Johannes von Saaz – Deutscher, Tscheche oder Europäer?

Referat in der Bildungs- und Begegnungstätte Heiligenhof,
Bad Kissingen 4. Oktober 2010

Johannes von Saaz (ganz rechts) als Stifter des Hieronymus-Officiums in Eger; links der hl. Hieronymus mit seinem Löwen (Bibliothek des Nationalmuseums Prag)

Zwei der für die deutsche Literatur bedeutendsten Dichter stammen aus Böhmen: Franz Kafka – und der Autor des „Ackermann aus Böhmen“, der in den lateinischen Quellen abwechselnd als Iohannes Tepla und Iohannes de Sitbor erscheint. Im westböhmischen Schüttwa (Šitboř) im ehemaligen Bezirk Bischofteinitz ist er wahrscheinlich geboren, im nordböhmischen Tepl, wo es eine Lateinschule gab, aufgewachsen, doch die meiste Zeit seines Lebens hat er in Saaz verbracht. Er hat studiert, auf jeden Fall auch Rechtswissenschaft, und den Magistertitel erworben. Man vermutet, dass er Beziehungen zur Prager Hofkanzlei hatte, mit großer Wahrscheinlichkeit zu Johannes von Neumarkt, der zwanzig Jahre lang der Kanzler Kaiser Karls IV. war. Er wird sogar als sein Schüler bezeichnet, obwohl ein direkter Kontakt zwischen Johannes von Neumarkt und Johannes von Saaz nicht nachweisbar ist.

Johannes von Neumarkt, von dem wir noch mehr hören werden, war bis 1374 als Kanzler im Amt. Im Jahr darauf ist unser Johannes erstmals in Saaz urkundlich. Es wäre denkbar, dass er zuvor in der Prager Hofkanzlei tätig war. Spätestens seit 1383 war er Stadtschreiber und Notar in Saaz (civitatis notarius), denn in diesem Jahr legte er das Saazer Stadtbuch an, ursprünglich eine Urkundensammlung, später auch mit erzählenden Einträgen. Außerdem war er Leiter der Saazer Lateinschule (rector scolarum). 1411 – also nach über 35jähriger Tätigkeit – gab er seine Ämter in Saaz auf, um in der 1348 gegründeten Prager Neustadt erster Notar und Stadtschreiber zu werden. Zwei Jahre später – 63jährig oder älter – erkrankte er schwer und starb zwischen Juni 1414 und April 1415. Er hinterließ fünf Kinder und eine Witwe namens Clara.

Johannes von Saaz hat außer dem berühmten Prosatext „Der Ackermann aus Böhmen“ als dichterisches Werk nur noch einige deutsche Verse hinterlassen. Die Formelbücher, die er verfaßt hat – es handelt sich dabei um Musterbriefsammlungen –, sind seiner Stadtschreibertätigkeit zuzuordnen. Es fällt deshalb schwer, betrachtet man seine Lebensleistung, ihn als Dichter zu bezeichnen. Aber zwischen Kunst und Wissenschaft wurde damals noch nicht so streng unterschieden wie heute.

Deutscher oder Tscheche?

Was ich hier vortrage, ist der Stand der Wissenschaft. Dass ich dies extra erwähne, gehört zu unserem Thema. Denn der Autor des „Ackermann aus Böhmen“ war – und ist vielleicht heute noch – eine umstrittene Person. Als ich 2002 zur Tausendjahrfeier von Saaz auf einer Tagung im Prager Senat meine erste Rede zu diesem Thema hielt, wurde in einem Diskussionsbeitrag bestritten, dass dieser Autor überhaupt ein Deutscher sei. Man muß diesen heftigen Einwand, der aus den Nationalitätenkämpfen der ersten Tschechoslowakischen Republik stammt, als Reaktion auf die nationalistische Vereinnahmung des „Ackermann“ durch die Deutsch-Böhmen, die sich seit diesen Tagen „Sudetendeutsche“ nennen, verstehen. Ich bin mit einem Ackermann-Büchlein aufwachsen, das meiner Mutter als Schullektüre diente und die Vertreibung überstanden hat: Es ist als Nummer 8 in der Reihe „Bücher der Deutschen“ im Stiepel-Verlag aus Reichenberg (heute Liberec) erschienen. Ich werde auf diesen unerfreulichen Teil der Wirkungsgeschichte dieses Buches am Ende zu sprechen kommen.

Dass es überhaupt zum Zweifel an der Nationalität des Autors kommen konnte, liegt zum einen am Autor selbst, der unter verschieden Namen überliefert ist und dessen Identität und Lebenslauf aus verschiedenen Quellen mühevoll erschlossen werden muß. Zum anderen ist die Überlieferungsgeschichte des Werkes selbst daran schuld. Denn das Original der Handschrift, die um 1400 verfaßt wurde, ist nicht mehr erhalten, es gibt nur spätere Abschriften und nur aus dem bayerischen Raum, nicht aus Böhmen. Die älteste überlieferte Handschrift stammt von 1449. So hat man denn von tschechischer Seite eine lateinische Originalschrift vermutet, womit die Nationalität des Autors offen bliebe. Man hat jedoch bis jetzt keine gefunden und wird dies wahrschlich auch nicht, denn es gibt einen starken Hinweis dagegen:

Man hat nämlich inzwischen ein Schreiben des Autors an seinen Jugendfreund Peter Rothers entdeckt. Rothers – auch als „Petrus von Tepl“ urkundlich an – war ein wohlhabender Jude in Prag, der gute Kontakte zum Hof Wenzels IV. hatte und auch als Geldgeber der Stadt Saaz auftrat. Der Brief muß vor 1411 verfaßt worden sein, denn Johannes gibt sich als civis Zacensis, als „Saazer Bürger“, zu erkennen. Es handelt sich um ein lateinisches Begleitschreiben zum libellus Ackerman, dem „Ackermann-Büchlein“, wie er sein schmales Werk nannte. Darin teilte er dem Freund quasi entschuldigend mit, er habe versucht, in einen deutschsprachigen Text (ex teutonico linguagio, wörtlich: Text „aus deutschem Sprachmaterial“) soviel rhetorische Kunstfertigkeit wie möglich zu legen. Für einen Gelehrten seiner Zeit, der mit seinen Kollegen sonst nur lateinisch verkehrte, war es nämlich nicht selbstverständlich, in der Volkssprache – in hoc idiomate indocili („in diesem ungelehrten Dialekt“) – zu schreiben und zu dichten. Weiter nach einer lateinischen oder gar tschechischen Urschrift zu suchen, die auch ins Gespräch gebracht wurde, erübrigt sich damit. Schade freilich, dass nur der Brief erhalten ist und nicht das urschriftliche Büchlein dazu!

Klage gegen den Tod

Verschaffen wir uns einen kurzen Überblick über das Werk. Der Libellus Ackerman ist die in 34 Kapitel gegliederte Klage eines „Ackermanns“ gegen den personifizierten Tod, der ihm seine junge Frau geraubt hat. Der Ackermann beschimpft dabei den Tod „als schädlichen Urfeind aller Welt“, als „schändlichen Mörder aller Menschen“, verflucht ihn „ewiglich“ und fordert Gott auf, ihn aus der Schöpfung zu tilgen. Der Tod nennt ihn dafür töricht, denn alle irdische Kreatur müsse notwendigerweise „zunichte“ werden.

„Klage“ ist hier, wie im Deutschen heute noch, doppeldeutig: Anklage und Wehklage. Man trennte das damals aber nicht so streng wie heute: Die persönliche Verletzung, der erlittene Schade war der Kern jeder Anklage, die noch nicht zwischen Privatrecht und Strafrecht unterschied: „Denn auf großes Leid muß große Klage folgen“, heißt es im Ackermann, „Nicht menschlich handelte ich, wenn ich solch liebliche Gottesgabe (seine Frau Margareta), die niemand als Gott allein geben kann, nicht beweinte[i] (…) Erwägt es selber, ob ich nicht mit Recht zürne, rase und klage: Von euch bin ich meines freudenreichen Lebens beraubt, um tägliche gute Lebenstage betrogen und um allen wonnebringenden Besitz gebracht.[ii]

Die strenge Form von Rede und Wechselrede des Libellus Ackerman ist dem Gerichtsprozeß entlehnt, eine im Mittelalter (und übrigens auch heute noch im amerikanischen Kino) beliebte literarische Form. Der Kläger wendet sich an Gott als den Herren des Todes, klagt diesen als Räuber an, fordert von ihm für den grausamen Raub an seiner Frau Genugtuung und Buße und verlangt quasi seine Amtsenthebung: „O Gott, aller betrübten Herzen Tröster, tröste und entschädige mich armen, betrübten, unglücklichen, vereinsamten Mann! Verhänge, Herr, Strafe, übe Vergeltung an ihm, gebiete ihm Einhalt und vertilge Ihn, den greulichen Tod, der dein und unser aller Feind ist! Herr, in deiner Schöpfung ist nichts Greulicheres, nichts Scheußlicheres, nichts Schädlicheres, nichts Herberes, nichts Ungerechteres als der Tod![iii]

Diese Sätze aus dem 15. Kapitel scheinen unerhört: Hier wird Gottes Schöpfung drastisch und wortreich kritisiert! Der Mensch fordert – im Rahmen eines Prozesses – nichts Geringeres, als dass Gott den Tod aus der Schöpfung tilgt. Aber den Regeln des scholastischen Disputs, der mittelalterlichen Philosophie nach, geht das durch: Die Rolle des advocatus diaboli, des „Teufels Anwalt“, der gegen Gottes Ordnung das Böse und Falsche verteidigt, war erlaubt – vorausgesetzt, er verliert am Ende. Es wird also interessant, zu sehen, wie der Prozeß ausgeht!

Der Tod und das Mädchen (Exlibris von Alphonse Inoue)

Der Tod hat zunächst keine Mühe, zu parieren: Er hat alle theologischen, philosophischen und rationalen Argumente auf seiner Seite: Er handle, sagt er, in Gottes Auftrag, der ihm die Erde zugeteilt habe, „dass wir alles Überflüssige ausroden und ausjäten“[iv]. Wenn alles am Leben bliebe, könnte man es bald vor Wölfen und Mücken nicht mehr aushalten, und ein Mensch fräße den anderen. Im Übrigen sei der Tod eine Folge des Sündenfalls. Er sei auch kein Räuber, sondern ein rechtlich verfahrender Richter, der alle gleich behandle, weder Adel, noch Wissen, noch Schönheit schone, auch Alter und Jugend nicht berücksichtige: „Du fragest, wer wir seien: wir sind Gottes Hand, der Herr Tod, ein gerecht arbeitender Mäher!“[v]

Der Kläger stellt sich dagegen als „Ackermann“ vor, dessen Pflug „vom Vogelkleide stammt“[vi] – also die Schreibfeder ist. Er ist also keineswegs ein Bauer, sondern ein Gelehrter. Aber mit der Selbststilisierung als Sämann, der für Leben, Wachstum und Ernährung sorgt, erhebt er sich auch metaphorisch zum Gegenspieler des tödlichen Mähers, des Schnitters Tod.

Doch hat er an Argumenten, so scheint es, nicht viel zu bieten, jedenfalls nicht philosophisch und schon gar nicht theologisch, nicht aus mittelalterlicher Sicht und auch nicht aus moderner. Am allgemeinsten ist noch sein Vorwurf, der Tod sei ungerecht, weil er immer die Falschen hole: „Eher das Tüchtige als das Untüchtige nimmt er hinweg; das Schädliche, Alte, Sieche, Unnütze läßt er oft hier, die Guten und Wackeren rafft er alle dahin.“[vii]

Doch am Ende zieht er sich immer wieder auf den Standpunkt subjektiven Leids zurück, preist die Verstorbene, beschwert sich über ihren ungerechten und allzu frühen Tod: „Mit vollem Rechte klage ich, denn sie war edel von Geburt, reich an Ehre, rüstig und an Gestalt hochgewachsener als alle ihre Gespielen.[viii] (…) Alle meine Freude ist mir vor der Zeit entschwunden; zu früh ist sie mir entschlüpft; allzu schnell habt Ihr sie mir entrissen, die Treue, die Teuere, als Ihr mich ohne Erbarmen zum Witwer und meine Kinder zu Waisen habt gemacht.[ix]

Die Verteidigung des Todes

Dem Tod fällt es da leicht, gegenzuhalten: „Besser geschwiegen, als nutzlos geredet“[x], schilt er, „Du hast nicht aus der Weisheit Brunnen getrunken: das erkenne ich an deinen Worten. Ins Wesen der Dinge hast du nicht gesehen; in die Wechselwirkung weltlicher Dinge hast du nicht gelugt; in die Verwandlung des Irdischen hast du nicht geblickt: ein täppischer junger Hund bist du[xi] (…) Töricht ist, wer die beweint, die doch sterben müssen. Füge dich! (…) Bedenke besser, du Tor, was du beklagen sollst![xii]

Danach zieht er alle Register der Lebensweisheit und Philosophie. Noch einmal betont er, dass der Tod keine Ausnahme mache: „Wenn alle menschlichen Geschlechter, die gewesen sind oder noch sein werden, müssen vom Sein zum Nichtsein kommen: Was sollte die Gepriesene, die du beweinst, vor ihnen voraushaben, dass ihr nicht geschehe wie allen andern und allen andern wie ihr? Du selber wirst uns nicht entrinnen, so wenig du auch jetzt daran denkst.“[xiii]

Dann wird er philosophisch: „Du fragst, was wir seien: Wir sind nichts und sind doch etwas. Deshalb nichts, weil wir weder Leben noch Wesen, noch Gestalt haben, nicht Geist sind, nicht sichtbar, nicht greifbar sind. Deshalb etwas, weil wir sind des Lebens Ende, des Seins Ende, des Nichtseins Anfang, eine Grenzlinie zwischen diesen beiden (…) Alle Wesen, die Leben haben, müssen verwandelt von uns werden[xiv] (…) Des Anfangs Geschwister ist das Ende.[xv]

Und außerdem sei das Leben geliehen. „Wer ausgesandt wird, hat die Pflicht, wiederzukommen (…) Was ein Mensch entlehnt, das soll er zurückgeben. Als Fremde wohnen alle Menschen auf Erden. Aus Etwas zu Nichts müssen sie werden. Auf schnellem Fuß eilt des Menschen Leben dahin; jetzt noch gelebt – im Handumwenden gestorben. In kurzen Worten zusammengefaßt: Jeder Mensch ist uns ein Sterben schuldig und es ist ihm angeerbt zu sterben[xvi] (…) Das Leben ist um Sterbens willen geschaffen; wäre das Leben nicht, so wären wir nicht, unser Amt wäre nicht; aber damit zerfiele auch der Welt Ordnung.[xvii]

Auch Kinder nimmt der Tod mit sich (mittelalterliche Darstellung)

Schließlich bietet er stoische Lebenshilfe: Der Kläger solle sich doch in das Unwiderrufliche fügen: „Sobald du etwas verloren hast und es nicht wieder erlangen kannst, so tue, als sei es nie dein Eigen gewesen.“[xviii] Er solle sich doch eine neue Frau suchen, aber bedenken, dass es keine Liebe ohne Leid gebe: „Je mehr Liebe dir wird, je mehr Leid widerfährt dir; hättest du früher auf Liebe verzichtet, so wärest du nun von Leid befreit (…) Weib, Kind, Vermögen und alles irdische Gut muß etwas Freude am Anfang und viel Leid am Ende bringen (…) Leid ist der Liebe Ende, der Freude Ende ist Trauer, nach Lust muß Unlust kommen (…) Nach solchem Ende laufen alle lebendigen Dinge hinaus[xix] (…) Laß hinfließen Liebe, laß hinfließen Leid!“[xx]

Was soll der Ackermann – was sollen wir – dagegen ernstlich einwenden? Der Ackermann, der sich eben noch als Gelehrter offenbart hat, gibt sich plötzlich intellektuell bescheiden, aber er bleibt hartnäckig bei seinem Thema: „Wie ungelehrt ich auch bin, wie wenig ich habe bei wissensreichen Meistern Weisheit gelernt, soviel weiß ich doch wohl, dass Ihr meiner Ehren Räuber, meiner Freuden Dieb, meiner guten Lebetage Entwender, meiner Wonnen Vernichter und Zerstörer alles dessen seid, was mir das Leben freudvoll und lieb gemacht hat (…) Unglücklich, einsam und leidvoll bleibe ich, ohne Entschädigung von euch zu finden; voller Ersatz könnte mir ja von euch nach so großer Missetat ohnedies nie mehr zuteil werden. Wie ist’s damit, Herr Tod, aller Leute Ehebrecher?.“ [xxi]

Tod als Verführer (Niklaus Manuel Deutsch, Fresco im Berner Dominikanerkloster)

Der Tod als Ehebrecher, der dem Mann die Frau stiehlt: ein starkes Bild! Viele Maler haben dieses Thema unter dem Titel Der Tod und das Mädchen bearbeitet. Aber hinter diesem Bild, dieser rhetorische Figur steckt mehr als eine hübsche Idee: nämlich der Anspruch des Menschen, in seinem Leiden ernst genommen zu werden und sich nicht mit philosophischen Spitzfindigkeiten, auch nicht mit theologischen Weisheiten abspeisen zu lassen: „Verwirrende Gedanken gaukelt Ihr mir vor, unter die Wahrheit mischet Ihr Falsches mir ein und wollet mir mein ungeheures Sinnenleid, Vernunftleid und Herzeleid aus den Augen, aus den Sinnen und aus dem Gemüte schwätzen. Das gelingt euch nicht, denn mich bekümmert ein so bitterer Verlust, dass ich für ihn niemals Ersatz finden kann.“[xxii]

Dem Ackermann die Ehre, dem Tod der Sieg

So geht der Tod denn schließlich auf seine Klage ein. Wenn der Ackermann so viel Aufhebens um den Verlust einer jungen, hübschen Frau mache, müsse er doch mal sagen, wie es um den Menschen in Wirklichkeit bestellt sei: „Du machst aus einem Menschen, was dir gefällt. Dennoch kann er nicht mehr sein, als ich dir sagen will – mit Verlaub aller reinen Frauen. Ein Mensch wird in Sünden empfangen, mit unreinem, abscheulichem Unflat im mütterlichen Leibe genährt, nackt und wie ein Bienenstock beschmiert geboren: ein rechtes Scheusal, ein Kotfaß, eine unreine Speisekammer, (…) ein faules Aas, (…) ein bodenloser Sack, eine löchrige Tasche (…) ein gemaltes Blendwerk.“[xxiii]

Und dann zieht er alle Register mittelalterlicher Weltverachtung und Misogynie, wobei er speziell auf die Jugend und Schönheit eingeht: „Sobald ein Mensch geboren wird, sobald ist er alt genug zu sterben. Du meinst vielleicht, das Alter sei ein edler Schatz? Nein, es ist bresthaft, mühsam, mißgestalt, kalt und allen Leuten ungefällig (…) Beklagst du weiters ihre Schönheit, so tust du kindlich; eines jeglichen Menschen Schönheit muß entweder das Alter oder der Tod vernichten. Alle rosenfarbigen Mündlein müssen mißfarben werden, alle roten Wängelein müssen bleich werden, alle lichten Äugelein müssen dunkel werden.“[xxiv]

Der Tod nimmt das eitle Mädchen mit sich (aus dem Basler Totentanz, 15. Jahrhundert)

Er habe deshalb der jungen Frau, als er sie hinwegnahm, nur einen Gefallen getan: „Ihr ist nur freundlich und gnädig geschehen: bei fröhlicher Jugend, bei herrlichem Leib, (…) in besten Ehren, (…) mit unbeflecktem Rufe haben wir sie in unsere Gnade aufgenommen. Solches haben gepriesen, danach haben begehret alle Weisen, als sie sprachen: ‚Am schönsten gestorben, wenn am schönsten gelebt.'“[xxv]

Auch am Eheleben läßt der Tod kein gutes Haar: „Sobald ein Mann ein Weib nimmt, sobald ist er zu zweit in unserem Gefängnis. Sogleich hat er einen Hemmschuh, (…), ein Joch, (…) eine schwere Last, einen Fegeteufel, eine tägliche Rostfeile, die er auf rechtliche Weise nicht loswerden kann, solange wir ihm nicht unsere Gnade erweisen. Ein beweibter Mann hat Donner, Hagel, Füchse, Schlangen alle Tage in seinem Hause. (…) Siech zur Arbeit, gesund zur Wollust, zahm und wild ist sie, wie sie es braucht. (…) Dies ist ihr zu süß, das ist ihr zu sauer; dies ist zuviel, das ist zu wenig; nun ist es zu früh, nun ist es zu spät – so wird alles getadelt. (…) Der Ärger der Nacht sei dabei ganz verschwiegen; unseres Alters wegen schämen wir uns davon zu sprechen.“[xxvi]

Hans Thoma, LIebespaar mit Amor und Tod, 1877

Damit aber kommt er dem Ackermann gerade recht: Dieses Menschen- und Frauenbild will er nicht gelten lassen! „Pfui, Ihr böser Schandsack! Wie verkleinert, mißhandelt und verunehrt Ihr den edlen Menschen, Gottes allerliebstes Geschöpf, und schmäht damit auch die Gottheit! (…) Wärt Ihr in dem Paradiese entstanden, so wüßtet Ihr, dass Gott den Menschen und alle Dinge vollkommen gut erschaffen hat und den Menschen über sie alle gesetzt hat (…) Engel, Teufel, Schrätlein …, das sind Geister in Gottes Zwangherrschaft. Der Mensch aber ist das allerachtbarste, das allergeschickteste und allerfreieste Werkstück Gottes. Ihm selber gleich hat es Gott gebildet … Der Mensch allein hat die Vernunft empfangen, den edlen Schatz; er ist allein der liebliche Körper, dem gleich niemand etwas verfertigen kann als Gott allein … Gebt den Streit auf, Herr Tod! Ihr seid des Menschen Feind; darum sprecht Ihr nichts Gutes von ihm.“[xxvii]

Auch die Eheschelte läßt er nicht gelten: „Man sage, was man wolle: wenn Gott mit einem reinen, züchtigen und schönen Weibe begabt, so heißt die Gabe Gottesgabe und ist eine Gabe, wertvoller als alle irdische, äußerliche Gabe.[xxviii] (…) Euer unvernünftiges Frauenlästern, Herr Tod, gereicht euch wahrlich zur Schande und den Frauen zur Scham. (…) Ein züchtiges, schönes, keusches und in Ehren beständiges Weib ist mehr als alle irdische Augenweide. So mannhaften Mann sah ich nie, der sich recht mutig erwies, ohne dass er durch Frauenhilfe gelenkt wurde. (…) Rechte Sitte und Ehre lehren die edlen Frauen in ihrer Schule (…) Einer reinen Frau Fingerdrohen ermahnt und bestraft einen wackern Mann mehr als alle Waffen. Ohne Schönfärbung kurz gesagt: Aller Welt Stütze, Befestigung und Förderung sind die edlen Frauen.“[xxix]

Gott entscheidet den Streit zwischen dem Ackermann und dem Tod (Holzschnitt 1763)

Dagegen fällt nun wiederum dem Tod nichts Rechtes mehr ein: Er zieht sich seinerseits zurück auf die Unausweichlichkeit des Sterbens, gegen das kein Kraut gewachsen sei, keine Kunst etwas ausrichte, und ruft Gottes Urteil an. Dessen Schiedsspruch ist relativ kurz und salomonisch. Beide hätten recht und unrecht zugleich: „Jener beklagt den Verlust dessen, was nicht sein ist, dieser rühmt sich einer Herrschaft, die er nicht von sich selbst hat. Freilich ist der Streit nicht ganz ohne Sinn; und ihr habt beide wohl gefochten. Jenen zwingt sein Leid zu klagen, diesen die Anfechtung des Klägers, die Wahrheit zu sagen. Darum, Kläger, dir sei alle Ehre; Tod, du siege! Jeder Mensch ist verpflichtet, dem Tode das Leben, den Leib der Erde, die Seele uns zu geben.“[xxx]

Rhetorische Stilübung

Wie kommt Johannes von Saaz dazu, eine „Schmähschrift gegen das unvermeidliche Schicksal des Todes“ (inveccio contra fatum mortis inevitabile) – wie er sein Werk in dem erwähnten Brief nennt – zu verfassen? Der Ackermann beklagt darin den Tod seiner jungen Frau Margareta, die am 1. August 1400 im Kindbett gestorben sei. Diese genaue Angabe hat zur Vermutung geführt, dass Margareta keine literarische Figur ist, sondern die Frau des Autors. Der Ackermann gibt sich ja, wie wir hörten, als Gelehrter zu erkennen, dessen Arbeitsgerät wie das des Autors die Schreibfeder ist. Was liegt näher, als den Ackerman libellus als autobiographische Verarbeitung übermächtiger Trauer zu nehmen?

Das Problem ist, dass eine Ehefrau namens Margareta für Johannes von Saaz nicht belegt ist. Das könnte freilich eine Fundlücke sein. Doch wir werden später sehen, welche Bewandtnis es mit diesem Namen vermutlich hat. Auch im Brief an Rothers ist von persönlicher Betroffenheit nicht die Rede. Stattdessen bezeichnet Johannes sein Werk bescheiden als rhetorische Stilübung. Um solch ein rhetorisches „Stückl“ hatte Rothers, so kann man auf Grund des Briefes vermuten, den Freund gebeten.

Rhetorik war damals groß in Mode. Die Begeisterung dafür hatte Petrarca aus Italien nach Böhmen gebracht – auch er ein gelernter Jurist, darüber hinaus Dichter, Gelehrter und Diplomat. 1356 kam er als Gesandter der Mailänder Visconti an den Prager Hof Karls IV., wo Johannes von Neumarkt seit zwei Jahren Kanzler war. Wir denken bei Rhetorik heute an mehr oder minder nutzlose sprachliche Verzierungen, auch an Polemik und betrügerische Verführung. Und tatsächlich kommt uns vieles im „Ackermann“, insbesondere seine Schimpferei auf den Tod, arg übertrieben, eben „rhetorisch“ vor. Rhetorik hatte in der Renaissance aber einen ganz anderen Stellenwert als heute: Sie galt nicht bloß als sprachliche Verzierung, sondern war in Ciceros Sinne eine ars movendi: die Kunst, seelische Bewegungen hervorzurufen und damit die Welt selbst in Bewegung zu setzen. Petrarcas Anschauung von Wert, Würde und Macht der Sprache wurde zu einem entscheidenden Merkmal des Humanismus.

Saazer Stadtchronik mit Einträgen des Stadtschreibers Johannes von Saaz

Über Johannes von Neumarkt kam Johannes von Saaz möglicherweise in Berührung mit diesen neuen Ideen. Im Saazer Stadtbuch finden wir – sogar an zwei Stellen eingeschoben – eine „Empfehlung der Rhetorik“ (Commendacio grammtice), die wahrscheinlich von Johannes selbst stammt. Wie alle seine Einträge in die Stadtchronik ist sie lateinisch verfaßt. Dort heißt es unter anderem: „Durch sie (die Rhetorik) werden nämlich Gottes Wohltaten dem Gedächtnis der Menschen auf ewig überliefert, werden Freunde angeleitet, Feinde abgeschreckt und unterdrückt, Gesetze gestärkt, Traurige getröstet, Unbarmherzige besänftigt – kurz gesagt: durch sie wird alles Gute in der Welt machtvoll und heilbringend gestärkt.“

Lob des Lebens und des Menschen

Die göttlichen Wohltaten ins rechte Licht rücken: Das tut Johannes tatsächlich in seinem „Ackermann“, doch ist das Werk weit mehr als eine bloße rhetorische Stilübung. Hinter der vielleicht kalkulierten Bescheidenheit des Autors verbirgt sich ein für das damalige Denken geradezu revolutionäres Weltbild. Das ist heute nicht ohne weiteres zu erkennen. Vieles wirkt mittelalterlich-konventionell, insbesondere der etwas flaue Schiedsspruch Gottes am Ende. Das darauf folgende Gebet des Ackermanns für die Seele seiner Frau paßt zu diesem Eindruck. Vergegenwärtigt wir uns deshalb noch einmal die Hauptargumente der Streitenden:

Der Tod vertritt weitgehend einen stoischen Skeptizismus hinsichtlich der menschlichen Natur, wie ihn die Kirche seit alters lehrte, um die Seele vor den Verführungen der Welt zu bewahren, sie im Leid zu trösten und aufs Jenseits vorzubereiten. Gott spricht ihm den Sieg zu, aber es ist ein ehrloser Sieg, sozusagen ein „Arbeitssieg“ in dem, was er von Natur aus tun muß. Die Antwort des Ackermann auf den contemptus mundi, die mönchische „Weltverachtung“, ist das Lob des Lebens und des Menschen – insbesondere der Frau – als Schöpfung Gottes. Er besteht darauf, dass ein glückliches, erfülltes Leben auf Erden möglich ist, insbesondere in Form des Ehelebens: Die Spitze gegen den ehelosen Mönchs- und Priesterstand ist hier unüberhörbar. Gott aber, so wie Johannes von Saaz ihn urteilen läßt, gibt eben dieser Position die Ehre: Man wird sie später als Humanismus bezeichnen.

Bemerkenswert ist auch, welche traditionellen Argumente und Themen in dem Streitgespräch nicht oder nur am Rande vorkommen oder aber vom Ackermann besonders angegriffen werden. Die Zeitgenossen waren fasziniert vom Bild des „Totentanzes“, auf dem Vertreter aller Stände als Totengerippe beim Reigen zu sehen sind. Es war als Memento mori-Warnung an die Reichen und Mächtigen gedacht. Johannes erweist ihm Referenz in der Rechtfertigung des Todes, er mache keine Unterschiede, er sei ein gerechter Mäher. Doch der Ackermann läßt das nicht gelten: „Ihr sagt, Eure Sense haue ohne Wahl. Wie kommt es denn dann, dass sie mehr Disteln als gute Blumen, mehr falsche als echte Kamillen, mehr böse Leute als gute unversehrt läßt?“[xxxi]

Totentanz mit Kaiser und Papst, Basel 1431-1440 (Ausschnitt)

Ein weiteres großes Thema war die Ars moriendi, die „Kunst des Sterbens“: Man verstand darunter die Organisation des Lebens als Vorbereitung auf den Tod, der jederzeit zu erwarten war, als fromme Zurüstung auf das Jenseits, wo einen das wahre Leben erwartete. Der Tod erwähnt zwar die Gastrolle des Menschen auf Erden, doch verzichtet er auf die üblichen Versprechungen vom Leben im Jenseits. Der Ackermann aber spricht nur von den Wonnen und der Vollkommenheit des irdischen Daseins, die ihm der Tod geschmälert hat.

Der Sündenfall als Ursache für den Tod in der Welt wird zwar erwähnt, aber nicht weiter thematisiert. Im Gegenteil, der ständige Hinweis des Ackermanns auf die Tugendhaftigkeit der Verstorbenen zielt unmittelbar auf diese theologische Rechtfertigung des Todes. Dass der Tod der jungen Frau aber eine gerechte Strafe für den Ehemann sein könnte, fällt nicht mal dem Tod ein! Über einen anderen theologischen Zentralbegriff macht sich der Ackermann regelrecht lustig – die Gnade: „Solche Guttat, wie Ihr sie beweist den Menschen, solche Gnade, wie sie die Menschen von euch empfangen, (…) schicke euch der, der Gewalt hat über Leben und Tod!“[xxxii]

Johannes lässt, wie es zu einer guten Drehbuch gehört, dem Tod nicht nur schlechte Argumente, sondern legt ihm auch gute in den Mund – vor allem den nötigen Hinweis auf das ökologische Problem der Unsterblichkeit: „Hätten wir von des ersten lehmgeformten Mannes Zeit an die Leute auf Erden, die Tiere und das Gewürm … nicht ausgerodet: vor kleinen Mücken könnte es heute niemand aushalten, vor Wölfen getraute sich heute niemand auszugehen; es würde fressen ein Mensch den andern, … die Erde würde ihnen zu eng.“ Auch das ist freilich ganz innerweltlich gedacht, das Jenseits bleibt außen vor.

Als Gegenspieler des tödlichen Mähers, des Schnitters Tod, läßt Johannes einen Säer antreten, einen Ackermann, der die Saat auf den Acker bringt und für das Wachsen der Frucht sorgt. Es sind also Leben und Tod, Welt und Jenseits, die gegeneinander argumentieren. Während der Tod die Welt eitel nennt und den Menschen denunziert, besteht der Ackermann darauf, „dass Gott den Menschen und alle Dinge vollkommen gut geschaffen hat“. Er erkennt Gottes Wohltaten nicht im Paradies, sondern im Leben auf Erden, im Menschen selbst, und entwirft somit ein ganz neues Bild vom Mensch in der Welt und vor Gott. Darin ist der Tod ist kein Sündenlohn mehr, keine verdiente Strafe, keine gnädige Heimholung ins ewige Paradies, überhaupt kein theologisch zu rechtfertigendes Ereignis, eher im Gegenteil ein Webfehler in der Schöpfung – gleichwohl eine vernunftsmäßig zu akzeptierende innerweltliche Wirklichkeit, eine biologische Notwendigkeit. Gott erhält die menschliche Seele, deren Schicksal außerhalb der Diskussion bleibt. Leib und Leben aber sind Erde und Tod überantwortet.

Gleichnis vom Sämann (Hortus Deliciarum, Ende 12. Jahrhundert)

Volkssprachliche Literatur für das Bürgertum

Es ist dieses frühe humanistische Weltbild, das den libellus Ackerman berühmt gemacht hat. Aber noch in anderen Hinsicht ist er wegweisend: in seiner Volkssprachlichkeit. Auch diesbezüglich haben Johannes von Neumarkt und sein Kreis zu seinem Entstehen beigetragen. Unter Kaiser Karl IV., einem Luxemburger, dessen Mutter eine Přemysl war, also aus dem alten tschechischen Königsgeschlecht, wurde Deutsch als Sprache der Reichskanzlei in Prag eingeführt. Das ging nicht gegen die Tschechen, denn Karl war sehr um einen Ausgleich zwischen den Interessen der beiden Sprachgemeinschaften in Böhmen bemüht. Vielmehr ersetzte Deutsch das Lateinische, das nur Gelehrte verstanden. Früher war jeder, der lesen konnte, ein Gelehrter, aber das hatte sich geändert: Bürgertum und Landadel konnten jetzt wohl lesen und schreiben – aber nicht unbedingt auch lateinisch!

Johannes von Neumarkt besorgte für diese Bürgerschicht eine Reihe von deutschen Prosaübersetzungen lateinischer Werke, nach dem Vorbild der italienischen Frühhumanisten. Er war dabei nicht der Einzige, und dies geschah nicht nur in Böhmen. Dass es aber auch in Böhmen passierte, zeigt, wie bedeutend das deutsche Bürgertum dort war. In Saaz, schreibt Ivan Hlaváček, hätte im 14. Jahrhundert „der tschechische Anteil an der ursprünglich deutschen Bevölkerung“ zugenommen – das heißt, dass Saaz eine deutsch geprägte Stadt war. Es gab dort deutsche Bürgermeister und deutsche Stadtschreiber. Für die gebildeten Bürger also schrieb der Stadtschreiber Johannes nun den libellus Ackerman – den ersten neuhochdeutschen Text, der keine Übersetzung oder Nachdichtung einer lateinischen Vorlage war.

Der Ackermann als Welterklärer (Miniatur aus William Langland, Piers Plowman, 2. Hälfte 14.Jahrhundert).

Natürlich hat sich Johannes von anderen Werken anregen lassen, z. B. vom Tractatus de crudelitate mortis („Abhandlung über die Grausamkeit des Todes“), von dem wir wissen, dass er in seinem Besitz war. Auch in diesem Text besteht der Tod gegenüber einem advocatus mundi („Anwalt der Welt“) darauf, ein Organ des göttlichen Willens zu sein; aber in vielen anderen Argumente weicht er vom „Ackermann“ ab. Die dialogische Struktur, ja sogar der Titel erinnert weiters an William Langlands berühmtes Gedicht Piers Plowman, was „Peter Ackermann“ heißt – auch dies volkssprachliche Literatur mit großem Wirkungsgrad. Eine andere Traditionslinie führt nach Frankreich zu den literarischen Complaintes funèbres („Totenklagen“), in denen ebenfalls lamentatio und accusatio, die Klage über den Tod und die Anklage des Todes, verbunden sind. Eustache Des­champs, der Autor einer gereimten „Klage über den Tod einer tugendhaften und gläubigen Frau“ (Complainte de la mort d’une vaillante femme et religieuse) lebte gleichzeitig mit Johannes von Saaz. Die beklagte Frau darin heißt – Marguerite. Kein seltener Name, so dass man von Zufall sprechen kann. Oder hat unser Johannes sie doch als Vorbild für seine Margareta genommen?

Die Thematik und die literarische Form des „Ackermann“ lagen also in der europäischen Luft. Dabei kam in Böhmen natürlich nicht nur die deutsche Sprache zu literarischen Ehren, sondern auch die tschechische. Wenige Jahre nach dem „Ackermann“ entstand eine ganz ähnliche tschechische Dichtung, der Tkadleček („Das Weberlein“) aus der Feder eines sonst unbekannten Ludvik. Darin klagt der von seiner Geliebten verlassene Weber in hohem rhetorischen Stil das grausame Schicksal an und hebt dabei das eher komödienhafte Thema auf die philosophische Ebene von menschlichem und göttlichem Willen. In Struktur und Argumentation lehnt sich Ludvik stark an Johannes von Saaz an. Josef Vintr zufolge bezeugt „das Kunstwerk mit vielschichtiger, meist noch nicht entschlüsselter Allegorie und einem wirksamen kompositorischen Gegensatz zwischen emotionsgeladenen und philo­sophierenden Passagen das hohe Niveau der Kunstrezeption unter den vor­hussitischen tschechischen Intellektuellen“.

Nationalistisches Missverständnis

„Der Ackermann aus Böhmen“ ist aus zwei Gründen bedeutend: Es handelt sich um die erste neuhochdeutsche Prosadichtung und um einen der frühesten humanistischen Texte nördlich der Alpen. Der Grund für seinen zeitgenössischen Ruhm und seine explosionsartige Verbreitung ist eben darin zu suchen. Der Autor hat von diesem Ruhm allerdings nicht mehr profitiert. Es scheint so, als habe er sich bemüht, seine Schrift unter die Leute zu bringen, und mit Peter Rothers und dessen Beziehungen zum Hof hatte er zweifellos einen geeigneten Multiplikator als Freund. Aber größere Erfolg hatte das Werk erst ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod. Möglicherweise waren daran die hussitischen Unruhen schuld. Aus den Jahren zwischen 1450 und 1550 sind 16 Handschriften und 15 Drucke überliefert. Berücksichtigt man, dass diese gewiss nur einen Bruchteil der verbreiteten Exemplare repräsentieren, wird klar, dass Johannes von Saaz mit seinem Text einen Nerv der Zeit getroffen haben muß.

Aber vielleicht hätte der Ruhm des Ackermann-Büchleins unser Jahrhundert überhaupt nicht erreicht,  wenn das „Erwachen“ der Volkssprachen im 14. Jahrhundert von späteren Generationen nicht nationalistisch gedeutet worden wäre. Dabei hat man offensichtlich übersehen, dass es bereits seit dem Frühmittelalter volkssprachliche Literatur gibt, jedenfalls im deutschen, englischen und französischen Sprachraum. Der Unterschied zum Spätmittelalter war freilich, dass es sich bei den früh- und hochmittelalterlichen Dichtungen um Literatur für ein weitgehend illiterates adeliges Publikum handelte, die zwar aufgezeichnet, aber nicht gelesen, sondern in öffentlichem Vortrag angehört wurde. Die Handschriften – und bald auch Druckschriften – des 15. Jahrhunderts wurden dagegen von Adeligen und Bürgerlichen tatsächlich im stillen Kämmerlein gelesen. Ohne die Literarisierung und Verbürgerlichung der Bildung, von der auch die religiösen und politischen Bewegungen wie etwa der Hussitismus mit ihren Flugschriften profitierten, ist der Siegeszug des Buchdrucks überhaupt nicht zu denken. An dieser Erfolgsgeschichte hat auch der libellus Ackerman teil.

Mit Nationalbewusstsein hat das alles nichts zu tun: Die volkssprachlichen Texte, ob als Dichtung, Chronik oder Urkunde, dienten dem Bildungshunger und dem politischen Mitbestimmungswillen von Bürgertum und Landadel – nicht der Selbstversicherung nationaler Identität oder gar der feindlichen Abgrenzung gegen andere Nationalitäten. Politische und religiöse Schriften wurden, um breite Wirkung zu erzielen, schnell in andere Volkssprachen übersetzt, z. B. die hussitischen Flugblätter vom Tschechischen ins Deutsche. Dass nicht nationale Gegensätze das 15. und 16. Jahrhundert bestimmten, sondern religiöse und politisch-revolutionäre, zeigt der Einsatz des deutschen Bürgertums von Saaz für die hussitische Sache. Wie lang diese Treue anhielt (oder jedenfalls in Erinnerung war), belegt der lateinische Vers des Prager Hofdichters Jiří Carolides von Karlsberg (gestorben 1612), der heute noch das Saazer Priestertor ziert: Darin ermahnt er die Saazer, „Gottes unbewegliches Wort“ (Jovae immobile verbum) zu bewahren – also keine ketzerischen Veränderungen am katholischen Glaubensdogma zuzulassen.

Der ehemalige Ackermannplatz in Saaz an der Dekanatskirche

Den nationalen Kult, den die Sudentendeutschen seit dem ersten Weltkrieg um Johannes von Saaz und den „Ackermann aus Böhmen“ aufführten, muß deshalb ein großes Missverständnis genannt werden. 1924 etwa bezeichnete Josef Nadler dieses Werk als „größte und schönste Schöpfung des mitteldeutschen Siedlungslandes und des ganzen neudeutschen Ostraumes“. In der Folge wurde der „Ackermann“ zum Identifikationstext der so genannten „Grenzdeutschen“. 1933 wurde in Karlsbad die Zeitschrift „Der Ackermann aus Böhmen. Monatschrift für das geistige Leben der Sudetendeutschen“ gegründet: Darin wird der Ackermann als deutscher Mensch gefeiert, der sich gegen das Schicksal auflehnt – gedacht wurde dabei natürlich auch an das aktuelle Schicksal der Deutschen in der Tschechoslowakei. Die Tschechen reagierten 1945 auf diese Politisierung des „Ackermann“, indem sie die erst 1921 angebrachte deutsche Gedenktafel für Johannes von Saaz von der Stirnwand des Rathauses entfernten.

Heute wissen wir, daß eine nationale Vereinnahmung des Johannes von Saaz und seines Libellus Ackerman nicht nur anachronistisch, sondern auch in anderer Hinsicht abwegig ist. Der Einfluss auf Form und Gedankenwelt dieses Werks ist europäisch, wie wir gesehen haben. Es spiegelt diese europäische Gedankenwelt und bündelt sie wie in einem Brennglas. Es war vielleicht sogar seiner Zeit etwas voraus oder vielmehr: Es kam gerade zur rechten Zeit. Eine besondere deutsche Kultur oder gar ein Nationalcharakter ist darin nicht zu erkennen. Also kann es auch nicht ein „Buch der Deutschen“ sein, sondern nur ein Buch der Europäer und der Menschen. Als Deutsch-Böhmen oder deren Nachkommen mögen wir uns freuen, dass ein Landsmann dieses Juwel des Humanismus vor über 600 Jahren mit seinem Gänsekiel, dem „Pflug vom Vogelkleid“, auf Papier gekratzt hat. Dabei sollten wir es belassen. Bücher gehören allen, die sie lesen, nicht einzelnen Völkern. Wenn es anders wäre, hätte der Humanismus des Johannes von Saaz versagt.

Anmerkungen: [i] Kap. 7, [ii] Kap. 3, [iii] Kap. 15, [iv] Kap. 8, [v] Kap. 16, [vi] Kap. 3, [vii] Kap. 15, [viii] Kap. 7, [ix] Kap. 13, [x] Kap. 14, [xi] Kap. 10, [xii] Kap. 8, [xiii] Kap. 10, [xiv] Kap. 16, [xv] Kap. 20, [xvi] Kap. 20, [xvii] Kap. 22, [xviii] Kap. 22, [xix] Kap. 12, [xx] Kap. 24, [xxi] Kap. 13, [xxii] Kap. 11, [xxiii] Kap. 24, [xxiv] Kap. 20, [xxv] Kap. 14, [xxvi] Kap. 28, [xxvii] Kap. 25, [xxviii] Kap. 9, [xxix] , Kap. 29, [xxx] Kap. 33, [xxxi] Kap. 17, [xxxii] Kap. 13