Im Biertempel von Žatec, dem ehemaligen Saaz, ist immer noch viel von der leidvollen Geschichte der Vertreibungen zu spüren.
Von Norbert Bartnik | Main-Echo Online, 1. November 2013
Einst galt das nordböhmische Žatec, früher Saaz, als Welthopfenhauptstadt, dort wird die böhmische Brautradition lebendig. Viele alte Gebäude erinnern an die kulturelle Vielfalt, die nach dem Zweiten Weltkrieg verloren ging.
Normalerweise stehen Leuchttürme an der Küste, um Seefahrern bei der Orientierung zu helfen. Der Leuchtturm von Žatec steht mitten in der Stadt und hilft Bierfreunden bei der Orientierung. Das kuriose Bauwerk ist Teil eines neuen Erlebnismuseums, das über die Bierkultur der böhmischen Stadt informiert. Von der Aussichtsplattform genießt man einen weiten Blick über die Stadt, die einst von Brauereien, Hopfenlagern und Handelshäusern geprägt wurde. Im 19. Jahrhundert galt Žatec, damals Saaz, als „Welthopfenhauptstadt“, aus der Hopfen von besonders hoher Qualität in alle Kontinente exportiert wurde. Die Aufschrift „Gebraut mit Saazer Aromahopfen“ galt bei vielen Biermarken als Inbegriff von Qualität.
Noch heute kann man am Stadtrand einige Anbauflächen erkennen. Von den vielen Brauereien im Nordwesten Böhmens sind allerdings nur noch wenige übrig geblieben. Aber es gibt den „Biertempel“, ein originelles Museum, in dem die eng mit der Hopfenverarbeitung verknüpfte Geschichte der Region erzählt wird.
„In den letzten Jahren sind in Tschechien 130 neue Hausbrauereien gegründet worden“, erzählt Museumsmanager Jiří Vent, während er die Besucher durch den Turm führt. „Das ist eine Reaktion auf die internationalen Bierfirmen, die den Markt beherrschen.“
Vent, der früher selbst in der Hopfenbranche gearbeitet hat, macht keinen Hehl aus seiner Verachtung für die großen Marken:
„Achtzig Prozent der europäischen Biere sind schlecht. Das kann man eigentlich gar nicht trinken.“
Viel wichtiger als aufwendige Brautechnik ist nach seiner Einschätzung die Tradition:
„Man muss sein Handwerk beherrschen, und das wird vom Großvater auf den Vater und von diesem wieder auf den Sohn weitergegeben.“
Es ist eine romantische, auf sympathische Weise weltfremde Sicht der Dinge, die in Žatec noch gepflegt wird. Jiří Vent erzählt bei dem Rundgang durch das Museum aber auch vom Niedergang der Hopfenkultur als Folge von Kriegen und NS-Terror:
„Aber den Hopfen hat man im Blut. Die Emigranten haben ihre Kultur auch in den USA oder Südafrika bewahrt“.
Im Biertempel wird die Kultur der Region spannend in Szene gesetzt. In einer nur spärlich beleuchteten Lagerhalle laufen die Besucher durch ein aus Hopfensäcken gebildetes Labyrinth und landen immer mal wieder in einer Sackgasse, bis sie in einem Alchemistenlabor ankommen, das mit seinen Geisterbahneffekten besonders junge Gäste anspricht. Im Untergeschoss geht es um die Geschichte des Hopfenanbaus.
Die Tschechen liegen im durchschnittlichen jährlichen Bierkonsum von knapp 160 Litern pro Person weltweit klar in Führung, erst auf dem zweiten Platz folgen die Deutschen mit knapp 110 Litern. Für die Qualität gebe es ein ganz einfaches Testverfahren, meint Vent:
„Wer am Abend viel Bier getrunken hat und am nächsten Morgen mit einem klaren Kopf aufwacht, kann sicher sein, dass es ein gutes Bier war.“
Im Gasthaus „U Orloje“ neben dem Museum kann man testen, ob das auch für die hellen und dunklen Spezialitäten aus der Hausbrauerei gilt.
Am Grab des ältesten Biertrinkers der Welt
Auf dem Ringplatz (námestí Svobody) im Stadtzentrum ist eine merkwürdige Grabplatte in den Boden eingelassen. An dieser Stelle wurde das Skelett eines Mannes entdeckt, neben dem ein tönernes Gefäß, ein paar Hopfenreste und eine Tontafel mit sieben Kerben in der Erde lagen. Der Tote wurde zum „ältesten Biertrinker der Welt“ ernannt, die Tafel als älteste erhaltene Bierrechnung bewertet. Das ist zwar nicht ernst gemeint, aber immerhin wurden die sieben Kerben zum Logo des Vereins, der den „Tempel des Hopfens und des Bieres“ begründete. Beim Hopfenfest Docesná, das jeweils im September gefeiert wird, herrscht auf den Straßen und Plätzen der Stadt immer noch viel Trubel.
Nachgewiesen ist, dass schon 1261 in Saaz Bier gebraut wurde. Heute wird diese Tradition nur noch von der Hausbrauerei neben dem Museum und der Žatec-Brauerei, die sich auf dem Gelände der alten Burg befindet, fortgesetzt. Andere ehemalige Brauereien, Hopfenlager und Fabriken stehen dagegen leer und verfallen allmählich. Gleiches gilt für so manche Villen, in denen einst die Handelsherren residierten. Der Putz blättert von den Fassaden, die dekorativen Statuen am Dachfirst sind nur notdürftig gesichert.
Vor vielen Ladengeschäften in der von Laubengängen gesäumten Hoštálkovo námestí sind die Jalousien heruntergelassen, und es sieht nicht so aus, als würden sie jemals wieder hochgezogen werden. Jahrhundertelang hatten Tschechen, Deutsche und Juden in Saaz vergleichsweise friedlich zusammengelebt. Nur noch die brüchigen alten Häuser erinnern an die kulturelle Vielfalt, die nach dem Krieg unwiederbringlich verloren ging.
Die Synagoge, deren Innenräume 1938 von den Nazis verwüstet wurden, blieb zwar erhalten, aber es gibt keine jüdische Gemeinde mehr, die sie nutzen könnte. So ist die Zukunft des Gebäudes noch ungewiss. Es dient nur noch als Kulisse für historische Filme. Überhaupt wird Žatec wegen seiner alten Bausubstanz gerne von Filmteams besucht, wenn es gilt, Szenen mit dem Flair der Vorkriegszeit zu drehen.
Die leidvolle Geschichte von Flucht und Vertreibung ist in Žatec noch spürbar. Die jüdischen Bürger, denen es nicht gelang, vor dem Einmarsch der Wehrmacht zu emigrieren, wurden von den deutschen Besetzern im Zweiten Weltkrieg deportiert und ermordet. Nach Kriegsende kam es zu Racheakten an den deutschen Bewohnern, ganz egal ob sie an den Nazi-Gräueln beteiligt waren oder nicht. Im Juli 1945 wurden über 700 deutsche Männer und Jungen im Alter von 15 bis 60 Jahren von tschechischen Militärs in Saaz zusammengetrieben, in den Nachbarort Postelberg gebracht und auf dem dortigen Kasernengelände erschossen. Die Täter wurden nie zur Rechenschaft gezogen.
Auch in Aussig (heute Ústí nad Labem) gab es 1945 ein Massaker an deutschen Einwohnern. In der 70 Kilometer von Žatec entfernten Stadt ist jetzt eine groß angelegte Ausstellung geplant, die vom Leben der verschiedenen Bevölkerungsgruppen in Böhmen erzählt, vom Trennenden und Verbindenden, aber auch von den Verfolgungen und Vertreibungen. Das Collegium Bohemicum, das viele deutsch-tschechische Kulturveranstaltungen organisiert, hat dafür in einer ehemaligen Knabenschule geeignete Räumlichkeiten bekommen.
„Schon jetzt kommen viele Besucher aus Deutschland hierher, die eine Ausstellung sehen wollen, die es eigentlich noch gar nicht gibt“, sagt der Historiker Thomas Oellermann, der die Präsentation organisiert. „Wir wollen keine Konflikte verbergen, aber auch zeigen, dass es über die Jahrhunderte hinweg eine fruchtbare Zusammenarbeit der Kulturen gegeben hat“.
Erinnerungen an den Gablonzer Glasschmuck
An Modellen kann man sehen, was in den Räumen einmal gezeigt werden soll, auch einige Ausstellungsstücke sind schon vorhanden, darunter alte Handwerksgeräte, Wirtshausschilder, Gablonzer Glasschmuck, Werbung für Elbogener Pumpernickel und eine „deutsche Volksgasmaske“. Eine Barrikade aus Büchern steht für die gescheiterte Revolution von 1848, die zugleich einen Wendepunkt markiert: Tschechische und deutsche Nationalisten gehen von nun an getrennte Wege, daneben wird der jüdische Weg thematisiert, der in das Konzentrationslager von Theresienstadt führt.
Die Vertreibung der Sudetendeutschen nach 1945 wird durch einen großen Schlüssel symbolisiert.
„Nachdem die Bewohner ihre Habseligkeiten auf die Wagen geladen und die Türen ihre Häuser verschlossen hatten, mussten sie den Behörden den Haustürschlüssel übergeben“, erzählt Oellermann.
Am Ende der Ausstellung steht die deutschsprachige Literatur – Werke von Franz Kafka, Egon Erwin Kisch, Gustav Meyrink und vielen anderen Autoren, die in Prag und anderen Städten des Landes lebten.
Es hat mehr als 60 Jahre gedauert, bis man so weit war, fern von allen Ideologien die gemeinsame Geschichte des Landes zu erzählen. Diese neue Offenheit macht den Besuch in den nordböhmischen Städten zu einem besonderen Erlebnis.