Saazer Dialekt

Von Alfred Klepsch | Vortrag im Rahmen der Saazer Gespräche anlässlich der Tausendjahrfeier im Prager Senatsgebäude

alfred-klepschProf. Dr. phil. Alfred Klepsch, 1954 in Schwabach geboren, ist Sohn des Saazers Peter Klepsch.1987 promovierte er an der Universität Erlangen mit einer Dissertation über die Geschichte der Nürnberger Mundart. 2001 habilitierte er sich für das Fach Germanistische Linguistik mit einem Wörterbuch über den in Mittelfranken belegten jiddischen Wortschatz. Seit 1989 Mitarbeiter am Forschungsprojekt „Sprachatlas von Mittelfranken“, eines Teilprojekts des „Bayerischen Sprachatlas“, ist er seit 2003 Mitherausgeber und teilweise Autor oder Co-Autor der Zug um Zug erscheinenden Bände, sowie Leiter der Bayreuther Forschungsstelle „Ostfränkisches Wörterbuch“ der Bayerischen Akademie der Wissenschaften.

Als ich vor 30 Jahren als Student in einer Nürnberger Fabrik gejobbt habe, begegnete mir dort ein Arbeiter, dessen Sprache mir sehr vertraut vorkam. Sie hatte nicht den typischen Nürnberger Klang, sondern erinnerte mich an etwas, was ich aus dem Kreis meiner Familie kannte. Ich sprach den Mann darauf an und fragte ihn, ob er aus Saaz stamme. Er antwortete:

„Naa, Jung, iech bie vo Koodn.

Da hatte ich mich also nur um knappe 20 km verschätzt.

Wie kommt es, daß man einen Mundartsprecher aus der Gegend um Saaz so leicht als einen solchen erkennt?

Die deutschen Mundarten von Saaz, Kaaden, Komotau und Podersam weisen einige Merkmale auf, die sie mit anderen deutschen Dialekten des nördlichen Böhmens gemeinsam haben. In ihrer Zusammenstellung sind sie aber einmalig und typisch für die Gegend.

Gemeinsame Merkmale mit Mundarten des nördlichen Böhmen

Hochdt.

Eger Karlsbad Saaz Brüx Teplitz

Mann

Moo Moo Moo Moo Monn

Äpfel

Epfl Ebbl Ebbl Ebbl Ebbl
Pfeffer Pfeffa Pfeffa Pfeffå Pfaffå

Pfaffå

ihr lacht ees låchds ees låchds iä låchds iä låchd

iä låchd

groß grous grous gruus gruus

gruus

Die folgende Tabelle soll zeigen, daß das „Soozerische“ auch Merkmale aufweist, die in den anderen Dialekten nicht auftreten.

Nur im Nordwestböhmischen auftretende Merkmale

Hochdt.

Eger

Karlsbad

Saaz

Brüx

Teplitz

Seife

Soifa

Soifa

Saaf

Saaf

Sääfe

Brot

Brout

Brout

Broot

Bruut

Bruut

nicht

neat

niat

net

nich

nich

tun

dou

dou

doo

duue

duun

Zählt man die gemeinsamen Merkmale dieser Beispiele zusammen, so kommt man auf eine verhältnismäßig hohe Übereinstimmung der Saazer Mundart mit der von Brüx, auf eine geringere mit den anderen böhmischen Städten. Aus diesem Grund hat der Prager Germanist Ernst Schwarz die Mundarten von Kaaden bis Brüx einem gemeinsamen Dialekt zugeordnet, den er das „Nordwestböhmische“ nennt.

Schwarz zeigt, daß die deutschen Dialekte in Böhmen und Mähren räumlich mit ganz ähnlichen Dialekten jenseits der Grenzen zu Deutschland und Österreich zusammenhängen, nämlich: Nordböhmisch mit dem Obersächsischen, Sudetenschlesisch mit dem Schlesischen, Westböhmisch (auch Egerländisch genannt) mit dem Nordbairischen (auch Oberpfälzisch genannt), Südböhmisch mit dem Bairischen Südbayerns und Österreichs. Es liegt also nahe, daß die Vorfahren der Dialektsprecher in den angrenzenden Gebieten jenseits der Grenzgebirge gelebt hatten. Woher aber kamen die Sprecher des Nordwestböhmischen, die Vorfahren der Saazer Deutschen ?

Alfred Klepsch, Saazer DialektkarteAuch hierzu ist ein Vergleich der Saazer Mundart mit anderen Dialekten nützlich, diesmal mit solchen des deutschen Altsiedellandes:

Gemeinsame Merkmale mit ostfränkischen Mundarten

Hochdt.

Würzburg

Nürnberg

Bamberg

Saaz

Mann

Moo

Moo

Moo

Moo

Äpfel

Öpfl

Epfl

Öpfl

Ebbl

ihr lacht

iä låcht

iä låcht

iä låcht

iä låchts

Pfeffer

Pfaffa

Pfeffa

Pfeffä

Pfeffå

groß

groas

grous

gruus

gruus

Seife

Säffe

Saafm

Saafm

Saaf

Brot

Broat

Brout

Bruut

Broot

nicht

nit

nit

net

net

tun

dua

dou

doo

doo

Die Übereinstimmungen von Saaz mit Bamberg sind besonders groß, größer sogar als die mit Brüx.

Den Grund für die starke Ähnlichkeit des Saazerischen mit dem Fränkischen kann man nur in der Siedlungsgeschichte suchen. Es müssen Menschen aus Franken gewesen sein, die direkt oder auf Umwegen, innerhalb einer Lebenszeit oder im Verlauf mehrerer Generationen in die Umgebung von Saaz kamen.

Über die mittelalterliche Siedlungsgeschichte ist nur wenig historisch dokumentiert. Ich fasse die Tatsachen kurz zusammen: Das Vogtland, d. h. das Gebiet um Plauen bis Chemnitz wurde im 12. Jahrhunderts deutsch besiedelt. Bereits Anfang des 12. Jahrhunderts siedelte der Graf Wiprecht von Groitzsch Franken aus der Gegend von Würzburg bei Rochlitz an der Mulde an. Um 1130 wurde das Benediktinerkloster Chemnitz gegründet.

Die Mundarten des südwestlichen Sachsen weisen sowohl ostfränkische wie auch ostmitteldeutsche, d. h. obersächsische Merkmale auf. Die Forschung geht aber davon aus, daß sich dort die Zahl der obersächsischen Merkmale im Spätmittelalter erhöht hat, was mit dem Zuzug von Bergleuten aus dem sächsischen Kernland erklärt werden kann.

Im Gebiet des nordwestböhmischen Dialekts, der ja dem vogtländischen sehr ähnlich ist, gibt es Anzeichen deutscher Siedlung seit dem frühen 13. Jahrhundert. Der erste deutsche Ortsname ist Neudörfel, erstmals 1196 erwähnt. Bis Ende des 13. Jh, gab es weitere deutsche Gründungen am Fuß des Erzgebirges. Südlich einer Linie Kaaden-Komotau-Brüx enden diese, hier gibt es nur noch eingedeutschte slawische Ortsnamen, wie Saaz, Podersam, Jechnitz usw. Im Gegensatz zum Erzgebirge war dieses sehr fruchtbare Gebiet schon lange von Slawen besiedelt.

Vermutlich war Saaz lange Zeit eine Stadt mit deutscher Majorität in einem tschechischsprachigen Umland. Dies zeigen auch einige Fakten aus der Stadtgeschichte:

  • Das erste Ratsprotokoll, abgefasst 1268, zeigt, dass die Mehrheit der Stadträte Deutsche waren.
  • In den Hussitenkriegen gab es anfangs noch zweisprachige Protokolle. Die Bevölkerung schloß sich aber, im Gegensatz zu anderen deutschsprachigen Städten Böhmens, den Hussiten an. So wurde aus dem Bürgermeister „Meister Peter“ der Hussitenprediger Petr Němec. Am Ende der Hussitenkriege war Saaz wieder eine tschechische Stadt geworden.
  • Erst nach einer schweren Pestepidemie im späten 16. Jahrhundert, durch die die Bevölkerung dezimiert wurde, gab es wieder eine deutsche Zuwanderung, die aber zunächst noch nicht zu einer deutschen Majorität führte.
  • Erst aus dem frühen 18. Jahrhundert gibt es wieder deutsche Ratsprotokolle, und 1728 wurde in Saaz die letzte Predigt auf Tschechisch in einer den Tschechen vorbehaltenen Kirche gehalten.

Das Saazer Bürgermatrikel verzeichnet in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts noch einen relativ zahlreichen Zuzug von Neubürgern mit deutschen Namen. Die Zuzügler kamen zum großen Teil von weit her: aus anderen deutschsprachigen Städten Böhmens, aus Österreich und aus Süddeutschland. Im Vergleich dazu war um die Mitte des 19. Jahrhunderts der Zuzug geringer geworden, und fast alle Neubürger kamen aus der engeren Umgebung von Saaz. Daraus schließe ich, dass das Saazer Land erst um die Wende des 18. zum 19. Jahrhundert vollständig eingedeutscht war und daß die Stadt sich zuvor noch in einer Sprachinsellage befand.

Ich habe bereits auf die südlich von Saaz verstärkt und inselhaft auftretenden ostfränkischen Sprachmerkmale hingewiesen. Hierfür kommen zweierlei Erklärungen in Frage. Entweder: Die Mundarten nördlich der Eger wiesen ursprünglich dieselben Merkmale auf, sie wurden aber durch den Zuzug von Bergleuten sekundär „saxonifiziert“, während südlich von Saaz der alte Zustand erhalten blieb. Oder: Die ostfränkischen Mundartmerkmale wurden von Neusiedlern aus Franken mitgebracht, die erst nach der Schlacht am Weißen Berg ins Land gerufen wurden. Dies könnte mit der Belehnung von ursprünglich fränkischen Adelshäusern, wie den Grafen von Rieneck und den Fürsten von Schwarzenberg geschehen sein. Im Fall meiner eigenen Vorfahren trifft dies jedenfalls zu: die Familie meiner Großmutter kam als Untertanen der Nostitz-Rieneck aus dem nördlichen Unterfranken nach Stankowitz.

Daß das Gebiet südlich von Saaz erst spät und von Zuzüglern unterschiedlicher Herkunft besiedelt wurde, legt auch die Mundartgeographie nahe. Die Grenze zwischen dem Nordbairischen (Egerländischen) und dem Ostfränkischen (Saazer) Dialekt verläuft vom Erzgebirge über den Kamm des Duppauer Gebirges und weiter Richtung Süden bis zur historischen deutsch-tschechischen Sprachgrenze. Im Norden ist diese Mundartgrenze sehr ausgeprägt und deutlich. Zahlreiche sprachliche Einzelmerkmale, die entweder für das Nordbairische oder das Ostfränkische kennzeichnend sind, grenzen hier auf engem Raum aneinander.

Südlich des Duppauer Gebirges aber wird die Abgrenzung der beiden deutschen Dialekte unscharf. Die Grenzlinien der Einzelmerkmale „zerfasern“ gewissermaßen. Zwischen Netschetin und Podersanka liegt ein Übergangsgebiet von über 30 km Ost-West-Erstreckung in dem ganz allmählich von Westen nach Osten die bairischen Merkmale seltener, die fränkischen häufiger werden. In der Gegend um Petersburg, Jechnitz und Podersanka im äußersten Südosten des Saazer Landes kommen fränkische Dialektmerkmale vor, die nirgendwo sonst in Böhmen, wohl aber in Nordbayern anzutreffen sind. Die naheliegendste Erklärung für diese fränkische Sprachinsel ist der Zuzug von direkt aus Franken stammenden Siedlern in einer Zeit, als die Gegend nördlich der Eger längst von Deutschen besiedelt war.

Ein weiteres Indiz für die späte Eindeutschung des Saazer Landes könnten die zahlreichen tschechischen Lehnwörter sein, die die dortige deutsche Mundart enthält. Innerhalb des Deutschen haben diese Wörter eine unterschiedlich große Verbreitung:

  • Gurke (saazerländisch gork, tsch. okurka) ist sogar in der deutschen Standardsprache gebräuchlich.
  • Kren (standarddeutsch Meerrettich, saazerländisch green, tsch. křen) kommt auch in Bayern und in Österreich vor.
  • Kolatsche (Standarddeutsch Küchlein, saazerländisch gollaatschn, tschech. koláč) ist auf das Gebiet der Habsburgermonarchie beschränkt.
  • Schmetten (Standarddeutsch Rahm, saazerländisch schmeddn, tschech. smetana) ist nur in den deutschen Mundarten Böhmens und Mährens verbreitet.

Nur aus Saaz und seiner ländlichen Umgebung kenne ich:

  • Watschiene : „Zwischenmahlzeit auf dem Feld“, tschech. svačina
  • Blachte: „Plane“ tschech. plachta
  • Grawaasch: „Ochsenknecht, Knecht für die grobe Stallarbeit“, tschech krávař
  • Leschaak: „von Regen oder Wind niedergedrücktes Getreide“, tschech. ležák „Faulenzer“
  • Wonuusch: „Seitentrieb der Hopfenpflanze“, tschech. odnož, „Schößling“
  • Babke: „Wurzelstock der Hopfenpflanze“, tschech. babka „alte Frau“
  • Tauben: „getrocknetes Nasensekret“

Das letzte Wort ist zwar deutsch, aber die Bedeutung entspricht einer nur in der tschechischen Sprache gebräuchlichen Redensart: vybírat holuby, wörtlich „Tauben ausnehmen“, übertragen „in der Nase bohren“.

Es ist ganz offensichtlich, dass diese Wörter sich in der Domäne „Landwirtschaft“ häufen. Abgesehen von einem eventuell noch im 20. Jahrhundert existierenden tschechischen Substrat in der Mundart kommt hierfür aber auch noch eine andere Erklärung in Frage: Die großen und wohlhabenden Bauernhöfe und Adelsdomänen hatten einen hohen Arbeitskräftebedarf. Dieser konnte nicht ausschließlich aus der bodenständigen deutschen Landbevölkerung gedeckt werden, es wurden vielmehr auch tschechische Landarbeiter eingestellt, die die Lehnwörter beim Gespräch mit ihren deutschen Arbeitgebern und Arbeitskollegen verwendeten. Die Deutschen haben diesen Wortschatz teilweise übernommen.

Literaturnachweise:

Fuchs, Stefanie: Die nordbairisch-ostfränkische Mundartgrenze in Böhmen. Regensburg 2006, Karte IV (S. 62). Die Arbeit von Fuchs beruht auf mündlicher Befragung von deutschsprachigen Bewohnern der Gegend zwischen Karlsbad und Saaz. Diese Befragungen konnte die Verfasserin noch zu Beginn des 21. Jh. durchführen.

Schwarz, Ernst: Sudetendeutsche Sprachräume (= Schriften der Deutschen Akademie in München, Heft 21) München 1935, S. 90-105.

Schwarz, Ernst: Sudetendeutscher Wortatlas. Bd 1. München 1954, Karte 1 „Sudeten- und Karpathendeutsche Sprachlandschaften“.

Seifert, Adolf: Die Stadt Saaz im 19. Jahrhundert. Saaz 1902, S. 122-129.

Steger, Hugo: Franken und die mittelalterliche Ostsiedlung im Lichte der Mundarten . In: Jahrbuch für Fränkische Landesforschung Bd. 22, S. 313-355. Neustadt/Aisch 1962, S. 327 f..