Nachruf auf eine bewundernswerte Frau: Uta Reiff 1938–2021
Uta Reiff wurde als Kind Opfer der schrecklichen Nachkriegsereignisse in Saaz. Sie verlor ihren Vater und wäre beinahe verhungert. Entschlossen, den Zirkel von Verletzung und Rache zu durchbrechen, trat sie für Versöhnung mit den Tschechen ein. Dazu gehörte die Anerkennung des Leids auf beiden Seiten und ein zukunftsgerichteter Blick. Im Heimatkreis Saaz und als Gründungsmitglied des Fördervereins der Stadt Saaaz|Žatec setzte sie sich erfolgreich für diese Ziele ein. Der Förderverein trauert um sie.
„Ich bin im Jahre 1938 in Asch geboren“, begann ihre Erzählung, wann immer sie nach ihrer Heimat befragt wurde. Asch (Aš) liegt im äußersten Nordwesten von Deutschböhmen, nur einen Katzensprung von der bayerischen Stadt Hof entfernt. Doch Kindheitserinnerungen hatte sie erst an Saaz. Ihr Vater war dort Gymnasialdirektor, sie wuchs auf in einer Dienstwohnung mit „einem großen Garten, in dem wir gespielt haben. Es gab auch eine große Schaukel. Ich erinnere mich an diese Zeit als eine sehr schöne Zeit als Kind.“ Aber dieses Paradies währte nur kurz. Am 1. Juni 1945, knapp einem Monat nach Friedensschluss, füllten sich die Straßen von Saaz mit tschechischen Uniformen, und damit begann für die deutsche Bevölkerung eine Zeit des Schreckens. Die machte auch vor Kindern nicht halt.
Uta Reiff kam am 29. August 1938 zur Welt, einen Monat später besetzten deutsche Truppen das „Sudetenland“, ein halbes Jahr darauf den Rest von Böhmen und Mähren. Dies wer das Vorspiel zum Zweiten Weltkrieg, den Hitler allen Friedensbeteuerungen zum Trotz vom Zaun brach. Utas Vater Alfred Jäckel, Jahrgang 1900, hatte im Ersten Weltkrieg den Rock des Kaisers in Wien getragen, danach diente er in der tschechischen Armee. Nun musste er noch einmal ins Feld, diesmal für den „Führer“. Nachdem er zunächst altershalber verschont geblieben war, kam er 1943 an die Ostfront. Da war Uta fünf.
Als der Vater nach zwei Jahren von der Front zurückkehrte, glaubte Uta, sie hätte ihren Vater wieder. Doch kaum daheim, wurden er und ihr Bruder Hans mit der männlichen Bevölkerung ins Lager Postelberg (Postoloprt) verschleppt. Von dort kehrte Utas Vater nicht mehr zurück, er wurde Opfer der Massenerschießungen. Der sechzehnjährige Hans Jäckl kam zur Zwangsarbeit ins Bergwerk nach Kladen (Kladow), wo er nur knapp überlebte. Uta selbst wurde mit ihrer Mutter und dem neunjährigen Bruder Bernd in ein Frauenlager gesteckt. Acht Monate dauerte die Internierung, dann wurde die Restfamilie im Viehwaggon über die bayerische Grenze abtransportiert.
„Für die siebenjährige Zugehörigkeit zum Deutschen Reich haben wir Sudetendeutschen hart bezahlt“, klagte Uta Reiff in ihrer Gedenkrede auf dem Postelberger Friedhof 2010. Es war diese Ungerechtigkeit, mit der sie lange haderte. Vor allem den Tod ihres Vaters konnte sie lange nicht überwinden. Alfred Jäckel war als Beamter Mitglied der Nazi-Partei, Aber er galt auch, wie die Mutter erzählte, als Freund der Tschechen und Juden. Denen, die nach dem deutschen Einmarsch Saaz verlassen wollten oder mussten, half er beim Übersetzen ihrer deutschen Dokumente. Dennoch wurde er als Vertreter der deutschen Besatzungsmacht erschossen, ohne Prozess, nachts im Wald mit vielen anderen.
Die Bewältigung dieser Erfahrungen bestimmte einen Großteil ihres Lebens. Über das Studium der Psychotherapie fand sie einen Weg, Frieden mit den schrecklichen Kindheitserlebnissen zu machen. Rache und Vergeltung seien nicht die Lösung, erklärte sie später. Die Opfer dürften sich nicht zu Tätern machen und umgekehrt. Dabei sei es nötig, Leid anzuerkennen. „Ja, das war so, und es war ganz schrecklich“: in diesem Satz läge oft die Lösung innerer wie äußerer Konflikte. Dies sei nicht nur eine psychische Hilfe für die verletzten Opfer, sondern auch für den Seelenfrieden der Täter. Deshalb wirkte Uta Reiff ihr Leben lang darauf hin, das Leiden der Sudetendeutschen öffentlich – heute würde man sagen „sichtbar“ – zu machen. Sie wünschte sich, dass es auch in Tschechien anerkannt würden.
Womit hatten Uta und ihre Geschwister dieses Leiden verdient? Der halbwüchsige Hans wurde in der Steinkohlengrube beinahe zu Tode geschunden und erholte sich zeitlebens nicht von dieser Tortur, körperlich wie seelisch. Uta selbst wäre, wie viele andere Kinder, beinahe verhungert. Sie war am Ende so unterernährt, dass sie keine reguläre Nahrung mehr zu sich nehmen konnte. Im Fürther Kinderspital wurde sie langsam wieder aufgepäppelt. Die Monate im Lager, als sie auf dem Rücken ihrer Mutter schlafen musste, um diese vor Vergewaltigung zu schützen: „Es war alles schrecklich für mich. Das hat auch meine Einstellung zu Männern sehr beeinflusst. Als Frau hatte ich große Angst vor Männern.“
Die Anerkennung des Leidens und Sichtbarmachung des mörderischen Geschehens gelang, auch dank des Einsatzes von Uta Reiff, mit der Anbringung einer Gedenktafel durch den Stadtrat von Postelberg. „Wir wollen nicht anklagen, wir wollen klagen“, erklärte sie in ihrer Gedenkrede dazu. „Wir wollen einer tiefen Traurigkeit Ausdruck geben, die seit fünfundsechzig Jahren in uns ist. Wir hatten bisher keinen Platz zu trauern, keinen Platz, um Blumen und Kränze niederzulegen – hier an diesem Ort dieser furchtbaren Ereignisse.“
Doch ging es ihr nicht nur um den Schmerz der Opfer, sondern auch um die leidvollen Ursachen, die dem Schrecken von Postelberg vorausgegangen waren. Immer wieder betonte sie, dass es ohne die deutsche Besetzung Tschechiens und die Begeisterung der Sudetendeutschen für Hitler keine Vertreibung gegeben hätte. Dabei wies Uta Reiff jede Kollektivschuld von sich. „Es sind immer Einzelne oder Gruppen aus einem Volk, die Gräueltaten begehen.“ Als Beispiel dafür, dass nicht alle Tschechen Täter waren und schon gar nicht die tschechischen Nachbarn in Saaz, erzählte sie die Geschichte vom Herrn Kratochvil, dem Straßenkehrer. Wenn er bei ihnen vorbeikam, lud ihn die Mutter oft zu einer Vesper mit Kaffee ein. Dafür warf dieser ihnen, den Kindern, später Wurstbrote durch den Zaun zu. Bis eine Wache sie erwischte und windelweich prügelte. „Herr Kratochvil hat sich dann nicht mehr getraut zu kommen.“
Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass jede Flucht oder Vertreibung zwei Seiten hat, das Verlassen und das Ankommen. Für die sogenannten „Flüchtlinge“ war nach dem Krieg das Ankommen in Deutschland oft nicht einfach. An den Aufnahmelagern lag das nicht: „Dort bekamen wir warme Kleidung und warmes Essen. Das Lager war menschlich eingerichtet.“ Für die Ansässigen waren sie dagegen lange unwillkommene Fremde: „Die Leute haben gesagt: Wenn ihr euch bei den Tschechen gut aufgeführt hättet, dann hätten die euch auch behalten.“ Solche Feindseligkeiten erlebten damals viele Flüchtlinge bis weit die fünfziger Jahre.
Uta Reiffs Kampf um einen Ort zu trauern ist nicht zu verstehen ohne ihr Bemühen um Versöhnung. Immer wieder fuhr sie nach Saaz, suchte Freundschaften mit Tschechen, tauschte Erfahrungen aus und stand gern zur Verfügung für Zeitzeugenbefragungen in tschechischen Schulen. Sie wusste, dass es keine Wahrheit gibt ohne Wissen und ohne Wissen kein vernünftiges Handeln. Um sich besser verständlich machen zu können, lernte sie noch im Alter Tschechisch. Für sie war dies wohl ein Abschluss des Versöhnungsprozesses. Gemeinsame Sprache muss nicht, aber kann zu Verbundenheit führen.
Es waren auch diese Erfahrungen, die Uta Reiff motivierten, sich später um Vertriebene und Flüchtlinge aus den aktuellen Kriegsgebieten zu kümmern, die „Migranten“. Hinter dem humanistischen Antrieb verbarg sich die Fähigkeit, Schicksalsschlägen mit positivem Handeln zu begegnen. Als sie durch einen Autounfall ihre zehnjährige Tochter verlor, verwandelte diese bewundernswerte Frau ihre tiefe Trauer in den Entschluss, einen farbigen Buben, Oliver, zu adoptieren und ihn zusammen mit ihrer zweiten Tochter Annette aufzuziehen.
Uta Reiff mit ihren Kindern Oliver und Annette
„Das Wichtigste ist, die Menschen zu lieben“, erklärte sie dazu. „Liebe steht über allem, es spielt keine Rolle, ob man weiß oder schwarz ist, Liebe ist das Einzige, was jeder braucht. Die Menschen sehen unterschiedlich aus, aber sie sind alle Gottes Geschöpfe.“ Mit solcher Menschenliebe kann man selbst über das Schlimmste hinwegzukommen. Es braucht dazu aber auch einen Menschen, bei dem man Halt und Unterstützung findet. Es war dies ihr Ehemann Dr. med. Adalbert Reiff.
Uta Reiff war eine Frau mit vielen Talenten, die sie in einer Reihe von Berufen als Lehrerin, Buchhalterin, Dolmetscherin und Familientherapeutin bewies. Sie engagierte sich im Heimatkreis Saaz der Sudetendeutschen Landsmannschaft und im Förderverein der Stadt Saaz|Žatec mit ihrem Wissen, ihrer Tatkraft, ihrer Empathie. Dafür machte der Förderverein sich ihr Projekt, die Gedenktafel in Postelberg, zu eigen. Sie war auch langjährige Vorsitzende des Amberger Oratorienchors.
Uta Reiff starb starb 16. März 2021 in Amberg. Die Welt ist ärmer ohne sie.
Uta Reiffs Grabstätte auf dem Amberger Katharinenfriedhof.
Trauerrede von Uta Reiff, Postelberg 2010
Gedenkfeier zur Enthüllung der Gedenktafel für die Postelberg-Opfer
Die Gedenktafel in Postelberg und ihre Geschichte