Von Petr Pithart | Rede anlässlich des 15-jährigen Jubiläums des Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds, Prag 24. Juni 2013
Petr Pithart (geboren 1941 in Kladno) war 1990-1992 Premierminister der damaligen tschechischen Teilrepublik der Tschechoslowakei, bis heute ist er Mitglied des neuen tschechischen Senats, dem er 1996-1998 und 2000-2004 vorsaß. Er gehörte zu den Unterzeichnern der „Charta 77“ und war nach der Wende Gründungsmitglied des „Bürgerforums“. Seit 1994 lehrt er an der Juristischen Fakultät der Prager Karlsuniversität.
Der Zukunftsfonds befindet sich in der Hälfte des zweiten Jahrzehnts seiner Existenz. Es ist an der Zeit zu überlegen, wie es in fünf Jahren mit ihm aussehen soll, bis dahin ist sein Bestehen durch die Regierungen beider Staaten gesichert. Was für eine Zukunft bereiten wir ihm?
Das Wort Zukunft verstehe ich im Zusammenhang mit dem Fonds so, dass es nicht bedeutet, dass wir die Vergangenheit den Historikern überlassen können oder sogar sollten, wie das von vielen Politikern oft ohne nachzudenken wiederholt wird, sondern dass uns am meisten an der Haltung tschechischer und deutscher junger Menschen liegt, für die die Mittel des Fonds vor allem bestimmt sind. Schließlich sind auch Historiker voll subjektiver Empfindungen und keine Garantie für Objektivität. Lassen wir ruhig den Gedanken zu, dass in den Wertungen von Historikern keine Objektivität existiert.
Die Aktivitäten des Fonds habe ich aus der Ferne verfolgt. Dafür war ich ganz zu Beginn der ersten Begegnungen mit Diskussionen zwischen Tschechen und Deutschen dabei. Gestatten Sie eine Erinnerung an diese Zeit. Als Vertreter des Bürgerforums rief mich am 2. Januar 1990 gleich früh in unserem Stab im Prager „Špalíček“ Pavel Tigrid aus Paris an und richtete mir die Bitte der bei uns lebenden deutschen Katholiken aus, dass sie sich mit Glaubensgenossen treffen und anfangen wollen, zu diskutieren, worüber bis zu dieser Zeit nie diskutiert wurde. Stattdessen wurde endlos wiederholt, dass die grundlegende Richtlinie für die Außenpolitik der Tschechoslowakei der Kampf gegen den deutschen Revanchismus sei. Und das Bündnis mit der Sowjetunion würde uns vor dieser Gefahr bewahren. Zusammen mit meinem Freund Petr Příhoda habe ich diese Begegnung organisiert. Tschechische und bayerische Christen trafen sich, glaube ich, im März 1990 in Marktredwitz, und wahrscheinlich begann damals ein bis heute nicht endender organisierter Dialog.
Als späterer Vorsitzender der Bolzano-Gesellschaft war ich auch Mitglied des ersten und damit am längsten bestehenden regelmäßigen Diskussionsforums, nämlich der Begegnungen zwischen Mitgliedern der tschechischen Bolzano-Gesellschaft und der deutschen Ackermann-Gemeinde. Die dreitägigen Konferenzen begannen schon im Jahr 1991 in Jihlava und setzen sich bis heute fort, nun in Brno [Brünn]. Bei den Gedanken an einen manchmal dramatischen Verlauf und an die Zweifel am Sinn kann ich den über Jahre hinweg unermüdlichen Motor dieser Begegnungen, den geduldigen und liebenswürdigen Jaroslav Šabata, hier nicht unerwähnt lassen. Wir mussten einige Krisen überwinden, aber es hat sich gelohnt.
Zu Beginn ähnelte der Dialog zwischen Tschechen und Deutschen trotz besten Willens nur äußerlich einem Dialog. Es waren also zuerst eher hitzige Monologe, die einander nicht erreichten. Oft endete der Streit in der Frage, wer mehr gelitten hatte, wer wem mehr Leid zugefügt hatte. Zu diesen oft dramatischen und schmerzlichen Begegnungen mit der Vergangenheit kam es über Jahre hinweg auf vielen verschiedenen Ebenen und Plattformen – dazu rechne ich auch das, was in Deutschland „Volksdiplomatie“ genannt wird, also spontane Aktivitäten von verschiedenen Vereinen und auf kommunaler Ebene –, bis es im Jahr 1997 gelang, sich auf den Text der Deutsch-Tschechischen Erklärung zu einigen, die anschließend von den Parlamenten beider Staaten verabschiedet wurde. Ein jedes Wort darin wurde wortwörtlich abgearbeitet und auf beiden Seiten von Tausenden engagierten Menschen guten Willens durchlitten, die sich bemühten, der historischen Wahrheit nahe zu kommen, ohne neue Konflikte oder neues Unrecht zu schaffen. Eine Erklärung, die alte Wunden nicht aufreißen, sondern heilen würde. Ich zögere nicht. zu sagen, dass dies eine bewundernswerte Leistung war, und zwar auf beiden Seiten. Alle, die dabei mitgeholfen haben, verdienen Dank und Anerkennung.
Seitdem wissen wir aber auch, dass wir nie eine einzige, gemeinsame Wahrheit finden werden. Das bedeutet keinesfalls, dass wir uns nicht gegenseitig unsere Geschichte erzählen sollten. Wir müssen aber vor allem aufmerksam zuhören und versuchen, die Geschichte der Anderen zu verstehen. Verstehen heißt nicht immer Einverständnis. Für mich bedeutet diese Erkenntnis am Ende eine große Erleichterung: es existiert keine letzte, große, objektive Wahrheit für alle. Wir müssen lernen, ohne Illusion hinsichtlich einer letzten „objektive“ Wahrheit zu leben. Wir können uns der Wahrheit nur annähern, und oft bleibt es nur bei der Begegnung zweier unterschiedlicher Vorstellungen darüber.
Aber noch ist nicht alles ganz in Ordnung: Als im Februar dieses Jahres der tschechische Premier Nečas in München Worte aus der Deutsch-Tschechischen Erklärung zitierte, ohne diese ausdrücklich zu erwähnen, waren zuerst viele Menschen bei uns überrascht, nahmen sogar Anstoß, wie weit er gegangen sei. Andere wiederum lobten ihn und bewunderten seinen Mut, obwohl er nur die schon längst vereinbarten Formulierungen übernahm. Es zeigte sich, dass die ganze Problematik des konfliktreichen Zusammenlebens einstiger Mitbürger auch nach fünfzehn Jahren noch lebendig ist – im Sinne von „offen“, „schmerzlich“.
Die Erklärung haben, kurzum, viele schon vergessen. Heute, zu Zeiten der Wirtschafts- und bei uns auch politischen und moralischen Krise tauchen Haltungen auf, von denen manch einer denken könnte, sie seien schon eine Sache der Vergangenheit. Es genügt, heute die Diskussionen im Internet zu verfolgen – und dabei denke ich an die seriösesten Plattformen. Eine Zeit, die den Menschen vielerlei Frust verursacht, bringt naturgemäß Morast aller Art zum Vorschein: rassistische, antisemitische, fremdenfeindliche Haltungen, auch immer wieder antideutsche Haltungen – vor allem gegen die Deutschen, die mit uns in einem Staat gelebt haben.
In der Ersten Republik gab es ein paar (nicht sehr zahlreiche) Gruppierungen tschechischer Faschisten. Heute bekennen sich etliche junge Menschen zu faschistischen Symbolen. Das war damals nicht so. Da ich schon diese beiden Begriffe erwähnt habe, will ich nicht den wahrscheinlich vergeblichen Vorwurf an die Adresse einiger Journalisten, Publizisten und Politiker unerwähnt lassen, die Faschismus und Nazismus miteinander verwechseln. Das ist kein Bagatellfehler. Die genaue Analyse beider Begriffe für den aktuellen Gebrauch eines Tschechen legte zuletzt Erazim Kohák in seinem Buch „Domov a dálava“ [Heimat und Ferne] dar.
Ich zweifle deshalb keinen Moment daran, dass der Zukunftsfonds und das Gesprächsforum auch in der Zukunft notwendig sein werden. Nicht nur deshalb, weil sie ihre Arbeit gut machen, sondern vor allem deshalb, weil wir, Tschechen und Deutsche, diese Arbeit brauchen werden. Wenn Sie wollen, ist in meiner Haltung eine gewisse vorsichtige Skepsis sichtbar, was die Zukunft betrifft.
Die Notwendigkeit des Fonds und seines Gesprächsforums wird auch durch den Vergleich der Qualität und Intensität der deutsch-tschechischen und der österreichisch-tschechischen Beziehungen sowie der Qualität des gegenseitigen Zusammenlebens bestätigt. Die ersten Beziehungen sind trotz aller empfindlichen Stellen gut, vorhersehbar, also verlässlich. Eben weil dahinter die Arbeit tausender Menschen auf beiden Seiten steht. Diese bestand und besteht im Zeitaufwand und in den Bemühungen, die geduldig den Begegnungen und der Klärung von Standpunkten gewidmet wurden, im Mut zu einer kritischen Wertung auch in den eigenen Reihen. All diesen Menschen, die oft, wie man so schön sagt, ihre Haut zu Markte getragen haben, muss Anerkennung ausgesprochen werden. Das sind echte tschechische und deutsche Patrioten. Es ist kein Wunder, dass das nationalistische Gesindel sie nicht ausstehen kann. Die anderen, die österreichisch-tschechischen Beziehungen, sind zerbrechlicher, leichter irritierbar, da an ihrer Kultivierung bei Weitem nicht so gearbeitet wurde.
Persönlich bin ich der Meinung, dass alle Nachbarn in Mitteleuropa irgendwelche Fonds und Gesprächsforen brauchen könnten. Immer noch stehen wir auf recht eruptivem Vulkanboden, manchmal sind Erschütterungen zu spüren, oder Gestank, der aus den Tiefen der unbewältigten Vergangenheit durch ungeahnte Kanäle entweicht.
Die deutsch-tschechischen Monologe haben sich erst schrittweise in Dialoge verwandelt. Es bleibt noch eins übrig – ein bisher unerreichtes Ziel: dass die Deutschen lernen, über das tschechische Leid im Krieg, über den tschechischen Widerstand gegen die Besatzungsmacht zu sprechen, zu forschen und zu schreiben, und das Gleiche gilt natürlich umgekehrt: wir müssen den Willen und die Fähigkeit erlangen, die Geschichte des deutschen Leids, wie es die Deutschen nach dem Krieg erlebt haben, zu erzählen. Dabei wird, wie ich hoffe, nicht nur die Historiografie eine bedeutende Rolle spielen, sondern auch die Literatur und der Film, sowohl der Dokumentar-, als auch der Spielfilm. Erst, wenn ich mit eigenen Worten die Leidensgeschichte des Anderen erzählen kann, der auch durch die Schuld unserer Leute gelitten hat, bestätige ich endgültig, dass ich es begriffen habe. Es wäre schön, wenn wir diese Fähigkeit – nennen wir sie „aktive Empathie“ –, erlangen und auch den jungen Menschen auf beiden Seiten beibringen könnten. Ich glaube, dass dies der Bundespräsident Joachim Gauck wunderbar vorlebt.
Aber es muss nicht nur über das Leid des Einen oder des Anderen gesprochen werden: es muss auch darüber gesprochen werden, was wir in der Vergangenheit Positives geleistet haben, darüber, wie die Landschaft im Grenzgebiet von all denen kultiviert wurde, die als deutschsprachige Bevölkerung die böhmischen Länder bewohnten, als Deutschböhmen (Bohemové). Schade, dass es dafür kein tschechisches Wort gibt. Auch davon sprach unlängst der ehemalige Premierminister in München, und das war bei Weitem keine abgedroschene, alltägliche Höflichkeitsfloskel. Es war endlich notwendig, das auch einmal auf dieser Ebene zu sagen.
Ich spreche jetzt hier nur meine eigene Überzeugung aus, wenn ich sage, dass die tschechische Seite – falls man sich überhaupt so eine Verallgemeinerung erlauben darf – seit November 1989 einen relativ größeren Fortschritt in Selbsterkenntnis gemacht hat als unsere ehemaligen deutschen Mitbürger. Unsere Seite wurde mit historischen Fakten konfrontiert, die sie nicht besonders kannte oder sogar nicht kennen wollte, und lernte, damit zurechtzukommen. Wir sind, glaube ich, in der Selbstreflexion etwas weiter als die andere Seite, die Jahrzehnte über ihr Leid ins Leere gesprochen hat und deshalb auch – so scheint es mir – auf ihren Standpunkten beharrt und die Kausalzusammenhänge in der damaligen Zeit ignoriert oder bagatellisiert. Das Eingeständnis ist nicht einfach, da es sozusagen das nachfolgende Leid im Sinne von „ihr habt bekommen, was ihr verdient habt“ relativiert. Ich denke [das geht] nicht. Aus christlicher Sicht können Sünden, die von Rache geleitet sind, niemals relativiert werden.
Ich habe heute das Wort „Sudeten“ / „sudetisch“ nicht benutzt. Ist es notwendig, immer von den Sudeten, den Sudetendeutschen zu sprechen? Allein schon die Worte wecken in manchen von uns automatisch starke Emotionen – oft Besorgnis, Angst, Abneigung. Wollen wir, dass es so ist? Alle wissen wir, was über Jahrhunderte hin das Wort Sudeten bedeutet hat – ein keltisches Wort für Wildschweinberge, ursprünglich ein engbegrenzter geografischer Begriff. Es bezeichnete den gebirgigen Teil des nördlichen Grenzgebiets. Zu einem ganz anderen und zwar politischen Zweck wurde der Begriff zum ersten Mal zu Beginn des vorigen Jahrhunderts von dem Publizisten und politischen Aktivisten Franz Jesser verwendet. Man begann damals, den Begriff mit einem klaren Ziel einzusetzen: um alle, ansonsten sehr unterschiedliche Deutsche aus Zwittau oder Reichenberg, aus Znaim und von der Prager Kleinseite, aus Klostermanns Böhmerwald, aus dem Egerland und auch aus der Iglauer Sprachinsel unter einem Begriff zu vereinen, unter einem einzigen Kampfbanner. Es ist erwähnenswert, dass nur ein Jahr später in Trutnov die erste Deutsche Nationalsozialistische Arbeiterpartei, DNSAP, mit einem großdeutschen, antiliberalen und antisemitischen Programm gegründet wurde. Dieses Vorhaben gelang am Ende leider Henlein und Hitler. Wir haben es nach dem Krieg vollendet. Und so klingen die Worte als solche, wenn man „sudetendeutsche Landsmannschaft“ sagt und sogar das zweite Wort phonetisch mit dem Häkchen über dem s schreibt, noch heute für manchen bedrohlich, feindlich. Wollen wir, dass sie so klingen? Könnten wir nicht doch von den Deutschen aus Böhmen, Mähren und Schlesien sprechen? Oder von unseren ehemaligen deutschen Mitbürgern? Von böhmischen, mährischen, schlesischen Deutschen? Und somit von der „Landsmannschaft unserer ehemaligen deutschen Mitbürger“?
Ich habe eine Frage gestellt, nur so für mich, nichts weiter. Die Frage lautet, ob wir nicht lieber ohne ein Wort auskommen sollten, das von Beginn seiner politischen Karriere Träger und Symbol dessen ist, was uns trennt? Ohne ein Wort, das pauschalisiert und gleichschaltet, was nicht gleichzuschalten geht? Dabei lässt sich das Wort leicht durch genauere ersetzen. Das ist eine Frage in unsere Reihen. Ich weiß, dass von der anderen Seite zu hören ist, dass Sudetendeutscher einfach der sein soll, der sich als solcher betrachtet. Also keine pflichtmäßige Zugehörigkeit, kein alleiniges, pflichtmäßiges Banner.
Es liegt schlicht und einfach noch genügend vor uns, was wir zwischen uns klären müssen. Der Zukunftsfonds sollte nicht in fünf Jahren enden. Er kann sich so oder so wandeln, aber er sollte nicht aufhören zu existieren, wenn die Regierungen einmal das Gefühl haben sollten, dass schon alles geklärt ist. Das wird nie der Fall sein. Wie wäre solch ein Fonds gerade in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts nützlich gewesen! Stattdessen haben wir miteinander über Staatsmänner und Diplomaten von Großmächten kommuniziert, deren Bevölkerung nichts über uns wusste und das ohne Schamgefühl zugab.
Ihnen allen, die sich an der Arbeit des Zukunftsfonds und Gesprächsforums beteiligt haben, gebühren nicht nur meine Anerkennung und mein Dank. Beide Institutionen gehören zu den Lichtblicken in der Entwicklung nach dem November 1989. Sie sind ein Beweis dafür, dass wir doch etwas gelernt haben, auch wenn es aus unerfindlichen Gründen als weise und scharfsinnig angesehen wird, bis zum Überdruss zu wiederholen, dass noch nie jemand aus der Geschichte, aus der Vergangenheit eine Lehre gezogen habe. Zum Glück stimmt das nicht. Und es ist nichts Verwerfliches daran, dass es gut ist, für solch eine Lehre, für den Lernprozess auch Mittel, ja, Geld, kurzum, einen Fonds zu haben – unseren Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds, der das jugendliche Alter von fünfzehn Jahren erreicht hat. Ich hoffe, er erreicht zumindest das Erwachsenenalter.