Saaz feiert 1000 Jahre seines Bestehens
Jitka Mládková im Gespräch mit Dr. Andreas Kalckhoff | Radio Prag, 14. Oktober 2004
Spricht man den Namen der nordböhmischen Stadt Žatec aus, fällt wohl jedem Tschechen der Hopfen ein, der in der gesamten Region seit Jahrhunderten angebaut wird. Diese Stadt kann sich aber auch höchstinteressanter kulturhistorischer Traditionen rühmen. Kurzum: Der Geschichte begegnet man hier auf Schritt und Tritt. Aus Anlass eines recht runden Jubiläums der Hopfenstadt berichtet Jitka Mládková über eine literarische Begegnung mit Saaz in unserer nun folgenden Sendereihe „Begegnungen“.
Das nordböhmische Žatec|Saaz feiert in diesem Jahr sein tausendjähriges Jubiläum. Ein guter Anlass zu feiern, obwohl die Stadt offensichtlich auf eine noch ältere Geschichte zurückblicken kann. Darauf lassen die jüngsten archäologischen Funde vom Herbst 2003 schließen. Immerhin, bei der Veranstaltung der Tausendjahrfeier an einem Septemberwochenende ging man davon aus, dass Saaz erstmals in der Chronik des Thietmar von Merseburg erwähnt ist, als der deutsche König Heinrich II. der Burgsiedlung im Jahr 1004 gegen eine polnische Besatzung zur Hilfe kam.
Die einst königliche Stadt Saaz, die auf eine slawische Gründung zurückgeht, zeichnete sich Jahrhunderte lang durch eine Symbiose von Tschechen und Deutschen aus. Diese fand z. B. im gesamten Zeitraum des Mittelalters in einer Kooperation bei wiederholten Bemühungen um eine Kirchenreform ihren Ausdruck. Das erlebte Miteinander wurde aber im 19.und 20.Jahrhundert programmatisch ignoriert bzw. vergessen, als der Nationalismus hohe Wogen schlug. Vieles ist im Laufe der Zeit ins Vergessen geraten.
Zum Auftakt der erwähnten Feierlichkeiten in Saaz wurde in Prag ein Seminar unter dem Titel „Saaz mit den Augen der Zeit“ veranstaltet, das als gute Gelegenheit galt, manche Wissenslücke aus der langen Geschichte der tschechisch-deutschen Beziehungen zu schließen. In diesem Sinne sehr aufschlussreich war gleich der Vortrag, mit dem das Seminar eingeleitet wurde. Dr. Andreas Kalckhoff aus Stuttgart widmete ihn Johannes von Saaz, der als Autor des Prosatextes „Der Ackermann von Böhmen“ in die Geschichte eingegangen ist. An seiner Lebensgeschichte lässt sich die einstige tschechisch-deutsche Koexistenz bestens dokumentieren:
Zwei der für die deutsche Literatur bedeutendsten Dichter stammen aus Böhmen: Franz Kafka und der Autor des »Ackermann aus Böhmen« Johannes von Saaz. Im westböhmischen Schüttwa|Šitboř, im ehemaligen Bezirk Bischofsteinitz ist er wahrscheinlich geboren. Im nordböhmischen Tepl|Teplá, wo es eine Lateinschule gab, aufgewachsen. Doch die meiste Zeit seines Lebens hatte er in Saaz verbracht. Er hat studiert, auf jeden Fall auch Rechtswissenschaft, und den Magistertitel erworben. Man vermutet, dass er Beziehungen zur Prager Hofkanzlei hatte, mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Johannes von Neumarkt, der zwanzig Jahre lang der Kanzler von Kaiser Karl IV. war.
Der „Ackermann aus Böhmen“ ist besonders aus zwei Gründen bedeutend: Es handelt sich um die erste neuhochdeutsche Prosadichtung und um einen der frühesten humanistischen Texte nördlich der Alpen. Über Johannes von Saaz, Leiter der Saazer Lateinschule, späteren Notar und Stadtschreiber der Prager Neustadt, weiß man nicht viel. Der Originaltext seines Werkes „Der Ackermann aus Böhmen“ ist nicht erhalten. Die ältesten 16 Handschriften bzw. 16 Drucke stammen aus den Jahren 1450-1550, aus einer Zeit etwa 50 Jahre nach dem Tod des Autors. Mit dem Inhalt seines Werkes, das heute noch verblüfft, hat er den Nerv der Zeit getroffen:
Der »Ackermann aus Böhmen« ist die in 34 Kapiteln gegliederte Klage eines Ackermanns gegen den personifizierten Tod. Und zwar anlässlich des schmerzlichen Verlustes seiner jungen Frau Margaretha. Der Ackermann beschimpft dabei den Tod als schädlichen Urfeind aller Welt, als schändlichen Mörder aller Menschen, verflucht ihn ewiglich und fordert Gott auf, ihn aus der Schöpfung zu tilgen. Der Tod nennt ihn dafür töricht, denn alle irdischen Kreaturen müssen notwendigerweise zunichte werden. Er selbst, der Herr Tod, sei lediglich Gottes Hand, ein gerecht arbeitender Mäher.
Der Dialog zwischen Ackermann und dem Tod ist geführt in strenger Form der Rede und der Gegenrede, wohl dem Gerichtsprozess entlehnt:
Der Autor bezeichnet sich als Ackermann, dessen Pflug vom Vogelkleide stammt, also die Schreibfeder ist. Als Gegenspieler des tödlichen Mähers, des »Schnitter Tod«, muss man sich den Ackermann als Säer denken, der die Saat auf den Acker bringt und für das Wachsen der Frucht sorgt. Es sind also Leben und Tod, Welt und Jenseits, die gegeneinander argumentieren.
Saaz war nachweislich eine deutsch geprägte Stadt. Sie hatte einen deutschen Bürgermeister und deutsche Stadtschreiber. Johannes von Saaz schrieb seinen Ackermann für gebildete Deutsche in der Stadt. Der erste neuhochdeutsche Text war aber keine Übersetzung oder Nachdichtung einer lateinischen Vorlage. Dazu Andreas Kalckhoff:
Das erschien für Böhmen so überraschend, dass die Forschung lange Zeit nach einer solchen Vorlage gesucht hat. Bisher ohne Ergebnis.
Der Referent Andreas Kalckhof führte in diesem Zusammenhang auch einige Beispiele literarischer Werke an, u. a. aus England und Frankreich, in denen der Tod auch als [Gegenspieler eines] Advocatus mundi − eines Anwalts der Welt − figuriert, und fügte hinzu:
Die Thematik und die literarische Form des »Ackermann« lagen also in der europäischen Luft. Dabei kam in Böhmen natürlich nicht nur die deutsche Sprache zu literarischen Ehren, sondern auch die tschechische. Wenige Jahre nach dem »Ackermann« erscheint eine ganz ähnliche tschechische Dichtung: der Tkadleček, das »Weberlein«, aus der Feder eines sonst unbekannten Ludwig. Darin klagt der von seiner Geliebten verlassene Weber in hohem rhetorischen Stil das grausame Schicksal an und hebt dabei das eher komödienhafte Thema auf die philosophische Ebene von menschlichem und göttlichem Willen.
Im 19.und 20. Jahrhundert haben sich die Blickwinkel wesentlich verändert:
Im 19. und 20. Jahrhundert ist dieses Erwachen der Volkssprachen im 14. Jahrhundert nationalistisch gedeutet worden, wobei man offensichtlich ganz übersehen hat, dass es bereits seit dem Frühmittelalter volkssprachliche Literatur gibt.
Zweckbedingte Interpretationen, die historische Fakten bzw. Gestalten zu verzerrten Bildern umwandeln, hat bekanntlich das kriegerische 20. Jahrhundert mit sich gebracht. Da passte auch „Der Ackermann aus Böhmen“ ins Konzept:
Der nationale Kult, den die Sudetendeutschen seit dem 1. Weltkrieg um Johannes von Saaz und den »Ackermann aus Böhmen« aufführten, muss deshalb ein großes Missverständnis genannt werden. 1924 etwa bezeichnete Josef Nadler dieses Werk als größte und schönste Schöpfung des mitteldeutschen Siedlungslandes und des ganzen neudeutschen Ostraums. In der Folge wurde der »Ackermann« zum Identifikationstext der so genannten Grenzdeutschen. 1933 wurde in Karlsbad die Zeitschrift »Der Ackermann aus Böhmen. Monatsschrift für das geistige Leben der Sudetendeutschen« gegründet. Darin wird der »Ackermann« als deutscher Mensch gefeiert, der sich gegen das Schicksal auflehnt. Gedacht war dabei auch an das politische Schicksal der Deutschen in Böhmen. Die Tschechen reagierten 1935 auf diese Politisierung des »Ackermanns«, indem sie die erst 1921 angebrachte Gedenktafel für Johannes von Saaz von der Stirnwand des Rathauses entfernten.
Ergänzung in eckigen Klammern von Andreas Kalckhoff.
Der vollständige Vortrag hier: Johannes von Saaz und sein Libellus Ackerman