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Zur Tausendjahrfeier der Stadt Saaz 2004

Von Herbert Voitl | Rede im Saazer Rathaus vor tschechischen und deutschen Gästen

Professor Voitl bei seiner Rede im Saazer Kulturhaus anlässlich der Millenniumsfeier am 12. September 2004 (Foto: ZATECsetkani)

Professor Voitl bei seiner Rede im Saazer Kulturhaus anlässlich der Millenniumsfeier am 12. September 2004 (Foto: ZATECsetkani)

Ich stehe vor Ihnen als Vertreter (Vorsitzender) des deutschen Vereins „Kulturkreis Saaz e. V.“, der in Roth bei Nürnberg ansässig ist und der seit rund vier Jahren im Gespräch ist mit der hiesigen tschechischen „Vereinigung der gebürtigen Saazer und Freunde der Stadt“ (SRPMŽ), mit der wir eine langfristige partnerschaftliche Zusammenarbeit unter dem Titel „Saazer Weg„verabredet haben und durchzuführen versuchen. Das jüngste Projekt in diesem Programm war gestern eine Vortrags- und Gesprächsserie über Themen aus der Geschichte der Stadt Saaz (drei von der deutschen, drei von der tschechischen Seite, alles in beiden Sprachen). Den Antrag auf Mittel dafür beim Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds hatten wir satzungsgemäß gemeinsam mit der RPMŽ zu stellen. Herr Šimáček, Vorsitzender des RPMŽ, hatte die nicht geringe Mühe, als örtlicher Organisator und Veranstalter in Prag tätig zu sein. Dafür, wie auch für die komplizierte und gelungene Organisation des heutigen Tages in Saaz möchte ich ihm, auch im Namen der anwesenden deutschen Saazer und Saazerinnen, herzlich danken.

Deutsche Saazer und Saazerinnen, das sind also einige von den Menschen mit deutscher Muttersprache, die in Saaz und den Gemeinden des damaligen Bezirkes Saaz geboren wurden, dort wohnten und lebten, die weit überwiegende Bevölkerungsmehrheit von zuletzt rund 80 Prozent bildeten und dann, sofern sie die Saazer und Postelberger Anarchie von 1945 überlebten, fast ohne Ausnahme enteignet und aus der Heimat vertrieben wurden. Sie leben seitdem größtenteils in Deutschland, teils auch in Österreich und anderen Ländern. Es leben heute noch mehrere tausend von ihnen, jedoch können nur noch die jetzt mindestens 65 Jahre alten Menschen persönliche, emotionale Erinnerungen an die alte Heimat haben. So erklärt es sich schon aus Gründen des Alters, der Gesundheit, der Reisefähigkeit, dass die von uns geplante Delegation nur relativ klein ausgefallen ist; denn bei den Jüngeren, die sich zwar zum Teil auch für die Heimat sehr interessieren, sie aber als solche nicht mehr erlebt haben, war der Reiz, zu einem solchen Fest zu fahren, naturgemäß gering.

Den Entschluss, zum Millennium nach Saaz zu fahren, hat mancher von uns gewiss nur mit gemischten Gefühlen gefaßt, nicht zuletzt wegen der in den letzten Monaten eingetretenen enttäuschenden Rückschläge in der hohen Politik. Aber da waren wir uns mit unseren Partnern vom SRPMŽ seit langem einig, dass diese „großen“ Themen nicht auf die lokale Ebene gehören, auf der wir unsere Zusammenarbeit gestalten. Bei den „großen“ Themen wird es wohl auf allen Seiten erst dann Ruhe geben, wenn endlich einmal die internationalen Gerichte vielleicht ihr endgültiges Wort gesprochen haben werden. Vorerst aber sollten wir, so jedenfalls die bei uns vorherrschende Meinung, am unbedingten Willen zum weiteren Ausbau friedlichen Zusammenlebens beider Nationen festhalten, und dieser Wille bildet ja auch die Grundlage unserer – mit dem SRPMŽ – gemeinsamen Arbeit an der Festigung der zwischenmenschlichen Beziehungen in der gemeinsamen Heimatstadt, einer Arbeit, an der seit einem Jahr auch der ebenfalls in Deutschland neu gegründete „Förderverein Saaz“ tatkräftig teilhat.

Ein wenig Beklemmung vor dem Entschluss, die Reise zum Saazer Millennium anzutreten, mag mancher von uns auch empfunden haben bei dem für uns kaum abweisbaren Gedanken, dass wir hier sozusagen einem Schauspiel beiwohnen sollen, bei dem wir nur Zuschauer und nicht selbst die Darsteller sein können. Es kommt die Frage auf: Wer gratuliert bei diesem Geburtstag eigentlich wem und wofür? Unbeschwert von solchen weittragenden Gedanken bleibt aber, glaube ich, auch für uns ein Kern reiner Festfreude: unser aller Dank an Gott dafür, dass er diese unsere schöne Stadt hat schon so früh entstehen und so lange leben und überleben lassen!

Trotz aller Bedenken erschien es aber doch aus einem Grund dringend wünschenswert, dass eine nicht zu geringe Delegation vertriebener gebürtiger Saazer zustande kommt und hier Präsenz zeigt. Denn es war dieses große Ereignis für uns vielleicht die letzte Gelegenheit, der Jugend und den jüngeren Generationen der heutigen Saazer, die in der Schule von der deutschen Vergangenheit von Saaz, der Vertreibung und den Morden von Postelberg bis vor kurzem gar nichts oder nur Falsches gehört hatten, ein wenig näherzubringen, dass es uns überhaupt gibt. Die seit 1945, und natürlich verstärkt seit 1948, anhaltende gesteuerte Politik des Verheimlichens und Verschweigens hatte das Ziel, den deutschen Anteil an der Geschichte von Saaz in den Gedächtnissen – nicht nur des tschechischen Volkes – ganz zu löschen. Dieser noch bis weit in die 1990er Jahre anhaltenden Tendenz friedlich und korrigierend entgegenzuwirken, betrachten wir als unsere dringendste Aufgabe, denn wir können nicht untätig zulassen, dass man uns nach der Vertreibung aus der Heimat auch noch aus unserer Geschichte vertreibt. Dabei unterstützten uns unsere Partner vom SRPMŽ von Anfang an; so vor zwei Jahren, als sie uns die Kranzniederlegung im Postelberger Fasanengarten ermöglichten und wir für das Thema bei der folgenden Pressekonferenz einen ersten größeren Durchbruch erzielten. Seither beginnt, nach fast sechzig Jahren, die unwürdige Mauer des Schweigens in den Medien mehr und mehr zu bröckeln.

Ein in diesem Sinne erfreuliches Ereignis, genau im Jahre des Millenniums und von der Stadt Saaz unterstützt, ist das Erscheinen eines stattlichen, 500 Seiten starken Buches mit dem Titel „Žatec“, einer Darstellung der Geschichte der Stadt Saaz. Ich habe es erst vor wenigen Tagen in die Hand bekommen und noch nicht ganz und noch nicht gründlich lesen können, kann aber – mit allem Vorbehalt für Einzelheiten – schon jetzt sagen, dass hier ein unerwartet großer, ehrlicher Schritt in der erhofften Richtung getan worden ist; hier wird versucht, aus dem gewohnten Versteckspiel, aus den gewohnten Halbwahrheiten vor allem über die Zeit seit dem Ersten Weltkrieg bis heute, ganze Wahrheiten zu machen. Hier drängt sich das vielzitierte Wort von T. G. Masaryk auf: die Wahrheit beginnt (also doch allmählich) zu siegen, wenn auch vorerst nur auf dem Papier von – wohl meist jungen – Historikern. Das Buch verdient eine schnelle Übersetzung ins Deutsche, weil es – nicht nur – für die Saazer Deutschen lesenswert ist und zur weiteren Befriedung der Verhältnisse beitragen kann.

Mit dieser erfreulichen Bemerkung schließe ich und wünsche uns allen, dass wir diesen für Saaz großen Tag mit Stunden unbeschwerter Freude beschließen und dem Ziel des „Saazer Weges“ ein Stück näherkommen, das der leider verstorbene Jaroslav Venclík bei seiner deutschen Ansprache in Roth 2001 trefflich formuliert hat: „würdiger Ausgleich“ (důstojné vyrovnání).

Anmerkung der Redaktion:
Für das Symposion anlässlich der Tausendjahrfeier der Stadt Saaz gab es leider in Saaz keinen geeigneten Saal. Stattdessen fand es am 10. September 2004 im Prager Waldsteinpalais (Senatsgebäude) mit Simultanübersetzung vor großem Publikum statt. Thema war das tausendjährige tschechisch-deutsche Zusammenleben in politischer und kultureller Hinsicht. Senatspräsident Petr Pithart sprach als Gastgeber die Einführungsworte. Zwei Vorträge von deutscher Seite veröffentlichen wir hier:

Andreas Kalckhoff: Johannes von Saaz und sein „Libellus Ackerman“
Alfred Klepsch: Der Saazer Dialekt

Johannes von Saaz und sein „Libellus Ackerman“

Von Andreas Kalckhoff | Vortrag im Rahmen der Saazer Gespräche anlässlich der Tausendjahrfeier im Prager Senatsgebäude (Waldsteinpalais) am 10. September 2004

Die erste neuhochdeutsche Prosadichtung

Der Ackermann aus Böhmen beklagt den Tod seiner Frau (Holzschnitt, vor 1480)

Der Ackermann aus Böhmen beklagt den Tod seiner Frau (Holzschnitt, vor 1480)

Zwei der für die deutsche Literatur bedeutendsten Dichter stammen aus Böhmen: Franz Kafka – und der Autor des „Ackermann aus Böhmen“, Johannes von Saaz, der in den lateinischen Quellen abwechselnd als Iohannes Tepla und Iohannes de Sitbor erscheint. Im westböhmischen Schüttwa (Šitboř) im ehemaligen Bezirk Bischofteinitz ist er wahrscheinlich geboren, im nordböhmischen Tepl, wo es eine Lateinschule gab, aufgewachsen, doch die meiste Zeit seines Lebens hat er in Saaz verbracht. Er hat studiert, auf jeden Fall auch Rechtswissenschaft, und den Magistertitel erworben. Man vermutet, daß er Beziehungen zur Prager Hofkanzlei hatte, mit großer Wahrscheinlichkeit zu Johannes von Neumarkt, der zwanzig Jahre lang der Kanzler Kaiser Karls IV. war. Er wird sogar als sein Schüler bezeichnet, obwohl ein direkter Kontakt zwischen Johannes von Neumarkt und Johannes von Saaz nicht nachweisbar ist.

Johannes von Neumarkt, von dem wir noch mehr hören werden, war bis 1374 als Kanzler im Amt. Im Jahr darauf ist unser Johannes erstmals in Saaz urkundlich. Es wäre denkbar, dass er zuvor in der Prager Hofkanzlei tätig war. Spätestens seit 1383 war er Stadtschreiber und Notar in Saaz (civitatis notarius), denn in diesem Jahr legte er das Saazer Stadtbuch an, ursprünglich eine Urkundensammlung, später auch mit erzählenden Einträgen. Außerdem war er Leiter der Saazer Lateinschule (rector scolarum). 1411 – also nach über 35jähriger Tätigkeit – gab er seine Ämter in Saaz auf, um in der 1348 gegründeten Prager Neustadt erster Notar und Stadtschreiber zu werden. Zwei Jahre später – 63jährig oder älter – erkrankte er schwer und starb zwischen Juni 1414 und April 1415. Er hinterließ fünf Kinder und eine Witwe namens Clara.

Johannes von Saaz hat außer dem berühmten Prosatext „Der Ackermann aus Böhmen“ als dichterisches Werk nur noch einige deutsche Verse hinterlassen. Die Formelbücher, die er verfaßt hat – es handelt sich dabei um Musterbriefsammlungen –, sind seiner Stadtschreibertätigkeit zuzuordnen. Es fällt deshalb schwer, betrachtet man seine Lebensleistung, ihn als Dichter zu bezeichnen. Aber zwischen Kunst und Wissenschaft wurde damals noch nicht so streng unterschieden wie heute.

„Der Ackermann aus Böhmen“ ist aus zwei Gründen bedeutend: Es handelt sich um die erste neuhochdeutsche Prosadichtung und um einen der frühesten humanistischen Texte nördlich der Alpen. Sein zeitgenössischer Ruhm hatte freilich andere Gründe, über die zu sprechen ist. Der Autor hat von diesem Ruhm nicht mehr profitiert, denn größere Verbreitung fand das Werk erst ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod – daran waren zu einem Gutteil die hussitischen Unruhen schuld. Aus den Jahren zwischen 1450 und 1550 sind dann aber 16 Handschriften und 15 Drucke überliefert. Berücksichtigt man, dass diese nur einen Bruchteil der verbreiteten Exemplare repräsentieren, wird klar, daß Johannes von Saaz mit seinem Text einen Nerv der Zeit getroffen haben muß. Leider ist der Originaltext nicht erhalten; die älteste Handschrift stammt von 1449 und noch nicht einmal aus Böhmen.

Der „Ackermann aus Böhmen“ ist die in 34 Kapitel gegliederte Klage eines „Ackermanns“ gegen den personifizierten Tod anläßlich des schmerzlichen Verlustes seiner jungen Frau Margaretha. Der Ackermann beschimpft dabei den Tod „als schädlichen Urfeind aller Welt“, als „schändlichen Mörder aller Menschen“, verflucht ihn „ewiglich“ und fordert Gott auf, ihn aus der Schöpfung zu tilgen. Der Tod nennt ihn dafür töricht, denn alle irdische Kreatur müsse notwendigerweise „zunichte“ werden; er selbst – „der Herr Tod“ – sei lediglich „Gottes Hand, ein gerecht arbeitender Mäher“. Dem Text zufolge ist Margaretha am 1. August 1400 im Kindbett gestorben.

Diese genaue Angabe deutet daraufhin, dass Margaretha keine literarische Figur ist, sondern tatsächliche gelebt hat, obwohl eine Ehefrau dieses Namens für Johannes von Saaz nicht belegt ist. Wenn die persönliche Betroffenheit tatsächlich Auslöser der Dichtung war, so ließ sich der Autor bei aller Pathetik dennoch nicht von seinem Schmerz davontragen: Vielmehr deuten die strenge Form von Rede und Wechselrede, die dem Gerichtsprozess entlehnt ist, und die Metaphorik der Sprache auf andere Ziele hin. Der Autor bezeichnet sich als Ackermann, dessen Pflug „vom Vogelkleide stammt“ – also die Schreibfeder ist. Als Gegenspieler des tödlichen Mähers, des Schnitters Tod, muss man sich den Ackermann als Säer denken, der die Saat auf den Acker bringt und für das Wachsen der Frucht sorgt. Es sind also Leben und Tod, Welt und Jenseits, die gegeneinander argumentieren.

Das neue humanistische Denken

Ackermann+Tod (farbige Illustration)

Ackermann+Tod (farbige Illustration)

Vor 1411 – der Autor gibt sich noch als civis Zacensis, als „Saazer Bürger“, zu erkennen – schickt Johannes den libellus Ackerman, das „Ackermann-Büchlein“, wie er selbst es nennt, an seinen Jugendfreund Peter Rothers. Rothers – auch als „Petrus von Tepl“ urkundlich – ist ein wohlhabender Jude in Prag, der gute Kontakte zum Hof Wenzels IV. hat und auch als Geldgeber der Stadt Saaz auftritt. In dem lateinischen Begleitbrief zum Buch ist von Trauer nicht die Rede – vielleicht auch, weil der Tod Margarethas schon etwas zurückliegt. Stattdessen bezeichnet Johannes sein Werk bescheiden als rhetorische Stilübung. Um solch ein rhetorisches „Stückl“ hatte der Freund offensichtlich gebeten. Es scheint aber so, dass Johannes sich auch aktiv um die Verbreitung seiner Schrift bemühte. Mit Peter Rothers und dessen Beziehungen zum Hof hatte er jedenfalls einen geeigneten Multiplikator.

Rhetorik war damals groß in Mode. Die Begeisterung dafür hatte Petrarca aus Italien nach Böhmen gebracht – auch er ein gelernter Jurist, darüber hinaus Dichter, Gelehrter und Diplomat. 1356 kam er als Gesandter der Mailänder Visconti an den Prager Hof Karls IV., wo Johannes von Neumarkt seit zwei Jahren Kanzler war. Rhetorik hatte in der Renaissance einen ganz anderen Stellenwert als heute: Sie galt nicht bloß als sprachliche Verzierung, sondern war in Ciceros Sinne eine ars movendi: die Kunst, seelische Bewegungen hervorzurufen und damit die Welt selbst in Bewegung zu setzen. Petrarcas Anschauung von Wert, Würde und Macht der Sprache wurde zu einem entscheidenden Merkmal des Humanismus.

Über Johannes von Neumarkt kam Johannes von Saaz offensichtlich in Berührung mit diesen neuen Ideen. Im Saazer Stadtbuch finden wir – sogar an zwei Stellen eingeschoben – eine „Empfehlung der Rhetorik“ (Commendacio grammtice), die wahrscheinlich von Johannes selbst stammt. Dort heißt es unter anderem: „Durch sie (die Rhetorik) werden nämlich Gottes Wohltaten dem Gedächtnis der Menschen auf ewig überliefert, werden Freunde angeleitet, Feinde abgeschreckt und unterdrückt, Gesetze gestärkt, Traurige getröstet, Unbarmherzige besänftigt – kurz gesagt: durch sie wird alles Gute in der Welt machtvoll und heilbringend gestärkt.“

Die göttlichen Wohltaten ins rechte Licht rücken: Das tut Johannes tatsächlich mit seinem „Ackermann“. Während der Tod ganz in der mittelalterlichen Tradition des contemptus mundi, der Weltverachtung, die Welt eitel nennt und den Menschen als „Kotfaß“, als „faules Aas“, als „ein gemaltes Blendwerk“ denunziert, besteht der Ackermann darauf, „daß Gott den Menschen und alle Dinge vollkommen gut erschaffen und den Menschen über sie alle gesetzt hat“. Der Tod, der zu früh kommt und die Falschen trifft, stört diese Vollkommenheit: „Eher das Tüchtige als das Untüchtige nimmt er hinweg; das Schädliche, Alte, Sieche, Unnütze läßt er oft hier, die Guten und Wackeren rafft er alle dahin.“

Der Autor bezeichnet denn auch sein Werk in dem genannten Brief an Peter Rothers als „Schmähschrift gegen das unvermeidliche Schicksal des Todes“ (inveccio contra fatum mortis inevitabile). Freilich lässt er dem Tod nicht nur schlechte, sondern auch gute Argumente, vor allem den nötigen Hinweis auf das ökologische Problem der Unsterblichkeit: „Hätten wir von des ersten lehmgeformten Mannes Zeit an die Leute auf Erden, die Tiere und das Gewürm … nicht ausgerodet: vor kleinen Mücken könnte es heute niemand aushalten, vor Wölfen getraute sich heute niemand auszugehen; es würde fressen ein Mensch den andern, … die Erde würde ihnen zu eng.“ Auch das ist freilich ganz innerweltlich gedacht und demonstriert – jenseits aller theologischen und philosophisch-stoischen Argumenten, die auch vorgetragen werden – das neue humanistische Denken.

Das Erwachen der Volkssprachen

Johannes von Saaz, Portrait des Dichters nach einem von ihm gestifteten Hieronymus-Offizium (Nationalmuseum Prag)

Johannes von Saaz, Portrait des Dichters nach einem von ihm gestifteten Hieronymus-Offizium (Nationalmuseum Prag)

Noch in einer anderen Hinsicht ist der libellus Ackerman wegweisend: in seiner Volkssprachlichkeit. Auch diesbezüglich haben Johannes von Neumarkt und sein Kreis zu seinem Entstehen beigetragen. Unter Kaiser Karl IV., einem Luxemburger, dessen Mutter eine Přemysl war, also aus dem alten tschechischen Königsgeschlecht, wurde Deutsch als Sprache der Reichskanzlei in Prag eingeführt. Das ging nicht gegen die Tschechen, denn Karl war sehr um einen Ausgleich zwischen den Interessen der beiden Sprachgemeinschaften in Böhmen bemüht. Vielmehr ersetzte Deutsch das Lateinische, das nur Gelehrte verstanden. Früher war jeder, der lesen konnte, ein Gelehrter, aber das hatte sich geändert: Bürgertum und Landadel konnten jetzt wohl lesen und schreiben – aber nicht unbedingt auch lateinisch!

Johannes von Neumarkt besorgte für diese Bürgerschicht eine Reihe von deutschen Prosaübersetzungen lateinischer Werke, nach dem Vorbild der italienischen Frühhumanisten. Er war dabei nicht der Einzige, und dies geschah nicht nur in Böhmen. Daß es aber auch in Böhmen passierte, zeigt, wie bedeutend das deutsche Bürgertum dort war. In Saaz, schreibt Ivan Hlaváček, hätte im 14. Jahrhundert „der tschechische Anteil an der ursprünglich deutschen Bevölkerung“ zugenommen – das heißt, dass Saaz eine deutsch geprägte Stadt war. Es gab dort deutsche Bürgermeister und deutsche Stadtschreiber. Für die gebildeten Bürger also schrieb der Stadtschreiber Johannes nun den libellus Ackerman – den ersten neuhochdeutschen Text, der keine Übersetzung oder Nachdichtung einer lateinischen Vorlage war. Das erschien für Böhmen so überraschend, dass die Forschung lange Zeit nach einer solchen Vorlage gesucht hat – bisher ohne Ergebnis!

Natürlich hat sich Johannes von anderen Werken anregen lassen, z. B. vom Tractatus de crudelitate mortis („Abhandlung über die Grausamkeit des Todes“), von dem wir wissen, dass er in seinem Besitz war. Auch in diesem Text besteht der Tod gegenüber einem advocatus mundi („Anwalt der Welt“) darauf, ein Organ des göttlichen Willens zu sein; aber in vielen anderen Argumente weicht er vom „Ackermann“ ab. Die dialogische Struktur, ja sogar der Titel erinnert weiters an William Langlands berühmtes Gedicht Piers Plowman, das man mit „Peter Ackermann“ übersetzen könnte. Eine andere Traditionslinie führt nach Frankreich zu den literarischen Complaintes funèbres („Totenklagen“), in denen ebenfalls lamentatio und accusatio, die Klage über den Tod und die Anklage des Todes, verbunden sind. Eustache Deschamps, der Autor einer gereimten „Klage über den Tod einer tugendhaften und gläubigen Frau“ (Complainte de la mort d’une vaillante femme et religieuse) – sie heißt Marguerite! – lebte gleichzeitig mit Johannes von Saaz.

Die Thematik und die literarische Form des „Ackermann“ lagen also in der europäischen Luft. Dabei kam in Böhmen natürlich nicht nur die deutsche Sprache zu literarischen Ehren, sondern auch die tschechische. Wenige Jahre nach dem „Ackermann“ entstand eine ganz ähnliche tschechische Dichtung, der Tkadleček („Das Weberlein“) aus der Feder eines sonst unbekannten Ludvik. Darin klagt der von seiner Geliebten verlassene Weber in hohem rhetorischen Stil das grausame Schicksal an und hebt dabei das eher komödienhafte Thema auf die philosophische Ebene von menschlichem und göttlichem Willen. In Struktur und Argumentation lehnt sich Ludvik stark an Johannes von Saaz an. Josef Vintr zufolge bezeugt „das Kunstwerk mit vielschichtiger, meist noch nicht entschlüsselter Allegorie und einem wirksamen kompositorischen Gegensatz zwischen emotionsgeladenen und philosophierenden Passagen das hohe Niveau der Kunstrezeption unter den vorhussitischen tschechischen Intellektuellen“.

Im 19. und 20. Jahrhundert ist dieses „Erwachen“ der Volkssprachen im 14. Jahrhundert nationalistisch gedeutet worden, wobei man offensichtlich ganz übersehen hat, dass es bereits seit dem Frühmittelalter volkssprachliche Literatur gibt, jedenfalls im deutschen, englischen und französischen Sprachraum. Der Unterschied zum Spätmittelalter war freilich, daß es sich bei den früh- und hochmittelalterlichen Dichtungen um Literatur für ein weitgehend illiterates adeliges Publikum handelte, die zwar aufgezeichnet, aber nicht gelesen, sondern in öffentlichem Vortrag angehört wurde. Die Handschriften – und bald auch Druckschriften – des 15. Jahrhunderts wurden dagegen von Adeligen und Bürgerlichen tatsächlich im stillen Kämmerlein gelesen. Ohne die Literarisierung und Verbürgerlichung der Bildung, von der auch die religiösen und politischen Bewegungen wie etwa der Hussitismus mit ihren Flugschriften profitierten, ist der Siegeszug des Buchdrucks überhaupt nicht zu denken. An dieser Erfolgsgeschichte hat auch der libellus Ackerman teil.

Mit Nationalismus hat das alles nichts zu tun: Die volkssprachlichen Texte, ob als Dichtung, Chronik oder Urkunde, dienten dem Bildungshunger und dem politischen Mitbestimmungswillen von Bürgertum und Landadel – nicht der Selbstversicherung nationaler Identität oder gar der feindlichen Abgrenzung gegen andere Nationalitäten. Politische und religiöse Schriften wurden, um breite Wirkung zu erzielen, schnell in andere Volkssprachen übersetzt, z. B. die hussitischen Flugblätter vom Tschechischen ins Deutsche. Daß nicht nationale Gegensätze das 15. und 16. Jahrhundert bestimmten, sondern religiöse und politisch-revolutionäre, zeigt der Einsatz des deutschen Bürgertums von Saaz für die hussitische Sache. Wie lang diese Treue anhielt (oder jedenfalls in Erinnerung war), belegt der lateinische Vers des Prager Hofdichters Jiří Carolides von Karlsberg (gestorben 1612), der heute noch das Saazer Priestertor ziert: Darin ermahnt er die Saazer, „Gottes unbewegliches Wort“ (Jovae immobile verbum) zu bewahren – also keine ketzerischen Veränderungen am Glauben zuzulassen.

Saaz, Ackermannplatz (vor 1945)

Saaz, Ackermannplatz (vor 1945)

Den nationalen Kult, den die Sudentendeutschen seit dem ersten Weltkrieg um Johannes von Saaz und den „Ackermann aus Böhmen“ aufführten, muß deshalb ein großes Missverständnis genannt werden. 1924 etwa bezeichnete Josef Nadler dieses Werk als „größte und schönste Schöpfung des mitteldeutschen Siedlungslandes und des ganzen neudeutschen Ostraumes“. In der Folge wurde der „Ackermann“ zum Identifikationstext der so genannten „Grenzdeutschen“. 1933 wurde in Karlsbad die Zeitschrift „Der Ackermann aus Böhmen. Monatschrift für das geistige Leben der Sudetendeutschen“ gegründet: Darin wird der Ackermann als deutscher Mensch gefeiert, der sich gegen das Schicksal auflehnt – gedacht wurde dabei natürlich auch an das politische Schicksal der Deutschen in Böhmen. Die Tschechen reagierten 1945 auf diese Politisierung des „Ackermann“, indem sie die erst 1921 angebrachte deutsche Gedenktafel für Johannes von Saaz von der Stirnwand des Rathauses entfernten.

Der Vortrag ist auch im Neudruck des Tagungsbandes veröffentlicht: „Der Ackermann aus Böhmen. Materialien einer deutsch-tschechische Konferenz über den Tod und das Sterben Saaz 14.-15.10.2006“, hg. Michael Popovic/ Ivan Peiffer, Bad Schussenried 2016. 

Saazer Dialekt

Von Alfred Klepsch | Vortrag im Rahmen der Saazer Gespräche anlässlich der Tausendjahrfeier im Prager Senatsgebäude

alfred-klepschProf. Dr. phil. Alfred Klepsch, 1954 in Schwabach geboren, ist Sohn des Saazers Peter Klepsch.1987 promovierte er an der Universität Erlangen mit einer Dissertation über die Geschichte der Nürnberger Mundart. 2001 habilitierte er sich für das Fach Germanistische Linguistik mit einem Wörterbuch über den in Mittelfranken belegten jiddischen Wortschatz. Seit 1989 Mitarbeiter am Forschungsprojekt „Sprachatlas von Mittelfranken“, eines Teilprojekts des „Bayerischen Sprachatlas“, ist er seit 2003 Mitherausgeber und teilweise Autor oder Co-Autor der Zug um Zug erscheinenden Bände, sowie Leiter der Bayreuther Forschungsstelle „Ostfränkisches Wörterbuch“ der Bayerischen Akademie der Wissenschaften.

Als ich vor 30 Jahren als Student in einer Nürnberger Fabrik gejobbt habe, begegnete mir dort ein Arbeiter, dessen Sprache mir sehr vertraut vorkam. Sie hatte nicht den typischen Nürnberger Klang, sondern erinnerte mich an etwas, was ich aus dem Kreis meiner Familie kannte. Ich sprach den Mann darauf an und fragte ihn, ob er aus Saaz stamme. Er antwortete:

„Naa, Jung, iech bie vo Koodn.

Da hatte ich mich also nur um knappe 20 km verschätzt.

Wie kommt es, daß man einen Mundartsprecher aus der Gegend um Saaz so leicht als einen solchen erkennt?

Die deutschen Mundarten von Saaz, Kaaden, Komotau und Podersam weisen einige Merkmale auf, die sie mit anderen deutschen Dialekten des nördlichen Böhmens gemeinsam haben. In ihrer Zusammenstellung sind sie aber einmalig und typisch für die Gegend.

Gemeinsame Merkmale mit Mundarten des nördlichen Böhmen

Hochdt.

Eger Karlsbad Saaz Brüx Teplitz

Mann

Moo Moo Moo Moo Monn

Äpfel

Epfl Ebbl Ebbl Ebbl Ebbl
Pfeffer Pfeffa Pfeffa Pfeffå Pfaffå

Pfaffå

ihr lacht ees låchds ees låchds iä låchds iä låchd

iä låchd

groß grous grous gruus gruus

gruus

Die folgende Tabelle soll zeigen, daß das „Soozerische“ auch Merkmale aufweist, die in den anderen Dialekten nicht auftreten.

Nur im Nordwestböhmischen auftretende Merkmale

Hochdt.

Eger

Karlsbad

Saaz

Brüx

Teplitz

Seife

Soifa

Soifa

Saaf

Saaf

Sääfe

Brot

Brout

Brout

Broot

Bruut

Bruut

nicht

neat

niat

net

nich

nich

tun

dou

dou

doo

duue

duun

Zählt man die gemeinsamen Merkmale dieser Beispiele zusammen, so kommt man auf eine verhältnismäßig hohe Übereinstimmung der Saazer Mundart mit der von Brüx, auf eine geringere mit den anderen böhmischen Städten. Aus diesem Grund hat der Prager Germanist Ernst Schwarz die Mundarten von Kaaden bis Brüx einem gemeinsamen Dialekt zugeordnet, den er das „Nordwestböhmische“ nennt.

Schwarz zeigt, daß die deutschen Dialekte in Böhmen und Mähren räumlich mit ganz ähnlichen Dialekten jenseits der Grenzen zu Deutschland und Österreich zusammenhängen, nämlich: Nordböhmisch mit dem Obersächsischen, Sudetenschlesisch mit dem Schlesischen, Westböhmisch (auch Egerländisch genannt) mit dem Nordbairischen (auch Oberpfälzisch genannt), Südböhmisch mit dem Bairischen Südbayerns und Österreichs. Es liegt also nahe, daß die Vorfahren der Dialektsprecher in den angrenzenden Gebieten jenseits der Grenzgebirge gelebt hatten. Woher aber kamen die Sprecher des Nordwestböhmischen, die Vorfahren der Saazer Deutschen ?

Alfred Klepsch, Saazer DialektkarteAuch hierzu ist ein Vergleich der Saazer Mundart mit anderen Dialekten nützlich, diesmal mit solchen des deutschen Altsiedellandes:

Gemeinsame Merkmale mit ostfränkischen Mundarten

Hochdt.

Würzburg

Nürnberg

Bamberg

Saaz

Mann

Moo

Moo

Moo

Moo

Äpfel

Öpfl

Epfl

Öpfl

Ebbl

ihr lacht

iä låcht

iä låcht

iä låcht

iä låchts

Pfeffer

Pfaffa

Pfeffa

Pfeffä

Pfeffå

groß

groas

grous

gruus

gruus

Seife

Säffe

Saafm

Saafm

Saaf

Brot

Broat

Brout

Bruut

Broot

nicht

nit

nit

net

net

tun

dua

dou

doo

doo

Die Übereinstimmungen von Saaz mit Bamberg sind besonders groß, größer sogar als die mit Brüx.

Den Grund für die starke Ähnlichkeit des Saazerischen mit dem Fränkischen kann man nur in der Siedlungsgeschichte suchen. Es müssen Menschen aus Franken gewesen sein, die direkt oder auf Umwegen, innerhalb einer Lebenszeit oder im Verlauf mehrerer Generationen in die Umgebung von Saaz kamen.

Über die mittelalterliche Siedlungsgeschichte ist nur wenig historisch dokumentiert. Ich fasse die Tatsachen kurz zusammen: Das Vogtland, d. h. das Gebiet um Plauen bis Chemnitz wurde im 12. Jahrhunderts deutsch besiedelt. Bereits Anfang des 12. Jahrhunderts siedelte der Graf Wiprecht von Groitzsch Franken aus der Gegend von Würzburg bei Rochlitz an der Mulde an. Um 1130 wurde das Benediktinerkloster Chemnitz gegründet.

Die Mundarten des südwestlichen Sachsen weisen sowohl ostfränkische wie auch ostmitteldeutsche, d. h. obersächsische Merkmale auf. Die Forschung geht aber davon aus, daß sich dort die Zahl der obersächsischen Merkmale im Spätmittelalter erhöht hat, was mit dem Zuzug von Bergleuten aus dem sächsischen Kernland erklärt werden kann.

Im Gebiet des nordwestböhmischen Dialekts, der ja dem vogtländischen sehr ähnlich ist, gibt es Anzeichen deutscher Siedlung seit dem frühen 13. Jahrhundert. Der erste deutsche Ortsname ist Neudörfel, erstmals 1196 erwähnt. Bis Ende des 13. Jh, gab es weitere deutsche Gründungen am Fuß des Erzgebirges. Südlich einer Linie Kaaden-Komotau-Brüx enden diese, hier gibt es nur noch eingedeutschte slawische Ortsnamen, wie Saaz, Podersam, Jechnitz usw. Im Gegensatz zum Erzgebirge war dieses sehr fruchtbare Gebiet schon lange von Slawen besiedelt.

Vermutlich war Saaz lange Zeit eine Stadt mit deutscher Majorität in einem tschechischsprachigen Umland. Dies zeigen auch einige Fakten aus der Stadtgeschichte:

  • Das erste Ratsprotokoll, abgefasst 1268, zeigt, dass die Mehrheit der Stadträte Deutsche waren.
  • In den Hussitenkriegen gab es anfangs noch zweisprachige Protokolle. Die Bevölkerung schloß sich aber, im Gegensatz zu anderen deutschsprachigen Städten Böhmens, den Hussiten an. So wurde aus dem Bürgermeister „Meister Peter“ der Hussitenprediger Petr Němec. Am Ende der Hussitenkriege war Saaz wieder eine tschechische Stadt geworden.
  • Erst nach einer schweren Pestepidemie im späten 16. Jahrhundert, durch die die Bevölkerung dezimiert wurde, gab es wieder eine deutsche Zuwanderung, die aber zunächst noch nicht zu einer deutschen Majorität führte.
  • Erst aus dem frühen 18. Jahrhundert gibt es wieder deutsche Ratsprotokolle, und 1728 wurde in Saaz die letzte Predigt auf Tschechisch in einer den Tschechen vorbehaltenen Kirche gehalten.

Das Saazer Bürgermatrikel verzeichnet in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts noch einen relativ zahlreichen Zuzug von Neubürgern mit deutschen Namen. Die Zuzügler kamen zum großen Teil von weit her: aus anderen deutschsprachigen Städten Böhmens, aus Österreich und aus Süddeutschland. Im Vergleich dazu war um die Mitte des 19. Jahrhunderts der Zuzug geringer geworden, und fast alle Neubürger kamen aus der engeren Umgebung von Saaz. Daraus schließe ich, dass das Saazer Land erst um die Wende des 18. zum 19. Jahrhundert vollständig eingedeutscht war und daß die Stadt sich zuvor noch in einer Sprachinsellage befand.

Ich habe bereits auf die südlich von Saaz verstärkt und inselhaft auftretenden ostfränkischen Sprachmerkmale hingewiesen. Hierfür kommen zweierlei Erklärungen in Frage. Entweder: Die Mundarten nördlich der Eger wiesen ursprünglich dieselben Merkmale auf, sie wurden aber durch den Zuzug von Bergleuten sekundär „saxonifiziert“, während südlich von Saaz der alte Zustand erhalten blieb. Oder: Die ostfränkischen Mundartmerkmale wurden von Neusiedlern aus Franken mitgebracht, die erst nach der Schlacht am Weißen Berg ins Land gerufen wurden. Dies könnte mit der Belehnung von ursprünglich fränkischen Adelshäusern, wie den Grafen von Rieneck und den Fürsten von Schwarzenberg geschehen sein. Im Fall meiner eigenen Vorfahren trifft dies jedenfalls zu: die Familie meiner Großmutter kam als Untertanen der Nostitz-Rieneck aus dem nördlichen Unterfranken nach Stankowitz.

Daß das Gebiet südlich von Saaz erst spät und von Zuzüglern unterschiedlicher Herkunft besiedelt wurde, legt auch die Mundartgeographie nahe. Die Grenze zwischen dem Nordbairischen (Egerländischen) und dem Ostfränkischen (Saazer) Dialekt verläuft vom Erzgebirge über den Kamm des Duppauer Gebirges und weiter Richtung Süden bis zur historischen deutsch-tschechischen Sprachgrenze. Im Norden ist diese Mundartgrenze sehr ausgeprägt und deutlich. Zahlreiche sprachliche Einzelmerkmale, die entweder für das Nordbairische oder das Ostfränkische kennzeichnend sind, grenzen hier auf engem Raum aneinander.

Südlich des Duppauer Gebirges aber wird die Abgrenzung der beiden deutschen Dialekte unscharf. Die Grenzlinien der Einzelmerkmale „zerfasern“ gewissermaßen. Zwischen Netschetin und Podersanka liegt ein Übergangsgebiet von über 30 km Ost-West-Erstreckung in dem ganz allmählich von Westen nach Osten die bairischen Merkmale seltener, die fränkischen häufiger werden. In der Gegend um Petersburg, Jechnitz und Podersanka im äußersten Südosten des Saazer Landes kommen fränkische Dialektmerkmale vor, die nirgendwo sonst in Böhmen, wohl aber in Nordbayern anzutreffen sind. Die naheliegendste Erklärung für diese fränkische Sprachinsel ist der Zuzug von direkt aus Franken stammenden Siedlern in einer Zeit, als die Gegend nördlich der Eger längst von Deutschen besiedelt war.

Ein weiteres Indiz für die späte Eindeutschung des Saazer Landes könnten die zahlreichen tschechischen Lehnwörter sein, die die dortige deutsche Mundart enthält. Innerhalb des Deutschen haben diese Wörter eine unterschiedlich große Verbreitung:

  • Gurke (saazerländisch gork, tsch. okurka) ist sogar in der deutschen Standardsprache gebräuchlich.
  • Kren (standarddeutsch Meerrettich, saazerländisch green, tsch. křen) kommt auch in Bayern und in Österreich vor.
  • Kolatsche (Standarddeutsch Küchlein, saazerländisch gollaatschn, tschech. koláč) ist auf das Gebiet der Habsburgermonarchie beschränkt.
  • Schmetten (Standarddeutsch Rahm, saazerländisch schmeddn, tschech. smetana) ist nur in den deutschen Mundarten Böhmens und Mährens verbreitet.

Nur aus Saaz und seiner ländlichen Umgebung kenne ich:

  • Watschiene : „Zwischenmahlzeit auf dem Feld“, tschech. svačina
  • Blachte: „Plane“ tschech. plachta
  • Grawaasch: „Ochsenknecht, Knecht für die grobe Stallarbeit“, tschech krávař
  • Leschaak: „von Regen oder Wind niedergedrücktes Getreide“, tschech. ležák „Faulenzer“
  • Wonuusch: „Seitentrieb der Hopfenpflanze“, tschech. odnož, „Schößling“
  • Babke: „Wurzelstock der Hopfenpflanze“, tschech. babka „alte Frau“
  • Tauben: „getrocknetes Nasensekret“

Das letzte Wort ist zwar deutsch, aber die Bedeutung entspricht einer nur in der tschechischen Sprache gebräuchlichen Redensart: vybírat holuby, wörtlich „Tauben ausnehmen“, übertragen „in der Nase bohren“.

Es ist ganz offensichtlich, dass diese Wörter sich in der Domäne „Landwirtschaft“ häufen. Abgesehen von einem eventuell noch im 20. Jahrhundert existierenden tschechischen Substrat in der Mundart kommt hierfür aber auch noch eine andere Erklärung in Frage: Die großen und wohlhabenden Bauernhöfe und Adelsdomänen hatten einen hohen Arbeitskräftebedarf. Dieser konnte nicht ausschließlich aus der bodenständigen deutschen Landbevölkerung gedeckt werden, es wurden vielmehr auch tschechische Landarbeiter eingestellt, die die Lehnwörter beim Gespräch mit ihren deutschen Arbeitgebern und Arbeitskollegen verwendeten. Die Deutschen haben diesen Wortschatz teilweise übernommen.

Literaturnachweise:

Fuchs, Stefanie: Die nordbairisch-ostfränkische Mundartgrenze in Böhmen. Regensburg 2006, Karte IV (S. 62). Die Arbeit von Fuchs beruht auf mündlicher Befragung von deutschsprachigen Bewohnern der Gegend zwischen Karlsbad und Saaz. Diese Befragungen konnte die Verfasserin noch zu Beginn des 21. Jh. durchführen.

Schwarz, Ernst: Sudetendeutsche Sprachräume (= Schriften der Deutschen Akademie in München, Heft 21) München 1935, S. 90-105.

Schwarz, Ernst: Sudetendeutscher Wortatlas. Bd 1. München 1954, Karte 1 „Sudeten- und Karpathendeutsche Sprachlandschaften“.

Seifert, Adolf: Die Stadt Saaz im 19. Jahrhundert. Saaz 1902, S. 122-129.

Steger, Hugo: Franken und die mittelalterliche Ostsiedlung im Lichte der Mundarten . In: Jahrbuch für Fränkische Landesforschung Bd. 22, S. 313-355. Neustadt/Aisch 1962, S. 327 f..