Von Uta Reiff | Erstmals veröffentlicht im Katalog zu der Ausstellung „Die Opfer der kommunistischen Macht in Nordböhmen in den Jahren 1945-1949“
Viele Menschen haben in den letzten siebzig Jahren Schreckliches erlebt, während und auch nach dem Ende des furchtbaren letzten Krieges. Über diese Erlebnisse wurde damals kaum gesprochen, sondern sie wurden verdrängt. In den Kriegs– und Nachkriegsjahren galt es als klüger, zu schweigen – speziell für Deutsche und Sudentendeutsche und, wie im vorliegenden Fall des Massenmordes in Postelberg (Postoloprty) und der Nachkriegsereignisse in Saaz (Žatec), das Erlebte tief in sich zu vergraben. Oft erst im Alter zeigt sich bei vielen Betroffenen eine Reaktivierung des Erlittenen in Form eines Traumas. Dabei brechen die erlebten Angsterfahrungen wieder auf und stürzen die Menschen in eine Krise. Die Erlebnisberichte in diesem Heft legen davon ein lebhaftes Zeugnis ab. Ich selbst war als siebenjähriges Kind mit meiner Mutter und meinem neunjährigen Bruder in Saaz im Frauenlager, von Juni 1945 bis Februar 1946. Ich habe daran schreckliche Erinnerungen. Auch meine Aussage ist in diesem Katalog, ebenso die Zeugenaussage meines Bruders Hans Jäckl, damals 17 Jahre alt. Mein Vater wurde in Postelberg ermordet.
Ich bin Systemische Familientherapeutin und Körperpsychotherapeutin. Das Wort „systemisch“ ist wichtig, denn eine „Systemische Therapie“ bedeutet, dass ich mich mit dem System von Beziehungen befasse, sei es in der Familie, einem Team in einem Betrieb, in Institutionen und Gemeinschaften, auch in Völkergemeinschaften. Die Körperpsychotherapie befasst sich mit der Tatsache, dass alle schlimmen und traumatischen Erlebnisse eines Menschen in dessen Körper und Psyche gespeichert werden. Die Menschen haben versucht, diese Ereignisse zu verdrängen, ins Unbewusste zu versenken, aber es gelingt meist nicht. Sie zeigen sich in Krankheit und Traumata. Durch Arbeit am Körper, die Garantie der Sicherheit durch den Therapeuten und vorsichtiges Herantasten an die Situation/ das Ereignis, das das Trauma bewirkte, können diese Traumata erlöst und verarbeitet werden, was oft eine große Verbesserung des seelisch-körperlichen Zustandes bewirkt.
Ein Trauma zu verarbeiten gelingt oft, wenn das Ereignis, das dem Trauma zugrunde liegt, anerkannt und gewürdigt wird. Oft mit dem Satz: „Ja, das war so und es war ganz schrecklich.“ Es ist dabei nicht nötig, die Einzelheiten und die Gründe für diese Taten darzulegen, oder die Schuldfrage zu klären. Es ist zur Heilung das Anerkennen nötig, dass das Ereignis stattgefunden hat und keine Wahnvorstellung ist. Es ist keine Anerkennung von Schuld nötig, zumal wenn die Täter nicht mehr leben und eine Schuldanerkenntnis gar nicht mehr gegeben werden kann, wie im vorliegenden Fall der Morde von Postelberg und der Ereignisse in Saaz. Es erscheint mir wichtig, gerade das hier zu betonen.
Die Ereignisse in Saaz und Postelberg liegen Jahrzehnte zurück, und es wäre absurd von Schuld der nachgekommenen Generationen zu sprechen. Psychologisch gesehen, sind oft Täter und Opfer in einer unlösbar erscheinenden Verstrickung aneinander gebunden oder miteinander verbunden, d. h. Opfer und Täter sind oft ein und derselbe Personenkreis oder Angehörige eines Kreises, einer Gemeinschaft, eines Volkes, die sich schicksalhaft abwechseln in den Rollen von Täter und Opfer. Die Geschichte und die Psychologie lehren uns, dass die jeweiligen Opfer bzw. deren Kreis oder Gemeinschaft oder deren Volk – egal welcher Nationalität – wieder zu Tätern werden würden, und die Täter – oder deren Kreis – wieder zu Opfern, wenn sich irgendwie die Gelegenheit bieten würde. So wechseln sich diese schicksalhaften Verstrickungen, quer durch alle Familien, Gemeinschaften und Völker ab, oft rasch im einzelnen, privaten Leben oder Familienkreis, oft erst nach Jahren oder Jahrzehnten im großen Kreis von Gemeinschaften oder Völkern. Es ist wie ein schreckliches Karussell, wie ein Totentanz.
Das hier ausgeführte Modell von Opfern und Tätern, das sich ständig wiederholt, ist in der Psychologie wohlbekannt. Da kommt dann oft noch der „Retter“ hinzu, der aber auch zum Täter oder zum Opfer werden kann. Die Rollen wechseln immer wieder, und es ist unser aller Aufgabe diesen schrecklichen Automatismus zum Stillstand zu bringen
Auch in der Psychotherapie ist es letztlich unmöglich herauszufinden, wann wer womit angefangen hat. Der Täter wird immer einen Grund finden, das Opfer zu strafen, und das Opfer wird sich rächen und leider nicht nach einer Erklärung suchen, warum es zum Opfer wurde. Diese Erfahrung haben wir alle schon gemacht, z. B. im Familienkreis. Die griechischen Tragödien, die von Blut triefen und sich nur von Rachegedanken nähren, sind ein deutlicher Beweis dafür, dass dies offensichtlich schon seit Urzeiten gilt: Es wird Rache geübt, und neue Untaten folgen, unter denen meist Unschuldige leiden.
Es gilt also folgendes: Das schreckliche Rad Opfer-Täter kann angehalten werden durch die Anerkennung der Leiden des Opfers und Öffentlichmachung der Tat durch den Täter bzw. den Täterkreis, der Gemeinschaft oder dem Tätervolk. Geschieht die Anerkennung der Tat nicht, bleibt in einer Familie, einer Gemeinschaft oder einem Volk der bittere Nachgeschmack und … meist leider Rachegedanken. Und die Untaten beginnen von neuem oder besser, sie setzen sich fort, das Opfer wird bei nächster Gelegenheit wieder zum Täter usw. usf.
Im Fall Postelberg und Saaz ist im Licht der obigen psychologisch-historischen Erkenntnisse folgendes zu sagen: Eine Öffentlichmachung in Form z. B. eines Mahnmals für diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit wäre nicht nur eine psychische Hilfe für die Opfer und deren Nachkommen, sondern vor allem für die Täter bzw. deren Nachkommen, denn damit könnten sie ihre seelische Reinheit wiedergewinnen und die Scham für diese Taten ablegen. Wenn Deutschland sich nicht zu den furchtbaren Verbrechen der Nazizeit bekannt hätte, so wären die Folgen für die seelische Gesundheit des deutschen Volkes der Nachkriegszeit katastrophal gewesen – und auch für die Wiederaufnahme in die Völkergemeinschaft. Die Nachkommen der Täter, egal auf welcher Seite, tragen keine Schuld, aber es ist für sie von großer Bedeutung, sich dazu zu bekennen, damit die Scham nicht fortbestehen muss.
Ziel einer humanistischen menschlichen Gemeinschaft, die diesen Namen verdient, kann es nur sein, diesen Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt zu stoppen. So, dass nicht mehr auf jede Tat die Rache folgt und auf die Rache wieder die Tat oder Untat der Gegenseite. Wir müssen aufhören, uns über Generationen und Jahrhunderte hinweg gegenseitig die Schuld zuzuschieben und damit eine Rechtfertigung zu finden für unsere Taten oder Untaten, für unsere angeblich gerechtfertigte Vergeltung.
Seit dem blinden Racheakt von Postelberg sind nun fast 64 Jahre – drei Generationen – vergangen, und es wäre gut, ein Denkmal in Postelberg zu errichten. Ob die Ermordeten Untaten oder Verbrechen begangen haben, das wusste und weiß niemand, es gab kein Gericht und keine Rechtsprechung für sie. Nun müssen sie sich vor ihrem Schöpfer verantworten, nicht mehr vor einem irdischen Gericht. Für uns Nachkommen der Toten und für die Überlebenden wäre ein solches Denkmal in Postelberg auch und vor allem ein Platz der Trauer, wo wir unserer Toten gedenken und für sie beten könnten, für sie, die nie ein Grab bekommen haben, sondern verscharrt wurden wie tote Hunde. Wir, die Überlebenden, die Angehörigen und Nachkommen der Opfer, wollen keine Rache, keine Schuldzuschreibung an die Nachkommen der Täter, sondern wir wollen unseren Toten die ewige Ruhe wünschen und in Liebe an sie denken.
Mein Vater hat mir sehr gefehlt.