und so verhalten habe. Mit der Machtübernahme der Kommunisten im Februar 1848 entwickelten sich für ihn jedoch noch ganz andere Probleme. Er hatte zwar in der Besatzungszeit mit kommunistischen Zellen zusammengearbeitet, doch jetzt musste er feststellen, dass zwischen seinen Vorstellungen von künstlerischer Freiheit und dem zweckorientierten Kunstverständnis ideologisch geschulter Funktionäre eine breite Kluft auftat.

„Deportation“, Zeichnung der dreizehnjährigen Helga Weiss. Eine der Kinderzeichnungen aus Theresienstadt, die Eingang in die Filmdokumentation „Schmetterlinge leben hier nicht“ fand, die 1959 in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet wurde. Karel Reiner schrieb dazu die Filmmusik.

Als erstes nahm er die musikalische Zusammenarbeit mit den überlebenden Freunden wieder auf. Er komponierte, er inszenierte, er publizierte, letzteres in Burians linker Zeitschrift „Kulturpolitik“. Seit 1947 engagierte er sich in führenden Funktion im Verband tschechoslowakischer Komponisten. Da konnte es nicht ausbleiben, dass man sich seiner uneingeschränkten Loyalität versichern wollte. Man nötigte ihn zum Parteieintritt, was durchaus unerfreuliche Folgen hatte. Unter dem Druck der angeblichen jüdischen Ärzteverschwörung in der UdSSR, dem großen Bruder, erhöhte auch die KPČ 1952 ihre „Wachsamkeit“ gegenüber Menschen jüdischer Herkunft. Vor dem Zentralkomitee musste sich Reiner in einem vierstündigen „Gespräch“ rechtfertigen, ob er ein Anhänger des Zionismus sei. Daraufhin hatte er immer einen Koffer mit dem Nötigsten gepackt. Er hatte Erfahrung damit, was man bei einer Deportation brauchte.

Trotzdem konnte er sich danach als leitender Funktionär im „Haus der Volkskeativität“ und später als Vorsitzender des Tschechischen Musikfonds eine gewisse Unangreifbarkeit erarbeiteten. Dazu kamen seine musikalischen Erfolge, auch wenn sich seine avantgardistischen Arbeiten immer wieder dem Vorwurf des Individualismus und Formalismus ausgesetzt sahen. Musikalisch gesehen sträubte sich dabei ein traditionalistischer Musikgeschmack gegen die klassische Moderne, ideologisch gesehen ein marxistisches dirigistisches Kunstverständnis gegen die Kunstfreiheit. Ersteres war ein Generationenproblem, das auch den Westen betraf. Deswegen ist es typisch, dass Reiner dort einem breiteren Publikum nicht durch sein klassisches Werk bekannt wurde, sondern durch seine Filmmusik zu „Schmetterlinge leben hier nicht“, eine Dokumentation in Form von Kinderbildern aus Theresienstadt. Sie gewann 1959 in Cannes die Goldene Palme.

Karl Reiner in den 70er Jahren zu Hause beim Komponieren

An der Überlegenheit des Kommunismus hatte er lange keinen Zweifel, und der Aufstieg Alexander Dubčeks bestärkte ihn in der Hoffnung, dass sich der praktizierte Sozialismus sowjetischer Art liberalisieren ließe. Die militärische Niederschlagung des „Prager Frühlings“ beendete diesen Traum. Als sich die kommunistische Diktatur wieder verhärtete, trat er aus der kommunistischen Partei aus. Deren Reaktion ähnelte den Maßnahmen während der Besatzung gegen die Juden. Die Aufführung seiner Kompositionen wurde beschränkt auf einen kleinen Zirkel. Viele Musiker trauten sich danach nicht mehr, seine Musik zu spielen.

Galt die ideologische Verfolgung in den fünfziger Jahren seinem Werk, so jetzt seiner Person. Er reagierte darauf wiederum durch unverdrossene Arbeit an seinem Werk, das eine große Spannbreite aufwies, von Kinderliedern, volkstümlichen Opern und Filmmusik über klassische Kammermusik bis hin zu experimentellen Stücken, in denen er Musiktraditionen aus dem Balkan und Arabien verarbeitete. Soweit es das staatliche Reglement und erlaubte, pflegte er Kontakte ins Ausland, er war dort kein Unbekannter. Seit 1978 hatte er bereits gesundheitliche Probleme. Karel Reiner starb am 17. Oktober 1979.

Bürgermeisterin Zdenka Hamousová im Gespräch mit Vorstandsmitglied Helmut Schneider, rechts Otokar Löbl, links Tanja Krombach vom Kulturforum Östliches Europa und Matthias Dörr, Bundesgeschäftsführer der Ackermann-Gemeinde.

Der Förderverein hat es sich zusammen mit den dem Verein der Freunde und Landsleuten der Stadt Žatec zur Aufgabe gemacht, diesen große Sohn ihrer Stadt in der Ausstellung „Karl Reiner – Komponist, Pianist, Musikkritiker“ zu würdigen. Ihre Eröffnung in der Galerie am Rathaus auf dem Saazer Marktplatz musste jedoch wegen Corona-Beschränkungen mehrmals verschoben werden. Am 20. Juni 2021 fand dann die Vernissage glücklich statt. Höhepunkt war der Auftritt von Aida Mujačič. Ihre Vortrag von Kompositionen des Gefeierten, vokal und am Klavier, tief beeindruckte tief.

Pianistin und Sängerin Aida Mujačič mit dem Ausstellungskurator Pavel Stranka

Zu den Besuchern zählte als Schirmherrin der Ausstellung die Bürgermeisterin Zdenka Hamousová. Besonders zu erwähnen sind auch Matthias Dörr, Bundesgeschäftsführer der Ackermann-Gemeinde, und Tanja Krombach vom Kulturforum Östliches Europa. Beide Vereine gehören zu den Sponsoren. Wir danken auch alle anderen Förderern und Helfern, die unser Projekt ermöglicht haben, ganz herzlich.

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Die tschechisch-deutsche Ausstellung kann noch bis Ende Juli in Saaz besucht werden. Der zweisprachige Katalog ist auch danach noch erhältlich bei Otokar Löbl, 60488 Frankfurt am Main, Hausener Obergasse 15.