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Mehr als Bierkultur

In der einstigen „Welthopfenhauptstadt“ Saaz treffen deutsche, jüdische und tschechische Geschichte aufeinander.

Von Peter Münch-Heubner, Prager Zeitung Nr. 35, 28. August 2014

Der Ackermann aus Böhmen beklagt den Tod seiner Frau (Holzschnitt, vor 1480)

Johannes von Saaz: „Der Ackermann aus Böhmen“ beklagt den Tod seiner Frau (Holzschnitt, vor 1480)

Immer Anfang September, am Ende der Hopfenernte, lockt Dočesná, das Hopfenfest von Žatec, Menschen aus ganz Tschechien und aus dem Ausland in die Stadt an der Eger. Dann wird das frühere Saaz zum Schauplatz eines Volksfestes, das von Fremdenführern in seiner Bedeutung gerne mit dem Münchener Oktoberfest verglichen wird. Doch anders als in München spielt beim Saazer Hopfenfest neben der Folklore auch die Kultur eine Rolle, treten auf der Hauptbühne auf dem Marktplatz neben Blasmusikkapellen wie in den vergangenen Jahren auch Mitglieder der Tschechischen Philharmonie auf. Das Programm auf den vielen Podien in der Stadt ist breit gestreut, reicht von Country- über Rock- bis hin zur U-Musik. Dass da auch schon eine Legende der tschechischen Musikszene wie Helena Vondrácková zu Gast war, unterstreicht die Popularität von Dočesná im ganzen Land.

Wer dann noch am späten Abend durch die Altstadtgassen wandert, der kann in die Geschichte der Stadt eintauchen. Es ist die Geschichte von Tschechen, Deutschen und Juden und sie spiegelt die Wechselfälle böhmischer Geschichte wider. Sie steht für deren dunkle Seiten ebenso wie für ihre großen Kapitel. Auch das Hopfenfest mit seiner langen Tradition tut dies: Als „Hopfenkranzfest“ stellte es früher den heiteren Höhepunkt im Leben der Bürger der Stadt dar, egal welche Sprache sie sprachen. Es verweist auf die Brautradition in der Region, die bis in das 13. Jahrhundert zurückgeht. Im 19. Jahrhundert galt Saaz als „Welthopfenhauptstadt“. 1933 dann aber missbrauchte Konrad Henlein, der sich gern als „Statthalter des Führers“ in Böhmen bezeichnete, den Festplatz als Bühne für seinen „völkischen“ Propagandaauftritt. Nach Anschluss der Sudetengebiete an das Dritte Reich wurde das Fest verboten, weil es keine „arischen“ Wurzeln hatte. Nach dem Krieg instrumentalisierten die kommunistischen Machthaber Dočesná in ihrem Sinne. Nun ist es wieder das, was es ursprünglich war, einfach nur ein Fest und eine Attraktion für Besucher, die von auswärts kommen.

Das Hopfenmuseum gewährt Einblick in die Geschichte und Kunst des Beirbrauens

Das Hopfenmuseum gewährt Einblick in die Geschichte und Kunst des Beirbrauens

Heute ist es, für diese Besucher eher ungewöhnlich, ein Biermuseum, das sie neben einem Regionalmuseum durch die Stadtgeschichte führt. Der Hopfen ist immer noch ein Wirtschaftsfaktor in der Region, wenngleich auch nicht mehr von so zentraler Bedeutung wie in der Vergangenheit. Häufig wird darauf verwiesen, dass sich das hier gebraute Bier deutlich von der internationalen Massenproduktion unterscheide. Die Traditionsbrauerei Žatec allerdings, die 1801 als „Bürgerbrauerei“ gegründet wurde, ist jetzt in den Mehrheitsbesitz des dänischen Bierkonzerns Carlsberg übergegangen.

Doch Žatec ist mehr als nur „Bierkultur“. Die historischen Sehenswürdigkeiten umfassen das Rathaus, die Stadttore, die Stadtbefestigung, die Kirchen, das Stadttheater, den Ringplatz, die Synagoge und die vielen alten Bürgerhäuser in der Altstadt sowie in Vierteln wie der Oberen und der Unteren Vorstadt. Zu den berühmten Persönlichkeiten, die hier wirkten, gehört Johannes von Saaz, der am Beginn des 15. Jahrhunderts sein bekanntes Werk „Der Ackermann aus Böhmen“ schuf. Johannes von Nepomuk besuchte die Lateinschule am Ort, die zum ersten Mal zu Beginn des 13. Jahrhunderts in den Quellen erwähnt wird. 1389 wurde der spätere Landespatron Böhmens und Bayerns Archidiakon von Saaz, bevor er noch im selben Jahr als Generalvikar nach Prag berufen wurde.

Saaz war zu diesem Zeitpunkt seit mehr als einem Jahrhundert „Königsstadt“. Das bedeutete die Gewährung von Privilegien, einer eigenständigen Gerichtsbarkeit sowie von Bürgerrechten, von denen die Landbewohner noch lange Zeit ausgeschlossen blieben. Die Könige Přemysl Otakar I., Václav I. und Přemysl Otakar II. hatten im 13. Jahrhundert die Geschichte Böhmens in jene Bahnen gelenkt, die das spätere Schicksal des Landes bestimmen sollten. Schon seit dem 12. Jahrhundert waren bayerische, fränkische und sächsische Siedler in die südlichen, westlichen und nördlichen Grenzregionen des Königreichs der Přemysliden gezogen. Nach 1200 warben die Herrscher in Prag im Zuge des geplanten „Landesausbaus“ deutsche Bauern, Handwerker und Händler für die dünn besiedelten Regionen gezielt an. 1266 wurden den Neusiedlern, die nun auch nach Saaz gekommen waren, als „Freien“ Sonderrechte zugestanden. In der Stadt, die 500 Jahre zuvor eine slawische Gründung mit dem Namen Lucko gewesen war, wuchs eine deutsche Bevölkerungsmehrheit heran. Als Datum der ersten urkundlichen Erwähnung aber gilt das Jahr 1004, weswegen man 2004 eine Tausenjahrfeier beging. Dieses Saaz sollte eine Stadt bleiben, deren Werden und Wachsen Deutsche und Tschechen in wechselseitigem Zusammenspiel bestimmen sollten – im Miteinander, aber auch schon bald im Gegeneinander.

Drei Böhmen

Ein umfangreiches Gewerbewesen entwickelte sich unter deutscher Ansiedlung. Dann kamen die Hussiten, die in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts Böhmen teilweise unter ihre Herrschaft bringen konnten. Diese Hussiten waren, wie der Osteuropa-Historiker Manfred Alexander betont, „keine rein tschechische Bewegung“. Auch Deutsche, unter ihnen Priester, hingen deren religiösen, theologischen sowie sozialen Ideen an. Das war auch in Saaz so. Gefordert wurde die Mitbestimmung der unteren Bevölkerungsschichten in den Ratsversammlungen des Landes. In vielen Städten Böhmens standen sich katholische deutsch-sprachige Ratsherren und sozial schwächere tschechische Unterschichten gegenüber. Deutsche katholische Familien verließen Saaz, das nach 1415 zur „Sonne der Hussiten“, zu einer mehrheitlich tschechischen Stadt, zu Žatec wurde.

Dr. Alfred Klepsch

Dr. Alfred Klepsch

Der Sprachwissenschaftler Alfred Klepsch verweist jedoch darauf, dass deutsche Hussiten in Žatec verblieben, in deren Kreis eine Assimilierung einsetzte. So wurde aus dem Bürgermeister „Meister Peter“ in den Ratsprotokollen „Petr Nemec“, wobei dessen neuer tschechischer Familienname immer noch auf seine deutsche Herkunft verwies.
Ratsprotokolle in deutscher Sprache finden sich in den Archiven, so die Ergebnisse der Untersuchungen von Klepsch, erst im „frühen 18. Jahrhundert“ wieder. Die Auswertung der Bürgermatrikel zeigt, dass ein erneuter und umfangreicher „Zuzug von Neubürgern mit deutschen Namen“ nach 1750 einsetzt. Klepsch schätzt, dass das „Saazer Land“ an der „Wende des 18. zum 19. Jahrhundert“ wieder eine mehrheitlich deutsch besiedelte Region war.

Die Existenz vieler Lehnwörter aus dem Tschechischen im ost-fränkischen Saazer Dialekt zeugt indes von einer kulturellen Vermischung. Als Saazer Bürger mit rein tschechischer Muttersprache stuften sich im Jahr 1910 allerdings nur noch 2,6 Prozent der Einwohner ein. Bis zur Volkszählung 1930 sollte dieser Anteil wieder steigen, 3.156 von insgesamt 18.100 Einwohnern ließen sich dann als Tschechen registrieren.

Saaz war ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Industriegebiet geworden. Rasch entwickelten sich Werke der unterschiedlichsten Produktionszweige. Generell verzeichnete das deutsch-böhmische Wirtschaftsgebiet nun einen Zuzug von Arbeitskräften aus dem tschechischen Kernland, der auch nach Gründung der Tschechoslowakei 1918 anhielt. Die beiden Böhmen waren nie vollkommen voneinander zu trennen.

Die Saazer Synagoge vor 1945

Die Saazer Synagoge vor 1945

Es gab aber auch noch das dritte Böhmen: 1930 umfasste die jüdische Gemeinde von Saaz 944 Angehörige. Wissenschaftliche Studien gehen jedoch davon aus, dass rund 10 Prozent der Bürger jüdischer Herkunft waren – die Zahl der „assimilierten Juden“ mit eingerechnet. 1939 wurden nur noch 25 von ihnen gezählt.

Am 8. November vorigen Jahres gedachte man in Žatec des 75. Jahrestages der Reichskristallnacht. Ort des Gedenkaktes war die Synagoge in der Langen Gasse (Dlouhá), deren Inneneinrichtung in dieser Nacht ausbrannte. 2010 bereits wurde im Regionalmuseum eine Ausstellung eröffnet, die durch die Geschichte der Juden von Saaz führt. Deren Gemeinde wurde im Jahre 1350 erstmals in den Quellen erwähnt.

Restaurant des Saazer Hopfe- und Biertempels

Restaurant des Saazer Hopfe- und Biertempels

Gefeiert wurde der Erfolg der Ausstellung im „Tempel des Hopfens und des Bieres“. Martin Komárek schrieb dazu kritisch, dass hier „blutige Geschichte sich in leutselige Bier Atmosphäre aufgelöst hat“. Doch Otokar Löbl, der selbst einer Saazer Familie mit jüdischen Wurzeln entstammt, die 1970 nach dem Prager Frühling die Heimatstadt verließ, hatte keine Probleme mit diesem Umtrunk. Er ist bekennender Bierliebhaber. Und die Geschichte der Juden der Stadt ist eng mit der hiesigen „Bierkultur“ verbunden: Die „Saazer Hopfenjuden“ haben in der Vergangenheit zum Aufstieg dieses Wirtschaftszweigs in der Region viel beigetragen.

Das Projekt „Die Juden von Saaz“ ist Bestandteil einer tschechisch-deutsch-jüdischen Zusammenarbeit, die unter dem Titel „Saazer Weg“ steht. Vorbereitet wurde die Ausstellung von der Jüdischen Gemeinde von Teplice, vom „Förderverein der Stadt Saaz/Žatec“ (Frankfurt am Main), vom Heimatkreis Saaz (Roth) sowie aus dem heutigen Žatec von der „Vereinigung der Landsleute und Freunde der Stadt Žatec“.

Der „Saazer Weg“ umfasst viele Initiativen. „Die den Saazer Weg gehen wollen“, so beschreibt es der Förderverein, „sind überzeugt: Ohne Erinnerung kann es keine Versöhnung geben, aber ewige Vorwürfe führen auch nicht zum Ziel.“ Man wolle miteinander aus der „Vergangenheit und ihren schrecklichen Ereignissen“ lernen, um „der gemeinsamen Zukunft von Tschechen und Deutschen im europäischen Haus“ ein neues und solides Fundament zu geben.

Dunkle Kapitel

Die „schrecklichen Ereignisse“ aber haben das Bewusstsein von Tschechen und Deutschen zutiefst geprägt. Das wissen auch Otokar Löbl und Petr Šimáček, die Vorsitzenden des Fördervereins und der „rodáci“ (Landsleute). Da steht auf der einen Seite der Massenmord von Postelberg, begangen von der Division unter General Španiel an der männlichen deutschen Bevölkerung von Saaz im Juni 1945. Und auf der anderen Seite ist Lidice bis heute der Ort, der an die vielen NS-Verbrechen, begangen an tschechischen Zivilisten, an Männern, Frauen und auch Kindern, erinnert.

Weil sich der Förderverein und die „rodáci“ gemeinsam dafür engagierten, wurde im Juni 2010 eine Gedenktafel für die Opfer von Postelberg eingeweiht. Der Förderverein organisierte 2012 in Deutschland eine Wanderausstellung mit dem Titel „Die wilde Vertreibung der Deutschen in Nordböhmen 1945“. Lidice und andere NS-Gewalttaten blieben hier ganz bewusst nicht unerwähnt.

Doch es gibt nicht nur diese dunklen Kapitel in der Geschichte. Löbl und Šimáček planen ein „Johannes-von-Saaz-Museum“ in Žatec, in dem das Zusammenleben von Deutschen, Tschechen und Juden in der Stadt im friedlichen Miteinander dokumentieren werden soll. In die wechselvolle Stadtgeschichte mit einzubeziehen wären in der neueren Zeit aber auch jene Neubürger, die nach der Vertreibung der Sudetendeutschen hier ansiedelten – oder auch angesiedelt wurden – und die aus dem tschechischen Kernland, aus Mähren und der Slowakei kamen oder die Roma, die hierher zogen und nach dem NS-Terror kommunistischen Repressalien ausgesetzt waren.

Geschichte ist in der Gegenwart präsent, sie soll aber nicht nur im neuen Museum in der Zukunft vor allen Dingen eines: zusammenführen. So sagte Löbl im Jahr 2010 anlässlich der Eröffnung der Ausstellung „Die Juden von Saaz“ in einem Gespräch mit der Tageszeitung „MF Dnes“: „Das Geschehene und die Mordtaten kann man nicht mehr (…) rückgängig machen (…) Es ist aber möglich, sich gegenseitig zu verzeihen (…) und vor einer Wiederholung der früheren Taten zu warnen.“

In der Geschichte Stärke suchen für Gegenwart und Zukunft, das ist in Anlehnung an den Historiker František Šmahel Löbls Motto. Die Geschichte von Žatec|Saaz bietet hierzu viele Ansätze.

Einladung zum Gedenkakt: 75 Jahre „Reichskristallnacht“

In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 brannten wie in Deutschland so auch im Saazerland die Synagogen. In einer geplanten Aktion gingen die Nationalsozialisten gewaltsam gegen jüdische Einrichtungen, Geschäfte und einzelne Bürger vor.

In Saaz brannte die Innen­einrichtung der Synagoge aus, weiterer Schaden wurde durch die beherzte deutsche Feuerwehr verhindert. Wegen der vielen eingeschlagenen Schaufenster und der landesweiten Planung ging dieses Staats­pogrom in den Volksmund als „Reichskristallnacht“.

Der „Förderverein der Stadt Saaz|Žatec“ in Zusammenarbeit mit der jüdischen Gemeinde Teplitz, der Stadt Saaz, dem „Verein der Landsleute und Freunde der Stadt Saaz“, dem Heimatkreis Saaz und dem neuen Besitzer der Synagoge, Daniel Černy, lädt in Erinnerung an das Schicksal der jüdischen Saazer Mitbürger zu einem Gedenkakt vor dem

Haupteingang der Synagoge
am Freitag, den 8. November 2013, 17.00 Uhr

ein. Anschließend spielt in der Synagoge die Prager Gruppe „Jazz Khonspiracy“ die Werke des jüdischen Saazer Komponisten Karl Reiner,  „Mordechai-Gebet“ und „Esther Lieder“.

Jazz Khonsiracy

Jazz Khonsiracy

Karel (Karl) Reiner (1919-1979) kam in Saaz als Sohn eines jüdischen Kantors zur Welt, studierte im Wiener Konservatorium Musik und war dann in Prag Schüler von Zdeněk Nejedlý, Alois Hába und Josef Suk. Als Konzertpianist engagierte er sich 1931-1938 für die „Neue Musik“ und führte u. a. die Vierteltonwerke seines Lehrers Hába auf. 1943 wurde er in das Ghetto Theresienstadt deportiert, wo er der Komponistengruppe angehörte. Er war der einzige Überlebende aus dieser Gruppe. 1944 wurde Reiner in das KZ Auschwitz und später in das KZ Dachau gebracht, wo er die Befreiung durch die Amerikaner erlebte.

In Theresienstadt entstand die Komposition zum Esther-Spiel, das dort auch aufgeführt wurde. Mitwirkenden der Aufführung gelang später zusammen mit dem Libretto-Autor Milan Kuna die Rekonstruktion des Werkes, dessen Aufzeichnungen verloren gegangen war. Nach 1945 arbeitete Reiner weiter als Komponist und diente dem kommunistischen Staat als Vorsitzender des Tschechischen Musikfonds und Mitglied des tschechischen Komponistenverbandes. Aus Enttäuschung über die Kommunisten trat er nach der Niederschlagung des Prager Frühlings aus der KPČ aus. 1975 vertonte er fünf Gedichte des DDR-Dissidenten Reiner Kunze.

Reiner hinterließ ein umfangreiches Werk, u. a. Opern, Ballettmusik, Konzerte für Violine, Klavier und Bassklarinette, Kammermusik, Orgel- und Klavierstücke, Chöre und Lieder, Schauspiel- und Filmmusik. Der von Miro Bernat realisierte Kurzfilm Motýli tady nezijí (Schmetterlinge leben hier nicht, 1958) mit der Musik von Reiner wurde 1959 bei den Internationalen Filmfestspielen von Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet. Karl Reiner starb 1979 in Prag.

Bierkultur im tschechischen Žatec

Im Biertempel von Žatec, dem ehemaligen Saaz, ist immer noch viel von der leidvollen Geschichte der Vertreibungen zu spüren.

Von Norbert Bartnik | Main-Echo Online, 1. November 2013

Einst galt das nordböhmische Žatec, früher Saaz, als Welthopfenhauptstadt, dort wird die böhmische Brautradition lebendig. Viele alte Gebäude erinnern an die kulturelle Vielfalt, die nach dem Zweiten Weltkrieg verloren ging.

Turm des "Biertempel" in Saaz

Turm des „Biertempel“ in Saaz

Normalerweise stehen Leuchttürme an der Küste, um Seefahrern bei der Orientierung zu helfen. Der Leuchtturm von Žatec steht mitten in der Stadt und hilft Bierfreunden bei der Orientierung. Das kuriose Bauwerk ist Teil eines neuen Erlebnismuseums, das über die Bierkultur der böhmischen Stadt informiert. Von der Aussichtsplattform genießt man einen weiten Blick über die Stadt, die einst von Brauereien, Hopfenlagern und Handelshäusern geprägt wurde. Im 19. Jahrhundert galt Žatec, damals Saaz, als „Welthopfenhauptstadt“, aus der Hopfen von besonders hoher Qualität in alle Kontinente exportiert wurde. Die Aufschrift „Gebraut mit Saazer Aromahopfen“ galt bei vielen Biermarken als Inbegriff von Qualität.

Noch heute kann man am Stadtrand einige Anbauflächen erkennen. Von den vielen Brauereien im Nordwesten Böhmens sind allerdings nur noch wenige übrig geblieben. Aber es gibt den „Biertempel“, ein originelles Museum, in dem die eng mit der Hopfenverarbeitung verknüpfte Geschichte der Region erzählt wird.

„In den letzten Jahren sind in Tschechien 130 neue Hausbrauereien gegründet worden“, erzählt Museumsmanager Jiří Vent, während er die Besucher durch den Turm führt. „Das ist eine Reaktion auf die internationalen Bierfirmen, die den Markt beherrschen.“

Vent, der früher selbst in der Hopfenbranche gearbeitet hat, macht keinen Hehl aus seiner Verachtung für die großen Marken:

„Achtzig Prozent der europäischen Biere sind schlecht. Das kann man eigentlich gar nicht trinken.“

Viel wichtiger als aufwendige Brautechnik ist nach seiner Einschätzung die Tradition:

„Man muss sein Handwerk beherrschen, und das wird vom Großvater auf den Vater und von diesem wieder auf den Sohn weitergegeben.“

Es ist eine romantische, auf sympathische Weise weltfremde Sicht der Dinge, die in Žatec noch gepflegt wird. Jiří Vent erzählt bei dem Rundgang durch das Museum aber auch vom Niedergang der Hopfenkultur als Folge von Kriegen und NS-Terror:

„Aber den Hopfen hat man im Blut. Die Emigranten haben ihre Kultur auch in den USA oder Südafrika bewahrt“.

Der Hopfensaal

Der Hopfensaal

Im Biertempel wird die Kultur der Region spannend in Szene gesetzt. In einer nur spärlich beleuchteten Lagerhalle laufen die Besucher durch ein aus Hopfensäcken gebildetes Labyrinth und landen immer mal wieder in einer Sackgasse, bis sie in einem Alchemistenlabor ankommen, das mit seinen Geisterbahneffekten besonders junge Gäste anspricht. Im Untergeschoss geht es um die Geschichte des Hopfenanbaus.

Die Tschechen liegen im durchschnittlichen jährlichen Bierkonsum von knapp 160 Litern pro Person weltweit klar in Führung, erst auf dem zweiten Platz folgen die Deutschen mit knapp 110 Litern. Für die Qualität gebe es ein ganz einfaches Testverfahren, meint Vent:

„Wer am Abend viel Bier getrunken hat und am nächsten Morgen mit einem klaren Kopf aufwacht, kann sicher sein, dass es ein gutes Bier war.“

Im Gasthaus „U Orloje“ neben dem Museum kann man testen, ob das auch für die hellen und dunklen Spezialitäten aus der Hausbrauerei gilt.

Am Grab des ältesten Biertrinkers der Welt

Marktplatz von Žatec|Saaz

Marktplatz von Žatec|Saaz

Auf dem Ringplatz (námestí Svobody) im Stadtzentrum ist eine merkwürdige Grabplatte in den Boden eingelassen. An dieser Stelle wurde das Skelett eines Mannes entdeckt, neben dem ein tönernes Gefäß, ein paar Hopfenreste und eine Tontafel mit sieben Kerben in der Erde lagen. Der Tote wurde zum „ältesten Biertrinker der Welt“ ernannt, die Tafel als älteste erhaltene Bierrechnung bewertet. Das ist zwar nicht ernst gemeint, aber immerhin wurden die sieben Kerben zum Logo des Vereins, der den „Tempel des Hopfens und des Bieres“ begründete. Beim Hopfenfest Docesná, das jeweils im September gefeiert wird, herrscht auf den Straßen und Plätzen der Stadt immer noch viel Trubel.

Nachgewiesen ist, dass schon 1261 in Saaz Bier gebraut wurde. Heute wird diese Tradition nur noch von der Hausbrauerei neben dem Museum und der Žatec-Brauerei, die sich auf dem Gelände der alten Burg befindet, fortgesetzt. Andere ehemalige Brauereien, Hopfenlager und Fabriken stehen dagegen leer und verfallen allmählich. Gleiches gilt für so manche Villen, in denen einst die Handelsherren residierten. Der Putz blättert von den Fassaden, die dekorativen Statuen am Dachfirst sind nur notdürftig gesichert.

Vor vielen Ladengeschäften in der von Laubengängen gesäumten Hoštálkovo námestí sind die Jalousien heruntergelassen, und es sieht nicht so aus, als würden sie jemals wieder hochgezogen werden. Jahrhundertelang hatten Tschechen, Deutsche und Juden in Saaz vergleichsweise friedlich zusammengelebt. Nur noch die brüchigen alten Häuser erinnern an die kulturelle Vielfalt, die nach dem Krieg unwiederbringlich verloren ging.

Saazer Synagoge

Saazer Synagoge

Die Synagoge, deren Innenräume 1938 von den Nazis verwüstet wurden, blieb zwar erhalten, aber es gibt keine jüdische Gemeinde mehr, die sie nutzen könnte. So ist die Zukunft des Gebäudes noch ungewiss. Es dient nur noch als Kulisse für historische Filme. Überhaupt wird Žatec wegen seiner alten Bausubstanz gerne von Filmteams besucht, wenn es gilt, Szenen mit dem Flair der Vorkriegszeit zu drehen.

Die leidvolle Geschichte von Flucht und Vertreibung ist in Žatec noch spürbar. Die jüdischen Bürger, denen es nicht gelang, vor dem Einmarsch der Wehrmacht zu emigrieren, wurden von den deutschen Besetzern im Zweiten Weltkrieg deportiert und ermordet. Nach Kriegsende kam es zu Racheakten an den deutschen Bewohnern, ganz egal ob sie an den Nazi-Gräueln beteiligt waren oder nicht. Im Juli 1945 wurden über 700 deutsche Männer und Jungen im Alter von 15 bis 60 Jahren von tschechischen Militärs in Saaz zusammengetrieben, in den Nachbarort Postelberg gebracht und auf dem dortigen Kasernengelände erschossen. Die Täter wurden nie zur Rechenschaft gezogen.

Auch in Aussig (heute Ústí nad Labem) gab es 1945 ein Massaker an deutschen Einwohnern. In der 70 Kilometer von Žatec entfernten Stadt ist jetzt eine groß angelegte Ausstellung geplant, die vom Leben der verschiedenen Bevölkerungsgruppen in Böhmen erzählt, vom Trennenden und Verbindenden, aber auch von den Verfolgungen und Vertreibungen. Das Collegium Bohemicum, das viele deutsch-tschechische Kulturveranstaltungen organisiert, hat dafür in einer ehemaligen Knabenschule geeignete Räumlichkeiten bekommen.

„Schon jetzt kommen viele Besucher aus Deutschland hierher, die eine Ausstellung sehen wollen, die es eigentlich noch gar nicht gibt“, sagt der Historiker Thomas Oellermann, der die Präsentation organisiert. „Wir wollen keine Konflikte verbergen, aber auch zeigen, dass es über die Jahrhunderte hinweg eine fruchtbare Zusammenarbeit der Kulturen gegeben hat“.

Erinnerungen an den Gablonzer Glasschmuck

An Modellen kann man sehen, was in den Räumen einmal gezeigt werden soll, auch einige Ausstellungsstücke sind schon vorhanden, darunter alte Handwerksgeräte, Wirtshausschilder, Gablonzer Glasschmuck, Werbung für Elbogener Pumpernickel und eine „deutsche Volksgasmaske“. Eine Barrikade aus Büchern steht für die gescheiterte Revolution von 1848, die zugleich einen Wendepunkt markiert: Tschechische und deutsche Nationalisten gehen von nun an getrennte Wege, daneben wird der jüdische Weg thematisiert, der in das Konzentrationslager von Theresienstadt führt.

Die Vertreibung der Sudetendeutschen nach 1945 wird durch einen großen Schlüssel symbolisiert.

„Nachdem die Bewohner ihre Habseligkeiten auf die Wagen geladen und die Türen ihre Häuser verschlossen hatten, mussten sie den Behörden den Haustürschlüssel übergeben“, erzählt Oellermann.

Am Ende der Ausstellung steht die deutschsprachige Literatur – Werke von Franz Kafka, Egon Erwin Kisch, Gustav Meyrink und vielen anderen Autoren, die in Prag und anderen Städten des Landes lebten.

Es hat mehr als 60 Jahre gedauert, bis man so weit war, fern von allen Ideologien die gemeinsame Geschichte des Landes zu erzählen. Diese neue Offenheit macht den Besuch in den nordböhmischen Städten zu einem besonderen Erlebnis.