Ein Weg aus dem Kreislauf der Vorwürfe

Von Martin Komárek | Mladá Fronta DNES, 5. November 2010

Komárek (*1961) ist  Chefkommentator von Mladà Fronta DNES, der auflagenstärksten Tageszeitung Tschechiens.

Die bewegte Geschichte Mitteleuropas spiegelt sich  in der Geschichte der Stadt Saaz (Žatec) wieder. Zeiten der Blüte wechselten mit Zeiten des Blutvergießens. Die Saazer „Landsleute“ (rodaci) versuchen, einen Weg aus den gegenseitigen Anschuldigungen der Tschechen und Deutschen zu finden. Ist Versöhnung heute überhaupt möglich? Und was sind die Motive derer, die sich darum bemühen?

Martin Komárek, ML Dnes-Redakteur

Wir sitzen in einem Wirtshaus, das sich „Tempel des Hopfens und Bieres“ nennt. Mitten in Saaz ist es, zusammen mit dem Hopfenmuseum, durch Unterstützung der EU entstanden.

Rund um den Tisch sitzen fröhlich Tschechen, Deutsche und Juden. Vertreter der Völker, welche die ruhmvolle Geschichte der Stadt Saaz geschaffen haben, die im letzten Jahrhundert zusammenbrach. Das wunderschöne Renaissancezentrum ist verwahrlost, in den Seitengassen findet man Trümmer, als ob der Krieg erst vor fünf Jahren zu Ende gegangen wäre. Die Narben in den Seelen der Menschen sind aber noch schmerzhafter.

Seit den dreißiger Jahren ist die Geschichte der Stadt eine Tragödie der vereitelten Hoffnungen. Erst wurden Tschechen von Deutschen vertrieben und drangsaliert. Dann wurden die Juden ausgerottet. Nach den Krieg wurden die Deutschen von den Tschechen vertrieben. Weitere Tschechen gingen nach der Besetzung durch die Russen 1968.

Jetzt heilen langsam die Wunden. Das ist überwiegend das Verdienst zweier Männer −  Petr Šimáček und Otokar Löbl.

Zusammen mit weiteren Saazern sind sie die Seele der „Vereinigung der Landsleute und Freunde der Stadt Žatec“. Dieser Verein will nicht nur der Stadt wenigstens zu einem Bisschen ihres ehemaligen Ruhms verhelfen. Sie bemüht sich auch um das, was bei uns heute nicht üblich ist. Um eine Versöhnung aller Landsleute. Also der aus Tschechien und Deutschland. Otokar Löbl bemüht sich um das gleiche von der deutschen Seite aus mit seinem „Förderverein der Stadt Saaz|Žatec“.

Der Tempel des Hopfens und Bieres

Im „Tempel des Hopfens und Bieres“ wird heute ein regionales Ereignis gefeiert: die Eröffnung der Ausstellung über „Die Juden von Saaz“, die diese beiden Männer zusammengestellt haben. Sie deckt die Schicksale von Menschen auf, die zum Ruhm der Stadt beigetragen haben und auf einmal verschwanden. Einige von ihnen sind jetzt nach vielen Jahren zurückgekehrt, um die Ausstellungstafeln im Saazer Regionalmuseum zu besichtigen. Ein fast neunzigjähriger Kernphysiker, Herr Sommer, ist aus Paris gekommen. Die neunzigjährige Anna Roubíček durchtrennte das Eröffnungsband. Mit am Tisch sitzen die Nachfahren derer, die 1945 aus der Stadt vertrieben wurden. Die Konversation ist fröhlich, und niemand erinnert jemanden an geschehenes Unrecht. Man könnte sagen, dass blutige Geschichte sich in leutselige Bieratmosphäre aufgelöst hat.

Versöhnung?

Vielleicht ist man Versöhnung und Vergebung schon näher gekommen. Im Falle von Petr Šimáček und Otokar Löbl hat es zehn Jahre gedauert, bis sie mit ihrer „Vereinigung der Landsleute und Freunde der Stadt Žatec“ nach Deutschland eingeladen wurden.

Šimáček erinnert sich noch an seinen ersten Besuch in Deutschland:

Es war in Georgensgmünd, als wir uns mit Otto beim Treffen der deutschen Saazer vorgestellt haben. Im Saal waren fast 300 Saazer, und es war dicke Luft und Misstrauen zu spüren …. Manche hatten sogar Angst, zu unseren Tisch zu kommen. Allmählich trauten sie sich und wollten überwiegend wissen, wie ihr Hause, ihre Straße oder der Friedhof in Saaz aussieht. Ob Herr X oder Frau Y noch lebt …

Noch größeres Misstrauen begegnete Šimáček aber bei seiner Rückkehr nach Saaz. Die Leute zu Hause wollten nicht begreifen, dass in Deutschland die gleichen Leuten leben, wie sie. Sie haben Petr Šimáček verdächtigt, dass er zu den „Sudetaky“ (Sudetendeutschen) fährt, um sich mit ihnen anzufreunden, um einen Mercedes zu bekommen oder etwas ähnliches. Er sagt dazu:

Sie äußerten sich mit Gehässigkeit und Neid. Was haben Sie von den Deutschen bekommen, was werden die dafür bekommen? Andere hatten Angst und fürchteten, dass wir durch den Kontakt mit den deutschen Landsleuten unangenehme Sachen aus der Vergangenheit erfahren könnten. Wer mit den Deutschen kollaborierte, wer was gestohlen hat, wie er sich während des Krieges und nach dem Krieg gegenüber den Deutschen verhalten hat … Bei den persönlichen Begegnungen mit den Saazer Landsleuten erfuhren wir aber beispielsweise, wer mit wem ging und wer seine erste Liebe in Saaz war. Wessen unehelicher Sohn oder Tochter heute noch in Saaz leben und ähnliche Pikanterien. Dies sind aber rein private Sachen, und niemand wird es jemals von mir erfahren!

Otokar Löbl kennt dasselbe von der anderen Seiten. Nachdem er in Folge der russischen Invasion weggegangen war, erkannte er erst in vollem Umfang die Ängste und Erwartungen der ehemaligen Saazer. Mit dem größten Teil seiner Landsleute hatte er kein Problem: Sie sind pragmatisch, sie wollen Saaz besuchen, eventuell dort unternehmerisch tätig werden. Aber auch auf deutscher Seite gibt es welche, die sich mit ihrem Leid nicht versöhnt haben und niemals versöhnen werden:

Ähnlich wie ein Teil der heutigen Bewohner von Saaz die Sudetendeutschen pauschal verurteilen, so sieht ein Teil der Deutschen in den Bewohnern von Saaz die Erben derer, die sich an ihrem Eigentum bereichert haben. Es ist eine Minderheit, aber die ist aktiv und organisiert. Der Unterschied zwischen denen, die eine Zusammenarbeit wollen, und den anderen ist leider fast unüberwindlich, ähnlich wie der Dogmatismus mancher Mitglieder des »Klubs des tschechischen Grenzgebiets«“, der Kommunisten und der berufsmäßigen »Kämpfer für die Freiheit,

erklärt Otokar Löbl traurig. Auch wenn er nicht ganz sicher ist, dass sein Kampf für Versöhnung erfolgreich sein wird, widmet er ihm viel Kraft und Energie und gibt nie auf.

Löbl und Šimáček

Weder Otokar Löbl noch Peter Šimáček sehen aus wie beispielhafte Kämpfer für Wahrheit und Liebe. Löbl wuchs in einer deutschen Familie mit jüdischen Wurzeln auf. Da sie antifaschistisch war, wurde sie nicht abgeschoben. Er ging erst nach 1968, als die russische Invasion seine Hoffnungen auf eine Änderung zum Besseren zunichte gemacht hatte. Er ist Wirt [richtig: Unternehmensberater für Gaststätten und Steuer. Anm. d. R.], Bonvivant und mit sechzig Jahren fing er an, Philosophie zu studieren. Er liebt Bier, gutes Essen und gute Gespräche.

Petr Šimáček ist ein erfolgreicher Manager, der eine blühende Agentur besitzt und genau so aussieht. Mit Löbl verbindet ihn die Begeisterung für Verbandsarbeit, die man eher in den Zeiten von F. L. Věk [Figur eines tschechischen Patrioten in einem Roman von Alois Jirásek] vermuten würde, Organisationstalent und der Glaube in eine bessere Zukunft von Žatec|Saaz.

Vor allem aber ein einfacher Gedanke: Verlängern wir nicht mehr die Kette des gegenseitigen Unrechts. Was geschehen ist, ist geschehen. Es ist notwendig, sich darüber Rechenschaft abzulegen, es ist nötig, die Schuld zu bereuen. Aber die Zukunft sollte dies nicht belasten.

Mit dieser Überzeugung gelang es ihnen zumindest, einen Teil der Saazer Landsleute auf beiden Seiten der Grenzen zu versöhnen. Aber es ist noch lange nicht klar, ob dies für immer sein wird.

Petr Šimáček, mit einem Lächeln, aber doch klagend:

Im Jahr 2010 hat sich unsere Zusammenarbeit mit den deutschen Saazern wieder verschlechtert. Wegen der vielfältigen Meinungen in ihrem Verein sind sie innerlich zerstritten, und ich habe das Gefühl, dass einige heimliche nationalistische Gedanken verbergen.

Die Zeichen stehen tatsächlich wieder auf Nationalismus. Tschechien wollte eine Ausnahme für sich im Lissaboner Vertrag, da der Präsident der Republik sich vor Ansprüchen der Sudetendeutschen fürchtet. Bei der diesjähriger Feier zum 28. Oktober [Nationalfeiertag] sprach Klaus davon, dass zu viel die Rede sei von dem, was die Tschechen den Deutschen angetan hätten, und dass dabei verschwiegen werde, was umgekehrt geschehen sei. In Deutschland bezweifelt man wiederum sehr, ob die neuen Mitglieder wirklich ein Zugewinn für die EU seien.

Zukunft

Steht Mitteleuropa vor einer neuen Kältewelle? Hier beim Schankbier im Saazer „Tempel des Hopfens und Biers“ sieht es nicht so aus. Aber die Geschichte lehrt uns anderes. Otokar Löbl glaubt jedoch, dass sie sich nicht wiederholen müsse:

Das Geschehene und die Mordtaten kann man nicht mehr zurückholen und rückgängig machen. Ebenso ist es nicht möglich, rückwirkend das Unrecht zu beseitigen, ohne dass dabei neues geschieht. Es ist aber möglich, sich gegenseitig zu verzeihen und seine Fehler zugeben und vor einer Wiederholung der früheren Taten zu warnen.

Der Saazer Verein ist darauf vorbereitet, auch die Rückkehr des Misstrauens zu überleben. Er ist nicht auf Vergangenheit fixiert, sondern auf die Zukunft. Trauern über verblassten Ruhm erneuert nicht oder heilt nicht die Wunden. Die Möglichkeiten und Fähigkeiten der Politiker zu helfen sind sehr begrenzt und ihre Interessen egoistisch. Die Saazer Vereinsmenschen verlassen sich nur auf sich selbst. Petr Šimáček:

Im Unterschied zu ähnlichen Vereinen wollen wir uns nicht an Hand alter Fotos erinnern und über die verlorene Vergangenheit lamentieren. Wir wollen neu anfangen und dabei modern und gestalterisch sein.