Was ist das „Gute“ für den Sterbenden?

Eine deutsch-tschechische Tagung über Sterbebegleitung
und Palliativmedizin in Saaz| Žatec

Von Andreas Kalckhoff und Michael Popović | Hessisches Ärzteblatt 12/ 2006

Tagungsteilnehmer im Hof der Villa Křiš, in der Mitte Dr. med. Michael Popović

Am 14. und 15. Oktober 2006 fand in Saaz|Žatec (Tschechien) eine Tagung „Der Ackermann aus Böhmen“ statt. Titelgebend war das gleichnamige Streitgespräch aus der Feder des Humanisten Johannes von Saaz, der um 1400 in der berühmten deutsch-böhmischen Stadt wirkte. Die Klage des „Ackermanns“ gegen den grausamen Tod in Form eines literarisch-philosophischen Streitgesprächs erschien den Veranstaltern gut geeignet als Einstieg in ein multidisziplinäres und transkulturelles Gespräch über würdiges Sterben. Dabei ging es auch um einen Austausch unterschiedlicher Erfahrungen von Tschechen und Deutschen in ihren jeweiligen Gesellschaften mit diesem heftig umstrittenen Thema.

Veranstalter des zertifizierten Workshops waren für die Landesärztekammer Hessen Dr. med. Michael Popović und  für die Tschechische Akademie der Wissenschaften MUDr. Ivan Pfeifer CSc in Zusammenarbeit mit Otokar Löbl und dem Förderverein der Stadt Saaz|Žatec e. V. sowie dem  tschechischen Verein der Landsleute und Freunde der Stadt Žatec.

In ihrem schriftlichen Grußwort umriss die Präsidentin der Landesärztekammer Hessen, Dr. med. Ursula Stüwe, die Problematik aus ärztlicher Sicht:

In unserer Gesellschaft des demographischen Wandels, die mit wachsenden sozialen Problemen zu kämpfen hat, sind wir an einem Scheideweg angelangt: Der eine Pfad weist in die Richtung des niederländischen Modells, das Sterbehilfe auf Verlangen ermöglicht. Der andere, den wir als Ärztinnen und Ärzte beschreiten und weiter ausbauen möchten, führt zum würdevollen Sterben und damit in die ‚Palliativmedizin’, die dem unheilbar Kranken Unterstützung und Linderung seiner Schmerzen in der letzten Lebensphase zukommen lässt.

Einige Juristen fordern eine Liberalisierung des Strafrechts bei der Sterbehilfe, doch dagegen wenden sich die Ärzte in ihrer Mehrheit vehement:

Wir möchten nicht, dass Ärzte sich an der Tötung von Menschen beteiligen – auch nicht als Gehilfen“, erklärte Bundesärztekammerpräsident Prof. Dr. Jörg-Dietrich Hoppe auf dem 66. Deutschen Juristentag in Stuttgart. Die Präsidentin der Landesärztekammer Hessen, Ursula Stüwe bezieht eindeutig Position: Ärztliches Ethos und Standesrecht verbieten die Beteiligung am assistierten Suizid. Die deutsche Ärzteschaft setzt deshalb auf eine Verbreitung der Palliativmedizin: Mit einer für alle Menschen erreichbaren palliativmedizinischen Versorgung nähme die Angst des Einzelnen vor einem qualvollen Sterben ab und damit auch sein Wunsch nach Hilfe beim Suizid.

Der Patient, der Arzt, die Gesellschaft

Läßt man einmal die teilweise hoch emotionalisierte Debatte mit dem Reizwort „Euthanasie“ beiseite – und das taten die Tagungsteilnehmer erfreulicherweise –, kann man die Problematik der Sterbehilfe als klassischen Interessenkonflikt beschreiben zwischen dem todkranken Patienten als buchstäblich Leidendem, dem helfenden Arzt als Handelndem und der umgebenden Gesellschaft als Fordernde. Der Schwerkranke und Sterbende will möglichst wenig leiden, der Arzt will aus Berufsethos heilen und nicht töten, die Gesellschaft will regulierend eingreifen – aus ordnungspolitischen Motiven, aber auch aus ökonomischen. Stüwe wies auf die „immer knapper werdenden finanziellen Ressourcen“ hin.

Der Leidende, das ist im „Ackermann aus Böhmen“ nicht die sterbende junge Frau des Klägers wider den Tod, sondern der hinterbliebene Ehemann. Aber die Angehörigen des Sterbenden spielen ja auch heute keine unwesentliche Rolle, weil sie im Notfall die Stellvertreter und Willensvollstrecker des Todkranken sind.

Vor Johannes von Saaz war aber weder das Leiden des Sterbenden noch der Angehörigen ein Thema. Denn man sorgte sich nicht um den sterbenden Körper, sondern allein um die unsterbliche Seele. Erst mit Johannes änderte sich das: In seinem „Ackermann“ thematisiert er das Leiden des Menschen hier auf Erden, die Ungerechtigkeit (und freilich auch Unausweichlichkeit) des willkürlichen Todes, die Machtlosigkeit der Ärzte angesichts des Todes – und nicht zuletzt das Recht des Menschen auf ein erfülltes Erdenleben.

Drei Vorträge von Prof. PhDr. Vaclav Bok (Universität Budweis), Dr. phil. Andreas Kalckhoff (Stuttgart) und PhDr. Petr Hlavaček (Prodekan der Hussitischen Fakultät Prag und Gastdozent des Instituts für Osteuropäische Geschichte in Leipzig) über Person, Werk und Vorstellungen des Johannes von Saaz bereiteten die Teilnehmer auf die Probleme der Gegenwart vor. Vaclav Bok überraschte mit neuen Forschungsergebnissen über Johannes von Saaz oder Tepl. In einem Interview mit dem regionalen Fernsehsender hob er hervor, dass das Werk „Der Ackermann und der Tod“ eines der seltenen Werke der Weltliteratur sei, das in Böhmen entstanden ist. Er zeigte sich beeindruckt von dem ernsthaften Streitgespräch der Ärzte, Juristen und Ethiker über sein Lieblingswerk. Andreas Kalckhoff hob das humanistische Menschenbild des „Ackermanns“ hervor. Demnach liege der Trost angesichts des Todes eher in einem erfüllten Leben als in einem erhofften Jenseits:

Für solch ein menschenwürdiges, vernunftgelenktes Leben, wie es Johannes von Saaz feiert, setzen wir uns heute noch ein.

Petr Hlavaček schließlich sprach über Personen und Strömungen in Europa und Böhmen, die zu Lebenszeiten von Johannes von Bedeutung waren.

Vom Recht auf den eigenen Tod

„O Herr, gib jedem seinen eigenen Tod / das Sterben, das aus jenem Leben geht, darin er Liebe hatte, Sinn und Not“: Mit diesem Vers Rainer Maria Rilkes eröffnete Dr. med. Gisela Bockenheimer-Lucius vom Senckenbergschen Institut für Geschichte der Medizin ihr Referat über medizinethische Aspekte von Sterbehilfe und Sterbebegleitung. Sie stellte dabei die platonische Frage in den Mittelpunkt: Was ist das Gute für den Patienten? Daran hätten sich die Ärzte strikt zu orientieren, aber die Frage sei auch nicht immer leicht zu beantworten. Der Patient hat nicht nur Angst vor Todesqualen, sondern oft auch vor einem langen Sterben in halber oder ganzer Bewusstlosigkeit, er fürchtet das Ausgeliefertsein und Alleinsein im Tode, das ihm eine „seelenlose Apparatemedizin“ bescheren könnte. Für viele habe der eigene Tod eine hohe symbolische Bedeutung: Er soll ihr Leben zu einem würdigen Abschluss bringen, dessen Umstände und Zeitpunkt sie selbst bestimmen wollten.

Auf der anderen Seite irren Patienten aber auch hinsichtlich ihrer Befürchtungen – und Ärzte nicht minder, was verbleibende Lebenszeit und Lebensqualität angeht. Selbst bei unstrittigen medizinischen Sachverhalten sind Erleben und Urteil, was sinnlos oder nutzlos sei, individuell verschieden, von subjektiven Einschätzungen und kulturellen Einflüssen abhängig. Patientenentscheidungen, auf diagnostische oder therapeutische Maßnahme zu verzichten, erscheinen dem Arzt deshalb oft unvernünftig und führen zu Konflikten. Trotzdem ist der Arzt nicht berechtigt, das durchzusetzen, was er für das „Gute“ hält, sondern der Patient hat ein Recht darauf, dass sein Wille respektiert wird – selbst dann, wenn er unvernünftig erscheint.

Aber auch wenn der Patient selbst keine Entscheidung trifft oder sein Wille nicht mehr feststellbar ist, heißt das noch nicht, dass der Arzt sein Leben verlängern darf oder muss. Wenn nämlich der Sterbeprozess eingesetzt hat, gibt es keine ärztliche Indikation für lebenserhaltende Maßnahmen. Doch halten sich immer noch nicht alle Ärzte daran, sonst wären Patientenverfügungen, die sich nur auf die Sterbesituation beziehen, überflüssig. Aber auch wenn der Sterbeprozess noch nicht unaufhaltsam begonnen hat, gilt es für den Arzt abzuwägen, welches Handlungsziel er mit Blick auf den individuellen Patienten und seinen Willen verfolgen will, ob belastende diagnostische und kurative Maßnahmen noch gerechtfertigt sind. Der Patient habe ein Recht darauf, so Bockenheimer-Lucius, nicht am Sterben gehindert zu werden.

Von der Pflicht, lebenserhaltende Maßnahmen einzustellen

Dieser medizinethische Standpunkt wurde aus der Sicht des Zivilrechts bestätigt. Dr. jur. Katharina Deppert, ehemalige Vorsitzende Richterin des 1. Zivilsenates des Bundesgerichtshofs, spitzte das wie folgt zu:

Einer Rechtfertigung bedarf nicht erst und nur die Beendigung einer lebenserhaltenden Maßnahme, vielmehr muss sich der Arzt bereits bei der Behandlungsaufnahme und zu jeder Zeit der Weiterbehandlung auf eine (mutmaßliche) Einwilligung des Patienten berufen können … Allzu leicht wird übersehen, dass sich aus dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht ergeben kann, lebenserhaltende Maßnahmen einzustellen und, was gleichfalls zu beachten ist, solche Maßnahmen – etwa das Einsetzen einer PEG-Sonde – gar nicht erst zu ergreifen.

Eine ohne wirksame Einwilligung vorgenommene ärztliche Behandlung sei laut BGH-Urteil vom 18. März 2003 eine rechtswidrige Körperverletzung.

Die Feinheiten des Rechts bringen es aber mit sich, dass diese Urteile an gewisse Voraussetzungen gebunden sind. Schwierigkeiten liegen in der möglichen Unsicherheit und Strittigkeit der ärztlichen Prognose, die wesentliche Abwägungsprobleme bei der Indikation mit sich bringen. Bedingung für die Unterlassung lebensverlängernder Maßnahmen ist, dass die Krankheit einen „irreversiblen tödlichen Verlauf“ genommen haben muss, worunter die Richter verstehen, dass der Patient ohne lebenserhaltende Ernährung nicht mehr lebensfähig wäre. Das gilt also auch für Wachkoma-Patienten.

Anderseits bedeutet „ohne wirksame Einwilligung“, dass eine wirksame Patientenverfügung vorliegt, sofern der Patient nicht mehr einwilligungsfähig ist. Die Patientenverfügung aber droht dadurch relativiert zu werden, dass sie in Zukunft nicht mehr verbindlich sein soll, wenn der Patient spätere medizinische Entwicklungen nicht berücksichtigen konnte, bei deren Kenntnis er mutmaßlich anders entschieden hätte (Vorschlag des Deutschen Juristentages 2006). Andererseits will man die Bindungswirkung von Patientenverfügungen nicht auf „Hilfe beim Sterben“ beschränken, sondern auf Wachkoma-Patienten ausdehnen. Für einen Nicht-Mediziner sei es schwierig, so Deppert, hierzu eine Meinung zu äußern. Doch die Beispiele von Wachkoma-Patienten, die beim Juristentag vorgestellt wurden, ließen in höchstem Maße daran zweifeln, ob die Erhaltung des Lebens auf dieser Stufe der Existenz noch ein humanes Anliegen sei.

Im Falle einer Zeugin Jehovas, die unter keinen Umständen eine Bluttransfusion wollte, hat das Bundesverfassungsgericht den Rechten des nicht den Zeugen Jehovas zugehörigen Ehemannes und der Kinder den Vorrang gegenüber dem Selbstbestimmungsrecht der Patientin eingeräumt. Deppert stimmte diesem Urteil grundsätzlich zu, gestand aber gleichzeitig ein, dass sie diese Entscheidung für höchst problematisch hält. Hier wurde deutlich, dass die Wertvorstellungen der Mehrheitsgesellschaft einen wesentlichen Anteil an den medizinethischen und juristischen Festlegungen haben. Logik und Konsequenz bleiben dabei durchaus auch mal auf der Strecke. Die Rechtsauffassung, die von Deppert vorgetragen wurde, war in ihrer Klarheit und Eindeutigkeit auch für einen Nichtjuristen nicht nur nachvollziehbar, was eines der Ziele dieser Veranstaltung war, sondern auch für Juristen fachlich unwiderlegbar.

Vom Umgang der Gesellschaft mit Todkranken

Damit wären wir bei der Gesellschaft, die für sich in Anspruch nimmt, auch das Sterben der Menschen ethisch, juristisch und ökonomisch zu kontrollieren. Das ist heute so und war früher nicht anders. Dr. med. Michael Popović, Hauptgeschäftsführer der Landesärztekammer Hessen, lieferte in zwei Beiträgen eine Tour d’Horizon über die Geschichte der Euthanasie und Sterbebegleitung und ihren Wandel im Zuge von Entchristlichung, Säkularisierung, Aufklärung und Materialismus, bis hin zu den Extremen von Nationalsozialismus und Bolschewismus:

Der Umgang mit Sterben und Tod war und ist immer Ausdruck der soziokulturellen Entwicklung in den jeweiligen Epochen … Für die Kultur des Umgangs mit der Menschenwürde, vor allem dann, wenn der Mensch am schwächsten ist und der größten Zuwendung bedarf, spielen Zeitgeist, Religion, Philosophie und Ideologie, speziell die Säkularisierung eine besondere Rolle. Letztere meint allgemein jede Form von Verweltlichung, im engeren Sinn aber die durch den Humanismus und die Aufklärung ausgelösten Prozesse.

Der Wunsch, in höchster Sterbensnot sein Leben abzukürzen, ist nicht neu. Aus dem Mittelalter haben wir ein Andachtsbild, das die Anfechtungen eines Sterbenden mit den provokativen Spruchbändern zeigt: „Es gibt keine Hölle“ – „Mach’s wie die Heiden“ – „Töte dich selbst.“ Der Titel des Bildes lautet: „Versuchung des Glaubens“. Die Selbsttötung ist im Christentum streng verboten, Selbstmörder kommen in die Hölle. Christoph Wilhelm Hufeland, ein Arzt, der Wieland, Herder, Goethe und Schiller zu seinen Patienten zählte, schrieb in diesem Sinne 1803:

Wenn ein Kranker von unheilbaren Übeln gepeinigt wird, wenn er sich selbst tot wünscht (…), wie leicht kann da, (…) der Gedanke aufsteigen, sollte es nicht erlaubt, ja sogar Pflicht sein, jenen Elenden etwas früher von seiner Bürde zu befreien (…)?

Hufeland, der durch sein Werk „Makrobiotik oder die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern“ (1796) berühmt wurde, war jedoch strikt dagegen:

Soviel Scheinbares ein solches Räsonnement für sich hat, so sehr es selbst durch die Stimme des Herzens unterstützt werden kann, so ist es doch falsch (…) Sie hebt geradezu das Wesen des Arztes auf. Er soll und darf nichts anderes tun als Leben zu erhalten, ob es ein Glück oder Unglück sei, ob es Wert habe oder nicht, dies geht ihn nichts an. Und maßt er sich einmal an, diese Rücksicht in sein Geschäft aufzunehmen, so sind die Folgen unabsehbar, und der Arzt wird der gefährlichste Mann im Staate. Denn ist einmal diese Linie überschritten, glaubt sich der Arzt einmal berechtigt, über die Notwendigkeit eines Lebens zu entscheiden, so braucht es nur stufenweise, um den Unwert und folglich die Unnötigkeit eines Menschenlebens auch auf andere Fälle anzuwenden.

Popovic erinnerte an die unsäglichen Folgen der biologistischen Medizin und deren Protagonisten Binding und Hoche, die zu den kriminellen Missbräuchen der Zwangseuthanasie unter den Nationalsozialisten führte. Er wies darauf hin, dass die Bewältigung des Problems der „Medizin ohne Menschlichkeit“ (Mitscherlich und Miehlke) zunächst zum „Bad Nauheimer Ärztegelöbnis“ und dann zum „Genfer Gelöbnis“ des Weltärztebundes zur Folge hatte. Deshalb sagt Bundesärztekammerpräsident Prof. Dr. Jörg–Dietrich Hoppe heute:

Jeder Mensch hat das Recht auf Leben und auf ein Sterben in Würde – nicht aber das Recht, getötet zu werden“, und: „Jeder Patient muss sich zu jeder Zeit sicher sein, dass Ärztinnen und Ärzte konsequent für das Leben eintreten und weder wegen wirtschaftlicher, politischer noch anderer Gründe das Recht auf Leben zur Disposition stellen. Diese Sicherheit ist nur zu garantieren, wenn Ärztinnen und Ärzte aktive Hilfe zum Sterben, also eine gezielte Lebensverkürzung durch Maßnahmen, die den Tod herbeiführen, kategorisch ablehnen.

Nun hat allerdings die klassische Euthanasie-Debatte, bei der es um Tötung ohne oder gegen den Willen der Betroffenen geht, wenig zu tun mit der Tötung auf Verlangen, die wir als „aktive Sterbehilfe“ bezeichnen. Aber die Gefahr, dass das Selbstbestimmungsrecht des Patienten von überforderten Angehörigen und gedankenlosen Ärzten missbraucht werden könnte, ist nicht von der Hand zu weisen. Außerdem könnte ein soziales Klima entstehen, in dem auf Schwerstkranke ein moralischer Druck ausgeübt wird. Popović zitierte dazu den Nationalen Ethikrat der Bundesrepublik (2006):

Es muss schon im Ansatz der Eindruck vermieden werden, durch die Bereitstellung und Förderung von Möglichkeiten der Suizidbeihilfe lege die Gesellschaft den Schwerkranken und Sterbenden ein freiwilliges Abschiednehmen aus der Mitte der Lebenden nahe, wenn sie diesen zur Last zu fallen drohen.

In einen Gespräch mit den Regionalfernsehsender, stellte Herr Dr. Popovic den Sinn dieser Veranstaltung dar. Es soll der Bevölkerung in der Tschechischen Republik, Deutschland und  Europa deutlich gemacht werden, was unter palliativer Medizin zu verstehen ist, nämlich die Würde des Menschen auch im Sterbeprozess zu erhalten, Schmerzen ärztlicher Kunst entsprechend zu lindern und seinen Sterbevorgang menschlich zu begleiten. Werde dies verstanden, so würde in dieser stark säkularisierten Welt nicht die Forderung des  Töten auf Verlangen erhoben. Sterben und der Tod verliere viel von seinem Schrecken und werde wieder ein Teil des Lebens.

Aus der Geschichte müsse man lernen, gerade in Böhmen, dem Schmelztiegel von Kulturen. In dieser Region, in der es nach einer langer produktiven Phase der Kulturen zu Streitigkeiten während der Reformationszeit, der Defenastrationen und späterer übler nationalistischer Machenschaften und Verbrechen auf böhmischen Boden kam.  Hier, im reanimierten Herzen Europas, eröffneten sich Chancen, wenn im humanistischen Geiste zusammengearbeitet würde, um aus den Tiefen der Geschichte Wege zu einer neuen Zukunft zu eröffnen.

Den Tagen mehr Leben hinzufügen

Der Tod sei, so erklärte Popović, für den Arzt weniger ein Teil des Lebens als eine medizinische Niederlage. Untersuchungen zufolge meide das medizinische Personal normalerweise den Kontakt mit dem Sterbenden, sehe ihm nicht mehr in die Augen, verringere die Besuche, reagiere nur zögerlich auf Klingelsignale.

Auf der anderen Seite werden in vielen Fällen weiter diagnostische und kurative Maßnahmen durchgeführt, obwohl man eigentlich weiß, dass der Patient nicht mehr zu heilen ist: Darauf wies Prof. Dr. med. E. G. Loch, Vorsitzender der Akademie für Fort- und Weiterbildung der Landesärztekammer Hessen, in seinem Referat hin. Anschaulich schilderte er, wie in Krankenhäusern Todkranke bei ihrer Einlieferung ungeachtet ihres moribunden Zustands nach allen Regeln apparativer Kunst vermessen und versorgt würden. Hier äußere sich eine Hilflosigkeit, die von mangelhafter Ausbildung und Organisation herrühre. Nicht nur der einzelne Arzt, auch das Krankenhaus als Institution sei hinsichtlich palliativer Versorgung und Sterbebegleitung oft überfordert.

Prof. Dr. med. Ulrich Gottstein, der Gründer des Evangelischen Hospitals für Palliative Medizin (Frankfurt/ Main) machte deutlich, dass die Palliativmedizin eine sehr aktive Medizin sei, aber mit geändertem Therapieziel bei unheilbaren, tödlichen Krankheiten. Unter Verzicht auf belastende Diagnostik, quälende Therapien und lebensverlängernde Maßnahmen wie künstliche Ernährung und Beatmung erleichtere diese Form der Intensivmedizin dem Todkranken durch Schmerzbehandlung und psychische Betreuung das Sterben. Es gehe in dieser Situation darum, die Lebensqualität zu maximieren, nicht die Lebensdauer. Prof. Loch zitierte dazu die englische Ärztin Cicely Saunders:

Wir können dem Leben nicht mehr Tage hinzufügen, aber den Tagen mehr Leben.

Dieser Leitgedanke sei maßgeblich für die Gestaltung der Inhalte ärztlicher Fortbildung. Unerlässlich ist dabei eine breitere palliativmedizinische Aus-, Weiter- und Fortbildung, die Beachtung von Interdisziplinarität und Multiprofessionalität und die Koordinierung von medizinischer Betreuung und Pflege. Wichtig ist weiter die Bildung organisatorischer Schnittstellen zwischen Hausarzt, Klinik und Hospiz, die auch ambulant tätig sein müssten. Prof. Loch dazu:

Verständlicherweise erfordert dies große finanzielle Ressourcen, was zwangsläufig die Politik auf den Plan ruft. Nur durch eine flächendeckende Versorgung ist hier Abhilfe zu schaffen, weil die Zahl der Betroffenen (…) durch die zunehmende Lebenserwartung wächst.

Das demographische Problem wirke sich zudem auch auf die häusliche Pflege aus: Die Familien würden bislang – zumal die Liegezeiten in Krankenhäusern immer die kürzer würden – immer noch die größte Pflegeleistung erbringen; aber wer wird, wenn die Kinderzahl weiter zurückgeht und Single-Haushalte zunehmen, die alleinstehenden Sterbenden betreuen?

Patienten als ökonomische und soziale Bedrohung?

Hier wird deutlich, dass es wiederum die Gesellschaft ist, die letztlich darüber bestimmt, wie der Mensch stirbt. Wenn sie erlaubt, dass Todkranke ihrem Leben mit ärztlicher Hilfe vorzeitig ein Ende machen, wird das möglicherweise zur sozialen Norm entarten. Wenn sie anderseits nicht genügend Geld zur Verfügung stellt, um den Sterbenden ein betreutes, schmerzfreies und menschenwürdiges Ende zu ermöglichen –  einen „guten Tod“ –, werden die Menschen weiterhin nach aktiver Sterbehilfe rufen.

Prof. Gottstein stellte mit seiner Klinik eine beispielhafte Einrichtung vor, die allen Erfordernissen und Erwartungen hinsichtlich Sterbehilfe und Sterbebegleitung entspricht. Aber wir wissen, dass es noch viel zu wenige solcher Einrichtungen gibt. Dr. Popović referierte die aktuellen medizinpolitischen Empfehlungen zu Palliative Care, und Prof. Loch beschrieb die entsprechenden ärztlichen Bildungsmaßnahmen. Das alles macht Hoffnung – aber können wir sicher sein, dass diese auch erfüllt wird?

Die Referate der tschechischen Kollegen, Dozent MUDr. Martin Bojar, ehemaliger Gesundheitsminister der ČR und gegenwärtig Vorsitzender der Neurologischen Klinik II der Prager Karlsuniversität, und MUDr. Zdenĕk Kalvach, Leiter der Inneren und Geriatrischen Abteilung III ebendort, ließen erkennen, dass die Lage in ihrem Land noch um einiges angespannter ist als bei uns. Ähnlich wie im übrigen Europa stecke auch in Tschechien die Palliativ­pflege erst in den Anfängen, erklärte Bojar, und auch die Pflegekapazitäten seien sehr unzureichend.

Dieser Mangel führe dazu, assistierte in seinen Vortrag Kalvach, dass es zu „wilder Euthanasie“ durch Pfleger und Ärzte komme. Da aktive Sterbehilfe auch in Tschechien verboten sei, fange man oft Therapien erst gar nicht an, weil man sie danach nicht mehr ungestraft abbrechen könne. Von einer Selbstbestimmung des Patienten sei dabei überhaupt nicht die Rede. Stattdessen gebe es eine erschreckend hohe Zahl an Selbstmorden, mit denen sich Schwerstkranke den Zumutungen eines Klinik- oder Heimaufenthalts entzögen. Die Hauspflege spiele nur eine untergeordnete Rolle, weil die Angehörigen nicht sicher sein könnten, dass sie im Ernstfall für den Kranken oder Sterbenden einen Platz im Krankenhaus oder in einem Hospiz bekämen. Deshalb weigerten sie sich auch, ihn vorübergehend wieder nach Hause zu nehmen.

Es werde oft die Meinung geäußert, der Ruf nach „Euthanasie“ sei eine Folge von Säkularisierung und Glaubensferne in der nachkommunistischen Gesellschaft. In Wirklichkeit, so Bojar, sei in Tschechien aber der Euthanasiebegriff nicht auf die aktive Sterbehilfe eingeengt, ob mit oder ohne Willen des Patienten, sondern meine im ursprünglichen Sinne des Wortes den „guten Tod“ durch Linderung des Leidens und schlösse damit Palliative Care ein.

Zuletzt entwarf Bojar ein düsteres Bild: Viele unheilbar kranke und alte Patienten seien Neurologiefälle. Solche Patienten verursachten durch ihre intensive und teure Medikation exorbitante Kosten: pro Patient würden oft Medikamente im Wert von 1.200-3.500 Euro pro Tag ausgegeben. Sie würden deshalb angesichts der ungünstigen demographischen Entwicklung zu einer großen sozialen Last, ja zu einer ökonomischen und sozialen Bedrohung.

Im Gespräch mit dem Regionalfernsehen zeigte sich Bojar ebenso wie Prof. Bok von der Ernsthaftigkeit und hohen Qualität der indisziplinären Diskussion der Teilnehmer beeindruckt. Wertvolle Diskussionsbeiträge lieferten besonders Prof. Gottstein und Prof. Erazim Kohak, philosophische Fakultäten Boston (USA) und Prag, zu medizinethischen und philosophischen Fragestellungen.

Und wie sieht es bei uns aus? Die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin schätzt, dass täglich etwa 220.000 Menschen unter behandlungsbedürftigen Tumorschmerzen zu leiden haben, dazu kommt noch eine Vielzahl anderer belästigender oder quälender Krankheitssymptome. Ihnen allen verspricht man, dass sie demnächst palliativ gut versorgt sein werden – während die Gesundheitskosten ständig steigen und die Kassen leer sind. Werden wir unsere Versprechungen halten können?

Dr. Stüwe setzte im Grußwort ihre Hoffnung in die Reformpläne der Bundesregierung, die vorsähen „dass unheilbar kranke Menschen einen Anspruch auf spezialisierte ambulante Palliativversorgung erhalten sollen“. Und sie gab sich überzeugt, dass ein Symposion wie dieses dazu beitragen könne, „dass Irrwege vermieden werden und die Notwendigkeit eines konsequenten Ausbaus der Palliativmedizin deutlich wird“. Dem schließen sich die  Verfasser gerne an.

2006-10#14 Gruppenbild (Miroslav Bambusek)Dr. phil. Andreas Kalckhoff, geboren 1944 in Saaz, war Teilnehmer der Tagung mit dem Referat „Die Geburt des freien Menschen: Der Ackermann aus Böhmen“. Er ist Historiker, arbeitet als Wissenschaftsjournalist und hat mehrere Bücher zur Geschichte des Mittelalters verfasst.

Dr. med. Michael Popović, Eppstein