VON OTOKAR LÖBL | Vortrag bei der Fachtagung deutscher und tschechischer Denkmalschützer in der „Akademie Mitteleuropa“ auf dem Heiligenhof (Bad Kissingen) am 1.-3. November 2015
Jeder Mensch, so auch ich, befasst sich ab einem bestimmten Alter mit seiner Herkunft, seinen Wurzeln und mit der Geschichte seiner Vorfahren. Aber was ist eigentlich Geschichte? Ein bedeutender deutscher Historiker, Johannes Droysen, sagte: „Nicht die Vergangenheiten sind die Geschichte, sondern das Wissen des menschlichen Geistes von ihnen. Und dies Wissen ist die einzige Form, in der die Vergangenheiten unvergangen sind, in der die Vergangenheiten als in sich zusammenhängend und bedeutsam, als Geschichte erscheinen.“
Das Schicksal meiner Eltern, genauso wie das des überwiegenden Teils der Bewohner von Saaz | Žatec, war nicht einfach, sondern oft sehr bewegt. Zwei Weltkriege und vierzig Jahre kommunistische Diktatur hinterließen ihre Spuren. Wie in den anderen Städten Böhmens und Mährens wuchsen auch in meiner Heimatstadt vier Generationen unter dem Einfluss von Ideologien mit einem selektiven Geschichtsbild auf, zuerst mit dem Nationalismus und dann mit dem Kommunismus.
Eines der Ziele des Fördervereins der Stadt Saaz | Žatec ist es, falsche Geschichtsbilder zu korrigieren und Vergangenes dem Vergessen zu entreißen. Die Lebenden müssen ihre Vergangenheit kennen und lernen, mit der historischen Wahrheit zu leben, damit sich Unglück und Verbrechen nicht wiederholen. Aber, das sei dazugesagt: bei aller Erinnerungskultur dürfen sich die Menschen nicht von ihrer Vergangenheit erdrücken lassen. Erinnerung macht nur Sinn, wenn von dort der Weg in eine bessere Zukunft des gesellschaftlichen Zusammenlebens und der Völkerverständigung führt; wenn es gelingt, bei allem Stolz auf ein kulturelles Erbe nicht das Trennende in den Vordergrund zu stellen, sondern das Gemeinsame und Menschliche. Der „Saazer Weg“, den der Förderverein proklamiert hat, will solch ein Weg in die Zukunft sein. Unter diesem Aspekt ist auch unser Projekt „Die Juden von Saaz“ zu sehen.
Die Unkultur des Verschweigens
So wie es eine mittlerweile sprichwörtliche Kultur des Erinnerns gibt, gibt es eine Kultur – oder besser Unkultur – des Verschweigens. Sofern dahinter nicht politische oder ideologische Absichten stecken, muss man ihre Ursache in Angst, Scham und schlechtem Gewissen suchen. Selbst totalitäre Diktaturen haben aber oft Schwierigkeiten, sie durchzusetzen und aufrechtzuerhalten. Die gemeinsame Geschichte von Tschechen und Deutschen in den „Grenzgebieten“ – dieser Begriff wurden nach der Vertreibung der Deutschen in der kommunistischen Sprachregelung als Synonym für das, was die Deutschen „Sudetenland“ nennen, verwandt –, diese gemeinsame Geschichte ließ sich schwer verbergen, weil es überall noch, bis über die Wende hinaus, öffentliche Zeugnisse von ihr gab: alte deutsche Firmen- und Geschäftsaufschriften, verlassene Dörfer, die deutschen oder aus dem Deutschen stammenden Familiennamen vieler Tschechen, alte deutsche Postkarten und Bücher in den Trafiken und Trödelläden. Die Erklärung, dies seien die Hinterlassenschaften von Besatzern, war nicht unbedingt einleuchtend, verfing aber am Ende doch: die Vorstellung, man habe sich 1945 von fremden Eindringlingen befreit, setzte sich in vierzig Jahren totalitärer Erziehungspolitik durch.
Die Pflege der vergangenen deutschen Kultur in Böhmen, deren Wurzeln bis ins 12. Jahrhundert zurückreichten, blieb so den Vertriebenen überlassen, die in Deutschland eine neue Heimat gefunden hatten. Sie wurde, als ihr politischer Einfluss in der Bundesrepublik schwand, vielfach sogar zu ihrem einzigen Lebenszweck. Zahlreiche „Heimatstuben“ zeugen von ihrem musealen Eifer und Fleiß. Nur verzerren sie leider die historische Wirklichkeit, indem sie den Eindruck erwecken, in Böhmen hätten Deutsche nur unter Deutschen gelebt und man hätte sie 1945 aus einem deutschen Land vertrieben – und nicht aus einem Vielvölkerstaat, der auch die erste tschechoslowakische Republik noch war! Die vielen Anleihen der deutschen Kultur in Böhmen bei den Tschechen – man denke nur an die Küche! – kommen dort überhaupt nicht vor. Dass die Vertriebenen und ihre Nachfahren dieser Selbsttäuschung verfielen, ist natürlich eine Folge der Annexion des „Sudetengaus“ durch den Hitlerstaat, seiner Eingemeindung in das Deutsche Reich. Aber eine historisch bewusste Generation in einer freien Gesellschaft hätte diesen Irrtum korrigieren können. Sie hat es jedoch nicht getan. Sie pflegte stattdessen in vieler Hinsicht eine Unkultur des Verschweigens. Laut gesagt wurde nur, was zum Selbstbild passte.
Sie schwieg auch noch in anderer Hinsicht. In der Saazer Heimatstube z. B. erfährt man nichts über das reiche und wechselhafte jüdische Leben in der Egerstadt. Dieses Leben war sprachlich-kulturell deutsch geprägt, entfaltete durch die Mitglieder der Jüdischen Gemeinde gleichwohl auch eine eigene religiöse Kultur. Die Wolhynientschechen, deren Nachfahren heute die Mehrheit der Saazer Bevölkerung ausmachen, fanden davon als einziges Zeugnis die beeindruckende Synagoge vor, die äußerlich unversehrt war. Der Jüdische Friedhof dagegen war verwüstet und zweckentfremdet, die jüdischen Geschäfte, Betriebe und Immobilien „arisiert“. Was das jüdische Erbe in Saaz anging, musste nichts verschwiegen werden. Die Erinnerung war gewaltsam ausgelöscht worden.
Das galt für die ganze Republik, mit einer Ausnahme. Zwar wurde durch die Enteignung jüdischen Besitzes, durch die Zerstörung jüdischer Friedhöfe und Gotteshäuser – auch die Saazer Synagoge brannte übrigens innen aus –, und schließlich durch den Mord an über 120.000 Juden das jüdische Leben und die jüdische Kultur in den böhmischen Ländern fast völlig vernichtet. Aber die Nazis waren pervers genug, sich ihrer Taten auch noch zu rühmen. Das jüdischen Viertel in Prag mit dem Alten Jüdischen Friedhof wurde – man glaubt es nicht – unter Denkmalschutz gestellt, und am 6. April 1943 eröffnet die SS dort ein „Jüdisches Zentralmuseum“. Dieses „Museum einer untergegangenen Rasse“ sollte zur Schulung von Nazi-Kadern dienen.
So verrückt es klingt: dieses Nazi-Museum war in gewisser Weise das erste Holocaust-Museum. Es entstand gleichzeitig mit der Vernichtung der Juden. Ermordung und Musealisierung der Juden verliefen synchron. Diese schreckliche Erkenntnis wurde für einige Museumsdidakten zum kritischen Ausgangs- und Fluchtpunkt des Diskurses über Sinn und Form jüdischer Museen. „Dieses Prager Museum markiert den Bruch in der Geschichte jüdischer Museen in Deutschland und Europa zwischen Museen, die vor, und solchen, die nach dem Holocaust gegründet wurden“, schrieb Sabine Offe 2000.
Zur Unkultur des Verschweigens gehört, dass die Geschichte der Juden im ehemaligen „Sudetengau“ bis heute weitgehend unerforscht ist. Das betrifft Deutsche wie Tschechen. Im Reichsgau Sudetenland, der nach dem Münchener Abkommen vom 30. September 1938 als Bestandteil des „Großdeutschen Reiches“ gegründet wurde, lebten mehr als 25.000 Bürger mosaischen Glaubens. Dazu kamen 14.000 Konvertiten und sogenannte Judenmischlinge, die nach den Nürnberger Rassegesetzen vom September 1935 ebenfalls als Nichtarier galten. Im ehemaligen sowjetischen Herrschaftsbereich wurde die Thematik der Judenverfolgung und Judenvernichtung jedoch lange Zeit tabuisiert oder zu Gunsten der Darstellung des kommunistischen Widerstands gegen die Naziherrschaft vernachlässigt. In der Bundesrepublik wiederum übergingen Historiker, die den Vertriebenenorganisationen nahe standen, das Thema die Judenverfolgung im Sudentenland, um das Selbstbild der Deutschen als Opfer von Flucht und Vertreibung nicht zu beeinträchtigen.
Die weißen Stellen in der Geschichte füllen
Die weißen Stellen in der Geschichte Deutsch-Böhmens zu füllen ist ein Anliegen unseres Fördervereins. Zu diesen Leerstellen gehörten bis vor kurzem nicht nur die Umstände der Vertreibung der Deutschen nach Kriegsende, sondern auch die Geschichte der Juden von Saaz. Sie zu erzählen, die letzten Zeugnisse jüdischen Lebens in Saaz – Synagoge und Jüdischer Friedhof – zu erhalten und zu pflegen und des Holocausts zu gedenken dient unser Projekt „Die Juden von Saaz“. Einheimische und Besucher von Saaz – vor allem natürlich Deutsche und Jude – mit dem Leben und der Kultur der Saazer Juden bekannt zu machen, dient die Ausstellung, die Gegenstand dieses Vortrags und dieser Präsentation ist.
Die Vorbereitung dieser Ausstellung war nicht einfach. Die Unterlagen der jüdischen Gemeinde von Saaz (Matrikel, Urkunden) wurden noch vor dem Münchner Abkommen nach Prag gebracht und befinden sich dort im Nationalarchiv. Sie wurden später auf Mikrofilm aufgenommen und sind heute auch digital verfügbar. Leider sind sie jedoch neuerdings aus Datenschutzgründen nur eingeschränkt zugänglich. Weitere Quellen für das Saazerland befinden sich im Jüdischen Museum Prag, in der Gedenkstätte Theresienstadt (Terezin) und im Bezirksarchiv Laun (Louny). Viele Schrift- und Bildzeugnisse sind wahrscheinlich noch in Archiven und Beständen versteckt, die auf ihre Sichtung warten. Unsere wichtigste Literaturquelle für die Zeit des 19. und frühen 20. Jahrhunderts war das von Hugo Gold 1929-1934 in Brünn herausgegebene Sammelwerk „Die Juden und Judengemeinden Böhmens in Vergangenheit und Gegenwart“.
Die meisten Juden aus Saaz und dem Saazerland überlebten den Holocaust nicht, die Überlebenden und ihre Nachkommen sind in der ganzen Welt verstreut. Einige von ihnen wohnen heute in Israel. Dank der Ankündigung unseres Projektes im Internet und in der Presse bekamen wir fotografisches und urkundliches Material zu Einzelschicksalen, die wir in der Ausstellung dokumentieren. Das sind scheinbar nur Splitter, aber doch exemplarisch. Unsere Arbeit zu diesem Thema ist ja auch mit der gegenwärtigen Ausstellung nicht beendet, die Materialsammlung wird fortsetzt und soll in spätere Aktualisierungen eingehen, insbesondere aber in das geplante Museum für deutsche, tschechische und jüdische Kultur in Saaz und im Saazerland.
Ende März 2010 besuchten wir ehemalige Saazer Bürger, die den Holocaust überlebt und in Israel eine neue Heimat gefunden haben. Die Befragung dieser Zeitzeugen war im Herbst 2010 in einer ersten Ausstellung über die Saazer Juden im Saazer Regionalmuseum als Videoaufzeichnung zu sehen. Im Zusammenhang mit der Ausstellungseröffnung wurde im Saazer Stadttheater die Kinderoper „Brundibár“ des jüdischen Komponisten Hans Krása gezeigt, die 1941 von einem Chor des jüdischen Kinderheims in Prag uraufgeführt wurde.
Bei dieser Israelreise konnten wir auch Veteranen jener Luftbrücke interviewen, mit der vom ehemaligen Saazer Fliegerhorst aus im Sommer 1948 das neugegründete Israel von der Tschechoslowakei mit Waffen versorgt wurde. Einige der überlebenden jüdischen Bürger von Saaz halfen damals auf dem Flugplatz. Ein Treppenwitz der Geschichte ist dabei, dass der Saazer Flugplatz noch von den Deutschen gebaut worden war, ohne je genutzt zu werden, und dass deutsche Messerschmittflugzeuge aus der Škoda-Waffenschmiede jetzt den Juden halfen, ihren jungen Staat zu verteidigen. Die Dokumentation dieses geheimen Militärunternehmens ist Teil unserer Ausstellung.
Die erste Ausstellung im Saazer Regionalmuseum war nur in tschechischer Sprache verfasst. Sie erfuhr große Aufmerksamkeit in der regionalen und überregionalen Presse. Auch jüdische Gäste aus dem Ausland waren anwesend, darunter eine ehemalige Saazerin in sehr hohem Alter. Die Texttafeln wurden danach auch im jüdischen Gemeindehaus von Teplitz gezeigt.
Für die Präsentation in der Saazer Synagoge im Herbst 2014 haben wir die (nun „ständige“) Ausstellung dann nicht nur erweitert, sondern völlig überarbeitet. Alle Texte wurden ins Deutsche und Englische übersetzt. Auf 14 großen Tafeln werden jetzt in Text und Bild Geschichte, Kultur und Schicksal der Saazer Juden vom Mittelalter bis in die Nachkriegszeit dokumentiert. Dabei wird die Geschichte der jüdischen Gemeinden im Saazerland, an erster Stelle natürlich der Saazer Gemeinde, vorgestellt. In einem Exkurs zur Mittelaltergeschichte wird die Beziehung des berühmten Humanisten Johannes von Saaz zum Judentum diskutiert. Besonders gewürdigt werden die Saazer Rabbiner seit dem 19. Jahrhundert und der Saazer Judenfriedhof.
Mehrere Tafeln beschäftigen sich mit der nationalsozialistischen Judenverfolgung, insbesondere mit der Rassegesetzgebung und der sogenannten „Arisierung“ jüdischen Eigentums in Saaz. Exemplarisch wird dann das Schicksal zweier jüdischer Familien in Saaz erzählt. In einem abschließenden Sonderteil informieren drei Tafeln über die Luftbrücke von Saaz nach Ekron (Israel) im Sommer 1948, mit der die Selbstbehauptung des jüdischen Staates in der Auseinandersetzung mit seinen schwer bewaffneten Nachbarn nicht unerheblich unterstützt wurde.
Die Eröffnung der Ausstellung fand unter der Schirmherrschaft des Ministers für Kultur der Tschechischen Republik, Mgr. Daniel Herrman, und der Bürgermeisterin der Stadt Saaz|Žatec, Mgr. Zdeňka Hamousová, statt. Sie wurde außerdem unterstützt vom Verein der Landsleute und Freunde der Stadt Žatec, von der Jüdischen Gemeinde Teplitz, von den Botschaften der Bundesrepublik Deutschland und Israels, vom Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds, vom Adalbert Stifter Verein und von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien. Zur Eröffnung spielte die Klesmer-Band TROMBELIK aus Prag. Die Ausstellung kann in der Synagoge ganzjährig besichtigt werden; Schlüssel im Touristikbüro (Rathaus). Sie soll später inhaltlich in das geplante Johannes von Saaz-Museum für deutsche, tschechische und jüdische Kultur im Saazerland eingehen.
Zur Geschichte der Juden in Saaz
Sie werden die Ausstellung selbst sehen oder schon gesehen haben, vielleicht sogar im Internet. Deshalb will ich Sie nicht mit einer Nacherzählung des Inhalts langweilen. Erlauben Sie mir aber, Ihnen daraus einiges vorzutragen, was mir besonders am Herzen liegt.
Der angebliche und tatsächliche Reichtum der Juden hat immer die Phantasie des Volkes beschäftigt. Abgesehen davon, dass die meisten Juden eher arm waren, weil sie in minderen Handels- und Handwerksberufen arbeiteten (Hausierer, Trödler, Flickschuster, Schnapsbrenner), gab es tatsächlich reiche Juden, vor allem im Finanzgewerbe und im Großhandel. Diese wirtschaftliche Stärke des Judentums, der Böhmen im Spätmittelalter und dann noch einmal in der Zeit zwischen 1870 und 1938 einen Gutteil seiner Prosperität verdankte, wurde von der Wissenschaft bisher wenig beachtet, weder von der tschechischen, noch von der deutschen. Vielmehr vereinnahmten beide Nationen diese Erfolge jeweils für sich. Richtig ist aber auch, dass reiche Juden immer wieder Neid, Missgunst und schließlich Hass von Christen erregten, die zu ihrer Diskriminierung und Verfolgung beitrugen.
Im 16. Jahrhundert, am 13. November 1541, kam es in Saaz zu einem fürchterlichen Pogrom unter dem Vorwand, dass die Juden zu St. Martin nicht wie vorgeschrieben die Stadt verlassen hätten. Viele wurden getötet, ihr Besitz geraubt. König Ferdinand von Böhmen verfolgte das Verbrechen zuerst äußerst streng, doch zwei Jahre später gestand er in einem Gnadenbrief der Stadt zu, dass sie fortan keine Juden mehr in ihren Mauern dulden müsse. Auch die jüdischen Schadensersatzansprüche wurden nicht eingelöst. Damit beugte sich die böhmische Krone dem Willen ihrer großen Städte, auf deren Steuerkraft sie fürderhin setzte.
Juden und Christen lebten in Böhmen und Mähren, wie überall in Europa, über Jahrhunderte hinweg eher nebeneinander als miteinander, was durchaus religiöse Gründe hatte. Gesetze unterstützten diese Trennung. So war Juden unter anderem verboten, in ihren Häusern christliche Bedienstete zu halten, um einer möglichen Vermischung christlichen und jüdischen Blutes vorzubeugen. Was wie Rassismus aussieht, hatte aber in Wirklichkeit einen religiösen und rechtlichen Hintergrund. Christlich-konfessionelle Mischehen waren ebenfalls verpönt.
Nach der Schlacht am Weißen Berg vom 8. November 1620 wuchs im Dreißigjährigen Krieg die Judenfeindlichkeit, wobei vor allem religiöse Gründe vorgetragen wurden (Antijudaismus). Die wahren Motive waren aber, außer vielleicht bei Theologen, ökonomischer Natur und gründeten im Konkurrenzneid. Da die Juden von den konfessionellen Auseinandersetzungen nicht betroffen waren, blieben die traditionellen Handelsnetzwerke der Juden erhalten, während christliche Kaufleute und Bankiers vielfach ihre christlichen Partner verloren, so dass es schien, als würden die Juden vom Krieg der Christen untereinander profitierten. Der Staat dagegen lebte gut von den „Kontributionen“ seiner 14.000 jüdischen Untertanten in Böhmen und Mähren, der sogenannten Judensteuer. Er dankte es ihnen aber nicht.
Im Gegenteil. Mit Unterstützung von Kaiser und König wurden die Juden nach und nach aus den großen Städten gedrängt. Nicht genug, dass Saaz seit 1543 Juden das Wohnrecht in seinen Mauern verbieten durfte: gemäß eines kaiserlichen Edikts wurde ihnen 1637 sogar das Übernachten in der Stadt untersagt. 1650 beschloss schließlich der böhmische Landtag, dass diejenigen Städte, in denen am 1. Januar 1618 kein Jude gewohnt hatte oder die bereits das Privileg hatten, Juden nicht in ihrer Stadt dulden zu müssen, für alle Zeiten „judenrein“ bleiben durften. Dies betraf damals dreißig Städte in Böhmen, unter ihnen Saaz.
Nach der Aufhebung des „Judenprivilegs“ 1848/ 50 und dem folgenden Wiederaufblühen des jüdischen Lebens in den böhmischen Ländern wiederholte sich die Geschichte in gewisser Weise. Obwohl der jüdische Bevölkerungsanteil in Saaz zehn Prozent nie überstieg, waren Juden führend im Hopfenhandel und auch stark in akademischen Berufen wie Ärzte und Juristen vertreten. Obwohl Saaz vom wirtschaftlichen Erfolg der jüdischen Neubürger profitierte, weckte dieser auch jetzt wieder Neid und Missgunst. Eine kleine, aber immer lautstarker werdende Minderheit von Zukurzgekommenen und Radaubrüdern, die in der nationalistischen Ideologie ihr Heil zu finden glaubten, begannen kurz vor der Jahrhundertwende mit ihrer rabiaten antijüdischen Hetze. Jetzt wurden nicht mehr religiöse Gründe bemüht, sondern „rassische“. Der alte Antijudaismus mutierte zum Antisemitismus. Die Judenverfolgung hatte einen neuen Namen.
Was ich damit sagen will, ist: die Judenfeindschaft hat eine lange Tradition auch in den böhmischen Ländern und zwar unabhängig von der Sprachnationalität. Dies soll keine Relativierung dessen sein, was unter der Naziherrschaft in einer staatlich organisierten, industriellen Menschenvernichtung kulminierte . Anderseits dürfen die Deutschen, ob Reichsdeutsche oder Sudetendeutsche, ihre Mitverantwortung auch nicht hinter dieser historischen Ungeheuerlichkeit verstecken. Dabei ist anzumerken, dass der Schwerpunkt der Judenverfolgung in Saaz – wie im gesamten Sudetenland – zwischen August und Dezember 1938 lag, zu einem Zeitpunkt, als sie noch nicht von Berlin organisiert, sondern von lokalen Initiativen antisemitischer Fanatiker getragen wurde. Hitlers tödlicher Judenhass fand im Sudetenland einen guten Nährboden.
Aber auch im tschechischsprachigen Böhmen erschienen jetzt antisemitische Bücher und Pamphlete, im Namen der Narodni Ochrana („Nationalen Verteidigung“) z. B. der Titel „Gedanken über den materiellen und sittlichen Niedergang der tschechischen Nation“, an dem auch die Juden schuld seien: Die Juden verkaufen angeblich billige, aber schlechte Ware, mit denen sie die tschechischen Frauen verführen. Tschechen sollten deshalb nur bei Christen kaufen. 1910 vermischt ein Gedicht, das in einem volkssozialistischen Blatt erscheint, nationalrevolutionäres Pathos auf fatale Weise mit antisemitischer Hetze: „Gleiches zu Gleichem! Erkenne das Richtige! Erhebe stolz Deinen Kopf, Du zu Tode gehetztes, unterdrücktes Volk! Schau doch an, wie da aus deinen Hautschwielen die Juden wachsen ….“ So geht das in einem fort weiter.
Was waren das für große Pfadfinder in Prag, die schon am 14. Oktober 1938, also zwei Wochen nach dem Münchner Abkommen, ein Memoranden der obersten Stände der Ärzte, Rechtsanwälte, Notare und Techniker herausgaben, in dem sie verlangten, „dass es in Zukunft im Interesse des Volkes nicht zulässig sei, dass ärztliche, anwaltliche und technische Berufe von Juden ausgeübt werden“! So eine Haltung konnte nicht im Laufe von zwei Wochen unter deutschem Druck entstehen, sie musste schon länger im Denken verwurzelt gewesen sein. Worin unterschieden sich Deutsche und Tschechen dann in ihrer Einstellung zu den Juden? Durch die Nürnberger Gesetze? Auch diese versuchte die „Resttschechei“ mit Meilenschritten nachzuholen.
Aufklärung gegen Antisemitismus
Gemäß der Zukunftsorientierung des Fördervereins verfolgt die Ausstellung nicht nur museal Ziele. Vielmehr dient sie der Aufklärung und Bewusstseinsbildung gegen den immer noch vorhandenen Antisemitismus, der sich auch in Tschechien immer weniger versteckt.
Judenfeindlichkeit, sofern sie nicht zur geistigen Ausstattung verbohrter Rassisten gehört, entsteht auch durch Unkenntnis, ererbte Vorurteile und Missverständnisse. Einer der Vorbehalte gegen das Judentum gründet sich z. B. auf den jüdischen Heilsanspruch, ein von Gott auserwähltes Volk zu sein. Damit ist jedoch nicht die Erhebung über andere Völker gemeint, sondern es bedeutet eine Selbstverpflichtung: jeder gläubige Jude soll die Verantwortung für sein eigenes Leben und für seine Handlungen gegenüber den Mitmenschen und Gott übernehmen.
Zum Schluss möchte ich noch aus dem Bericht über den Stand des Antisemitismus zitieren, den die „Föderation der Jüdischen Gemeinden in der Tschechischen Republik“ 2010 veröffentlicht hat: „Trotz der überwiegend positiven Haltung der tschechischen Öffentlichkeit den Juden gegenüber ist es nötig zu bemerken, dass tschechische Rechtsextremisten wie gehabt in ihren Schriften Konspirationstheorien über die Vorherrschaft der Juden verbreiten. Dies geht mit einem Antijudaismus einher, der üblicherweise aus christlichen Kreisen stammt. Die Juden werden als Urheber des Bösen in der Welt und in der Tschechischen Republik bezichtigt. Diese Extremisten werden durch den arabischen Antisemitismus inspiriert, der in der arabischen Welt im Trend ist. Erhöhte Aktivität hinsichtlich einer antiisraelischen Haltung beobachten wir im Nahen Osten, z. B. im Zusammenhang mit der europäischen Aktion ‚Flotte der Freiheit‘. Die Extremisten benutzen außer schriftlichen Medien überwiegend Internetvideos, die sie aus fremdsprachigen Quellen übernehmen.“
In diesem Zusammenhang sei die faschistoide Aktion D.O.S.T. (Akronym aus Důvěra, Objektivita, Svoboda, Tradice = Glaube, Objektivität, Freiheit und Tradition; tschechisch „dost“ heißt aber auch „Es reicht!“) erwähnt, deren Propagandist Ladislav Bátora bis zum Herbst 2011 einen hohen Posten im Bildungsministerium besetzte. Bátora war 2006 für die rechtsextreme Nationalpartei ins Parlament gewählt worden und durch antisemitische Äußerungen, Ausfälle gegen Sinti und Roma sowie Homosexuelle hervorgetreten. D.O.S.T. muss nicht nur für die tschechischen Juden, sondern für die ganze Republik als ein gefährliches Phänomen betrachtet werden.
Die Ausstellung ist auch im Internet veröffentlicht unter www.saaz-juden.de (in tschechischer, deutscher und englischer Sprache). Der Katalog zur Ausstellung ist bei mir gegen eine Spende von 10,- €uro erhältlich (bitte mit Anschrift bestellen unter Löbl otokar.loebl@t-online.de).