Von Andreas Kalckhoff, geboren am 18. August 1944 in Saaz
Preisgekrönter Beitrag zum 3. Literaturwettbewerb 2003, Kategorie Prosa/ Erwachsene, des tschechischen „Vereins der Landsleute und Freunde der Stadt Saaz“, des deutschen „Kulturkreises Saaz e. V. Roth“ und der Stadt Žatec.
Man sucht sich nicht aus, wo man geboren wird. Es kann bloßer Zufall sein, verursacht durch einen der glücklichen oder unglücklichen Wechselfälle des Lebens: Beruf der Eltern, Reise, Krieg. Mancher hat in seiner Geburtsstadt nie gelebt, jedenfalls nicht bewusst. Er hat sie nie besucht, weil keiner dort wohnt, den er kennt. Er hat deshalb keine Beziehung zu ihr.
Ich bin in Saaz durch einen bösen Zufall geboren: Es war Krieg. Ich hätte eigentlich Berliner werden sollen. Aber in Berlin regnete es Bomben, meine Mutter hatte bereits eine Fehlgeburt erlitten. Da entschloss sie sich, mich in ihrer Heimatstadt Saaz, bei ihren Eltern, zur Welt zu bringen. Dort war die Welt 1944 noch in Ordnung, man lebte fast wie im Frieden. Am 18. August kam ich im Saazer Kreiskrankenhaus zur Welt. Ich war noch nicht ein Jahr alt, da musste ich Saaz wieder verlassen. 24 Jahre später habe ich meine Geburtsstadt das erste Mal besucht.
Ich bin, wenn man so will, Zufallssaazer. Ganz zufällig freilich nicht. Vorfahren von Mutterseite sind seit dem 18. Jahrhundert in Böhmen nachweisbar. 1787 kam der Urgroßvater meines Großvaters, Franz Joseph Porstendörfer, in Pröhling bei Strahn zur Welt. Der Familiename stammt wahrscheinlich von Porstendorf (Borsov), ist also urböhmischer Herkunft. Franz Joseph Porstendörfer nannte einen Sohn Wenzel, nach dem böhmischen Nationalheiligen. Dieser Vorname blieb in der Familie Tradition. Mein Urgroßvater Wenzel Porstendörfer heiratete eine Tschechin aus Pilsen, Dorothea Pechmann, deren Großmütter Austed und Swoboda hießen.
In Saaz lebten Vorfahren von mir ebenfalls schon im 18. Jahrhundert. Am weitesten lässt sich die Familie Wagner zurückverfolgen: Dem Josef Wagner wurde 1785 eine Tochter Maria Anna geboren. Sie heiratete später Anton Martin Müller, der aus Liebotschan zugezogen war. Beider Sohn Karl Müller hat heute noch ein ansehnliches Marmorgrab an der Friedhofsmauer. Seit 1945 werden keine Verwandten von mir mehr in Saaz begraben. Die Familien Porstendörfer, Rust, Huß, Müller, Wagner, Herschmann gibt es dort nicht mehr.
Saaz ist meine Geburtsstadt, die Heimatstadt meiner Mutter. Meine Heimatstadt ist München. Dort bin ich aufgewachsen, dort habe ich mehr als 30 Jahre verbracht, dort habe ich meine Sprache erworben, dort leben noch viele meiner Freunde. In Stuttgart wohne ich heute gerne, doch mein Herz ist nicht hier. Mein Herz ist in München – und in Saaz. Warum in Saaz?
Im Frühling 1968, als in der Tschechoslowakei die Hoffnung auf einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ blühte, fuhr ich mit Freunden nach Prag. Wir machten einen Umweg über Saaz, weil ich meine Geburtsstadt wenigstens einmal gesehen haben wollte. Es war ein kurzer und teilweise enttäuschender Besuch. Enttäuschend, weil nichts in der Stadt den Touristen einlud, zu bleiben. Aber ich habe das Haus meiner Großeltern in der Saazer Unterstadt gesehen – von weitem, weil wir uns nicht näher heran trauten. Wir wollten keine Ängste vor Revanchismus wecken. In Prag waren wir fasziniert von der Aufbruchsstimmung. Daheim abonnierte ich die „Volkszeitung“ der deutschstämmigen Tschechen, die alle Hoffnung in den Prager Frühling setzten. Über Radiokurzwelle hörte ich die Ansprache Dubčeks zur sowjetischen Invasion und weinte.
Ich studierte Geschichte, unter anderem bei Ferdinand Seibt, zu dessen Begräbnis Jiři Gruŝa einen Kranz mit der Aufschrift schickte: „Böhmen ist ärmer geworden“. Von Seibt, der sich zusammen mit tschechischen Historikern für eine gerechte Beurteilung der böhmischen Geschichte und für die Versöhnung zwischen Tschechen und Deutschen einsetzte, habe ich viel gelernt. Im Sommer 1992 besuchte ich Saaz zum zweiten Mal, wieder auf der Durchreise nach Prag. Ich trank ein Bier in einem Hotelrestaurant unter den Lauben. Junge Soldaten saßen am Nebentisch. Das Bier schmeckte gut, ich trank ein zweites. Dann fuhr ich weiter, es wurde schon dunkel.
Im Herbst 2001 begann meine Liebe zu Saaz. „Freunde und Landsleute der Stadt Saaz“ luden mich zu einer mehrtägigen Festveranstaltung nach Saaz ein. Ich wurde freundlich aufgenommen und bewirtet. Die alte Stadt hat sich mittlerweile hübsch herausgeputzt. Viel ist freilich noch zu tun, um ihren alten Glanz wiederherzustellen. Was aber ohnehin wichtiger ist: Ich habe neue Freunde gewonnen, Saazer Freunde. Wegen dieser Freunde und wegen den Erzählungen meiner Mutter, mit denen ich aufgewachsen bin, werde ich immer wieder nach Saaz kommen. Dies ist, wie ich glaube, der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.