Den Jüdischen Friedhof in Prag, wo Rabbi Löw den berühmten Golem gemacht haben soll, kennt jeder. Er wurde, als Teil des Prager Ghettos, liebevoll restauriert und zieht heute als beeindruckendes Denkmal jüdischer Kultur in Böhmen jährlich Tausende von Besuchern an. Doch was ist mit den vielen anderen jüdischen Friedhöfen in der Tschechischen Republik? Insbesondere in den ehemals deutschen Städten, die vor dem Krieg bedeutende jüdische Gemeinden hatten?
Zum Beispiel Saaz. Die jüdische Gemeinde von Saaz hatte 1930 laut Volkszählung 760 Mitglieder. Der jüdische Friedhof, heute in der Ulica Trnovanska, wurde 1859 angelegt. Einige der Grabsteine, die deutsche, tschechische und hebräische Inschriften tragen, stammen noch aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Die Saazer Juden teilten unter der Naziherrschaft das Schicksal ihrer europäischen Brüder und Schwestern. Eine jüdische Gemeinde gibt es seit 1945 nicht mehr in Saaz. Seitdem verfällt der Friedhof. 1976 fand die letzte jüdische Bestattung auf dem Friedhof statt. Die Jüdische Gemeinde von Teplice bezahlt heute den Friedhofsverwalter durch Wohnrecht im alten Küsterhaus.
Zwischen 1975 und 1991 unternahmen Bürger aus Saaz und jüdische Gruppen aus dem übrigen Böhmen erste Anstrengungen, die durch die Nazis und späteren Vandalismus verursachten Schäden auf dem Friedhof zu beseitigen.
Seit 2003 hat sich der „Förderverein der Stadt Saaz|Žatec“ zum Ziel gesetzt, aus dem Friedhof eine Gedenkstätte für die ermordeten jüdischen Bürger zu machen und die Synagoge zu restaurieren. Am 20. März 2004 traf er mit der Jüdischen Gemeinde Teplitz eine beglaubigte Vereinbarung hinsichtlich der gemeinsamen Planung und Finanzierung des Vorhabens.
Als erster Schritt wurde anlässlich der Tausendjahrfeier der Stadt Saaz am 11. September 2004 vom Vorsitzenden des Fördervereins eine Gedenktafel für die Juden von Saaz mit der Aufschrift „Schalom“ enthüllt. Zugegen waren Vertreter der Jüdischen Gemeinde Teplitz sowie tschechische Einwohner und ehemalige deutsche Bürger von Saaz.
Viel ist indes noch zu tun: Wir wünschen uns, dass der jüdische Friedhof und die Synagoge – eine der wenigen, die 1938 von den Nazi nicht völlig zerstört wurden, weil eine beherzte Saazer Feuerwehr eingriff – zu attraktiven Gedenkstätten der jüdischen Kultur im Saazer Land und in Böhmen werden. Dabei sind wir jedoch auf finanzielle Mithilfe angewiesen.
Wir bitten Sie deshalb herzlich um eine Spende für die im Vertrag mit der Jüdischen Gemeinde Teplitz genannten Zwecke. Sie erhalten für Ihre Spende eine steuerabzugfähige Quittung, in welcher der besondere Zweck ausdrücklich genannt ist. Die Vereinbarung mit der Jüdischen Gemeinde lautet:
Abkommen über Zusammenarbeit zwischen der jüdischen Gemeinde Teplitz-Schönau in Tschechien und dem Förderverein der Stadt Saaz|Žatec mit Sitz in Georgesgmünd in Deutschland, über die Zusammenarbeit hinsichtlich der Herrichtung und Wiederherstellung des jüdischen Friedhofs in Saaz, der Vorbereitung eines Gedenkakts im November 2004 und der Wiederherstellung der Saazer Synagoge. Auf der Grundlage dieses vorliegenden Plans wird sich der Förderverein an der Akquisition finanzieller Mittel zur Durchführung des Projekts und an seiner gemeinsamen Vorbereitung und Durchfügrung beteiligen.
Förderverein Saaz|Žatec e. V.
Spendenkonto Nr. 146048110
Nassauischen Sparkasse Frankfurt (NASPA) BLZ 510 500 15
IBAN: DE17 5105 0015 0146 0481 10
BIC|SWIFT: NASSDE55XXX
Vielen Dank
Große Koalition will deutsch-tschechische Zusammenarbeit fördern
Deutsch-Tschechischem Zukunftsfonds wird Perspektive über 2017 hinaus geöffnet
Von Martina Schneibergová | Radio Prag 27. November 2013, Nachrichten
Die Spitzen von Union und SPD haben sich auf einen Koalitionsvertrag geeinigt und darin dem Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds (DTZF) eine Perspektive über 2017 hinaus zugesichert. „Wir begrüßen außerordentlich die Priorität, die der Koalitionsvertrag den deutsch-tschechischen Beziehungen beimisst“, erklärte der tschechische Geschäftsführer des Zukunftsfonds Tomáš Jelínek am Mittwoch. „Für uns ist das ein starkes Signal, dass unsere Arbeit für Versöhnung, Verständigung und Kooperation von Tschechen und Deutschen auf einen breiten gesellschaftlichen Konsens in Deutschland trifft“, ergänzte der deutsche Geschäftsführer Joachim Bruss.
Im Kapitel „Starkes Europa: Europäische Außen- und Sicherheitspolitik“ bekennt sich die große Koalition dazu, „bilaterale Initiativen mit unseren mitteleuropäischen Partnern“ ausbauen zu wollen. „Dem Deutsch- Tschechischen Gesprächsforum und dem Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds sichern wir eine Perspektive über 2017 hinaus“, heißt es im Wortlaut.
Die Regierungen beider Länder hatten die Entstehung des Zukunftsfonds in der Deutsch-Tschechischen Erklärung vom Januar 1997 festgeschrieben und 2006 eine Verlängerung der Tätigkeit um weitere zehn Jahre beschlossen. Der Deutsch-Tschechische Zukunftsfonds fördert gezielt Projekte, welche die Menschen beider Länder zusammenführen, Einblicke in die Lebenswelten, die gemeinsame Kultur und Geschichte ermöglichen und die Zusammenarbeit stärken.
„Denn sie blicken voll Hass auf uns …“
Gedenkakt zum 75jährigen Jahrestag der “Reichskristallnacht”
Im Buch Ester des Alten Testaments, des gemeinsamen Buchs von Juden und Christen, betet Esters Onkel Mordechai zu Gott, das von Ausrottung bedrohte Volk Israel zu retten: „Gott Abrahams, verschone dein Volk! Denn sie blicken voll Hass auf uns und wollen uns ins Verderben stürzen. Sie sind darauf aus, uns zu vernichten … Hör auf mein Flehen, hab Erbarmen mit uns und verwandle unsere Trauer in Freude, damit wir am Leben bleiben und deinen Namen preisen, Herr. Lass den Mund derer, die dich loben, nicht verstummen!“
Mordechais Gebet ist eines der Stücke aus den „Ester-Liedern“, die der in Saaz gebürtige Komponist Karl Reiner im Ghetto Theresienstadt in höchster Not komponierte und zur Aufführung brachte. 75 Jahre nach der „Reichskristallnacht“, mit der in Saaz und anderen Orten die Vernichtung der böhmische Juden begann, führte die Prager „Jazz Khonspiracy“ diese Musik in den immer noch wüsten Räumlichkeiten der Saazer Synagoge auf. Zuvor war mit Kranzniederlegungen und Ansprachen der Ereignisse von 1938 gedacht worden. Wandtafeln aus der Ausstellung „Die Juden von Saaz“ dienten zu ihrer Illustration.
Der deutsche „Förderverein der Stadt Saaz|Žatec“ und der örtliche „Verein der Landsleute und Freunde der Stadt Žatec“ hatte mit Unterstützung des Eigentümers der Synagoge, Daniel
Černý, und der Stadt Saaz zu dieser Gedenkveranstaltung eingeladen. Bürgermeisterin Zdeňka Hamousová drückte ihre Freude darüber aus, dass das jährliche Gedenken an die Auslöschung der jüdischen Gemeinde von Saaz mittlerweile zu einer Institution geworden ist. Aufgrund der 75jährigen Wiederkehr und des attraktiven Konzerts nahmen noch mehr Menschen teil als sonst. Anwesend war auch ein Vertreter der deutschen Botschaft, Sozialreferent Norbert Axmann, der ein Blumengebinde niederlegte. Entsprechend war auch die Aufmerksamkeit der regionalen und nationalen Medien (siehe Link zum Bericht des lokalen Fernsehens).
Žatecká OK plus (Saazer Fernsehen)
Jazz Khonspiracy spielt „Mordechais Gebet“ in Laun (Louny), September 2013
Ausstellung „Die Juden von Saaz“
Wie Otokar Löbl, der Vorsitzende des „Fördervereins der Stadt Saaz|Žatec“ in seiner Rede ausführte, stellt Herr Černý die Synagoge demnächst für eine Dauerausstellung zur Verfügung. Ab Sommer nächsten Jahres wird „Die Juden von Saaz“ dort auch in deutscher und englischer Sprache zu sehen sein.
- Vor der Synagoge
- Vor der Synagoge; rechts Frau Bürgermeister Hámousová
- Alexander Lebovič, jüdische Gemeinde Teplitz
- Daniel Černý, Eigentümer der Saazer Synagoge
- Bürgermeisterin Zdeňka Hamousová, Botschaftsreferent Norbert Axmann, Fördervereinsvorsitzender Otokar Löbl
- Gabriela Beckova und Alexander Lebovič (beide jüdische Gemeinde Teplitz-Saaz), Zdeňka Hamousová (Bürgermeisterin)
- Teilnehmer
- Ausstellung „Die Juden von Saaz“
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Einladung zum Gedenkakt: 75 Jahre „Reichskristallnacht“
In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 brannten wie in Deutschland so auch im Saazerland die Synagogen. In einer geplanten Aktion gingen die Nationalsozialisten gewaltsam gegen jüdische Einrichtungen, Geschäfte und einzelne Bürger vor.
In Saaz brannte die Inneneinrichtung der Synagoge aus, weiterer Schaden wurde durch die beherzte deutsche Feuerwehr verhindert. Wegen der vielen eingeschlagenen Schaufenster und der landesweiten Planung ging dieses Staatspogrom in den Volksmund als „Reichskristallnacht“.
Der „Förderverein der Stadt Saaz|Žatec“ in Zusammenarbeit mit der jüdischen Gemeinde Teplitz, der Stadt Saaz, dem „Verein der Landsleute und Freunde der Stadt Saaz“, dem Heimatkreis Saaz und dem neuen Besitzer der Synagoge, Daniel Černy, lädt in Erinnerung an das Schicksal der jüdischen Saazer Mitbürger zu einem Gedenkakt vor dem
Haupteingang der Synagoge
am Freitag, den 8. November 2013, 17.00 Uhr
ein. Anschließend spielt in der Synagoge die Prager Gruppe „Jazz Khonspiracy“ die Werke des jüdischen Saazer Komponisten Karl Reiner, „Mordechai-Gebet“ und „Esther Lieder“.
Karel (Karl) Reiner (1919-1979) kam in Saaz als Sohn eines jüdischen Kantors zur Welt, studierte im Wiener Konservatorium Musik und war dann in Prag Schüler von Zdeněk Nejedlý, Alois Hába und Josef Suk. Als Konzertpianist engagierte er sich 1931-1938 für die „Neue Musik“ und führte u. a. die Vierteltonwerke seines Lehrers Hába auf. 1943 wurde er in das Ghetto Theresienstadt deportiert, wo er der Komponistengruppe angehörte. Er war der einzige Überlebende aus dieser Gruppe. 1944 wurde Reiner in das KZ Auschwitz und später in das KZ Dachau gebracht, wo er die Befreiung durch die Amerikaner erlebte.
In Theresienstadt entstand die Komposition zum Esther-Spiel, das dort auch aufgeführt wurde. Mitwirkenden der Aufführung gelang später zusammen mit dem Libretto-Autor Milan Kuna die Rekonstruktion des Werkes, dessen Aufzeichnungen verloren gegangen war. Nach 1945 arbeitete Reiner weiter als Komponist und diente dem kommunistischen Staat als Vorsitzender des Tschechischen Musikfonds und Mitglied des tschechischen Komponistenverbandes. Aus Enttäuschung über die Kommunisten trat er nach der Niederschlagung des Prager Frühlings aus der KPČ aus. 1975 vertonte er fünf Gedichte des DDR-Dissidenten Reiner Kunze.
Reiner hinterließ ein umfangreiches Werk, u. a. Opern, Ballettmusik, Konzerte für Violine, Klavier und Bassklarinette, Kammermusik, Orgel- und Klavierstücke, Chöre und Lieder, Schauspiel- und Filmmusik. Der von Miro Bernat realisierte Kurzfilm Motýli tady nezijí (Schmetterlinge leben hier nicht, 1958) mit der Musik von Reiner wurde 1959 bei den Internationalen Filmfestspielen von Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet. Karl Reiner starb 1979 in Prag.
Bierkultur im tschechischen Žatec
Im Biertempel von Žatec, dem ehemaligen Saaz, ist immer noch viel von der leidvollen Geschichte der Vertreibungen zu spüren.
Von Norbert Bartnik | Main-Echo Online, 1. November 2013
Einst galt das nordböhmische Žatec, früher Saaz, als Welthopfenhauptstadt, dort wird die böhmische Brautradition lebendig. Viele alte Gebäude erinnern an die kulturelle Vielfalt, die nach dem Zweiten Weltkrieg verloren ging.
Normalerweise stehen Leuchttürme an der Küste, um Seefahrern bei der Orientierung zu helfen. Der Leuchtturm von Žatec steht mitten in der Stadt und hilft Bierfreunden bei der Orientierung. Das kuriose Bauwerk ist Teil eines neuen Erlebnismuseums, das über die Bierkultur der böhmischen Stadt informiert. Von der Aussichtsplattform genießt man einen weiten Blick über die Stadt, die einst von Brauereien, Hopfenlagern und Handelshäusern geprägt wurde. Im 19. Jahrhundert galt Žatec, damals Saaz, als „Welthopfenhauptstadt“, aus der Hopfen von besonders hoher Qualität in alle Kontinente exportiert wurde. Die Aufschrift „Gebraut mit Saazer Aromahopfen“ galt bei vielen Biermarken als Inbegriff von Qualität.
Noch heute kann man am Stadtrand einige Anbauflächen erkennen. Von den vielen Brauereien im Nordwesten Böhmens sind allerdings nur noch wenige übrig geblieben. Aber es gibt den „Biertempel“, ein originelles Museum, in dem die eng mit der Hopfenverarbeitung verknüpfte Geschichte der Region erzählt wird.
„In den letzten Jahren sind in Tschechien 130 neue Hausbrauereien gegründet worden“, erzählt Museumsmanager Jiří Vent, während er die Besucher durch den Turm führt. „Das ist eine Reaktion auf die internationalen Bierfirmen, die den Markt beherrschen.“
Vent, der früher selbst in der Hopfenbranche gearbeitet hat, macht keinen Hehl aus seiner Verachtung für die großen Marken:
„Achtzig Prozent der europäischen Biere sind schlecht. Das kann man eigentlich gar nicht trinken.“
Viel wichtiger als aufwendige Brautechnik ist nach seiner Einschätzung die Tradition:
„Man muss sein Handwerk beherrschen, und das wird vom Großvater auf den Vater und von diesem wieder auf den Sohn weitergegeben.“
Es ist eine romantische, auf sympathische Weise weltfremde Sicht der Dinge, die in Žatec noch gepflegt wird. Jiří Vent erzählt bei dem Rundgang durch das Museum aber auch vom Niedergang der Hopfenkultur als Folge von Kriegen und NS-Terror:
„Aber den Hopfen hat man im Blut. Die Emigranten haben ihre Kultur auch in den USA oder Südafrika bewahrt“.
Im Biertempel wird die Kultur der Region spannend in Szene gesetzt. In einer nur spärlich beleuchteten Lagerhalle laufen die Besucher durch ein aus Hopfensäcken gebildetes Labyrinth und landen immer mal wieder in einer Sackgasse, bis sie in einem Alchemistenlabor ankommen, das mit seinen Geisterbahneffekten besonders junge Gäste anspricht. Im Untergeschoss geht es um die Geschichte des Hopfenanbaus.
Die Tschechen liegen im durchschnittlichen jährlichen Bierkonsum von knapp 160 Litern pro Person weltweit klar in Führung, erst auf dem zweiten Platz folgen die Deutschen mit knapp 110 Litern. Für die Qualität gebe es ein ganz einfaches Testverfahren, meint Vent:
„Wer am Abend viel Bier getrunken hat und am nächsten Morgen mit einem klaren Kopf aufwacht, kann sicher sein, dass es ein gutes Bier war.“
Im Gasthaus „U Orloje“ neben dem Museum kann man testen, ob das auch für die hellen und dunklen Spezialitäten aus der Hausbrauerei gilt.
Am Grab des ältesten Biertrinkers der Welt
Auf dem Ringplatz (námestí Svobody) im Stadtzentrum ist eine merkwürdige Grabplatte in den Boden eingelassen. An dieser Stelle wurde das Skelett eines Mannes entdeckt, neben dem ein tönernes Gefäß, ein paar Hopfenreste und eine Tontafel mit sieben Kerben in der Erde lagen. Der Tote wurde zum „ältesten Biertrinker der Welt“ ernannt, die Tafel als älteste erhaltene Bierrechnung bewertet. Das ist zwar nicht ernst gemeint, aber immerhin wurden die sieben Kerben zum Logo des Vereins, der den „Tempel des Hopfens und des Bieres“ begründete. Beim Hopfenfest Docesná, das jeweils im September gefeiert wird, herrscht auf den Straßen und Plätzen der Stadt immer noch viel Trubel.
Nachgewiesen ist, dass schon 1261 in Saaz Bier gebraut wurde. Heute wird diese Tradition nur noch von der Hausbrauerei neben dem Museum und der Žatec-Brauerei, die sich auf dem Gelände der alten Burg befindet, fortgesetzt. Andere ehemalige Brauereien, Hopfenlager und Fabriken stehen dagegen leer und verfallen allmählich. Gleiches gilt für so manche Villen, in denen einst die Handelsherren residierten. Der Putz blättert von den Fassaden, die dekorativen Statuen am Dachfirst sind nur notdürftig gesichert.
Vor vielen Ladengeschäften in der von Laubengängen gesäumten Hoštálkovo námestí sind die Jalousien heruntergelassen, und es sieht nicht so aus, als würden sie jemals wieder hochgezogen werden. Jahrhundertelang hatten Tschechen, Deutsche und Juden in Saaz vergleichsweise friedlich zusammengelebt. Nur noch die brüchigen alten Häuser erinnern an die kulturelle Vielfalt, die nach dem Krieg unwiederbringlich verloren ging.
Die Synagoge, deren Innenräume 1938 von den Nazis verwüstet wurden, blieb zwar erhalten, aber es gibt keine jüdische Gemeinde mehr, die sie nutzen könnte. So ist die Zukunft des Gebäudes noch ungewiss. Es dient nur noch als Kulisse für historische Filme. Überhaupt wird Žatec wegen seiner alten Bausubstanz gerne von Filmteams besucht, wenn es gilt, Szenen mit dem Flair der Vorkriegszeit zu drehen.
Die leidvolle Geschichte von Flucht und Vertreibung ist in Žatec noch spürbar. Die jüdischen Bürger, denen es nicht gelang, vor dem Einmarsch der Wehrmacht zu emigrieren, wurden von den deutschen Besetzern im Zweiten Weltkrieg deportiert und ermordet. Nach Kriegsende kam es zu Racheakten an den deutschen Bewohnern, ganz egal ob sie an den Nazi-Gräueln beteiligt waren oder nicht. Im Juli 1945 wurden über 700 deutsche Männer und Jungen im Alter von 15 bis 60 Jahren von tschechischen Militärs in Saaz zusammengetrieben, in den Nachbarort Postelberg gebracht und auf dem dortigen Kasernengelände erschossen. Die Täter wurden nie zur Rechenschaft gezogen.
Auch in Aussig (heute Ústí nad Labem) gab es 1945 ein Massaker an deutschen Einwohnern. In der 70 Kilometer von Žatec entfernten Stadt ist jetzt eine groß angelegte Ausstellung geplant, die vom Leben der verschiedenen Bevölkerungsgruppen in Böhmen erzählt, vom Trennenden und Verbindenden, aber auch von den Verfolgungen und Vertreibungen. Das Collegium Bohemicum, das viele deutsch-tschechische Kulturveranstaltungen organisiert, hat dafür in einer ehemaligen Knabenschule geeignete Räumlichkeiten bekommen.
„Schon jetzt kommen viele Besucher aus Deutschland hierher, die eine Ausstellung sehen wollen, die es eigentlich noch gar nicht gibt“, sagt der Historiker Thomas Oellermann, der die Präsentation organisiert. „Wir wollen keine Konflikte verbergen, aber auch zeigen, dass es über die Jahrhunderte hinweg eine fruchtbare Zusammenarbeit der Kulturen gegeben hat“.
Erinnerungen an den Gablonzer Glasschmuck
An Modellen kann man sehen, was in den Räumen einmal gezeigt werden soll, auch einige Ausstellungsstücke sind schon vorhanden, darunter alte Handwerksgeräte, Wirtshausschilder, Gablonzer Glasschmuck, Werbung für Elbogener Pumpernickel und eine „deutsche Volksgasmaske“. Eine Barrikade aus Büchern steht für die gescheiterte Revolution von 1848, die zugleich einen Wendepunkt markiert: Tschechische und deutsche Nationalisten gehen von nun an getrennte Wege, daneben wird der jüdische Weg thematisiert, der in das Konzentrationslager von Theresienstadt führt.
Die Vertreibung der Sudetendeutschen nach 1945 wird durch einen großen Schlüssel symbolisiert.
„Nachdem die Bewohner ihre Habseligkeiten auf die Wagen geladen und die Türen ihre Häuser verschlossen hatten, mussten sie den Behörden den Haustürschlüssel übergeben“, erzählt Oellermann.
Am Ende der Ausstellung steht die deutschsprachige Literatur – Werke von Franz Kafka, Egon Erwin Kisch, Gustav Meyrink und vielen anderen Autoren, die in Prag und anderen Städten des Landes lebten.
Es hat mehr als 60 Jahre gedauert, bis man so weit war, fern von allen Ideologien die gemeinsame Geschichte des Landes zu erzählen. Diese neue Offenheit macht den Besuch in den nordböhmischen Städten zu einem besonderen Erlebnis.
US-Unternehmen investiert im Saazer Land
Das US-amerikanische Unternehmen Johnson Controls will seine Produktionskapazitäten im Industriegebiet Triangle bei Žatec ausweiten.
In diesem Zusammenhang plant es in den kommenden drei Jahren Investitionen von insgesamt 1,3 Milliarden Kronen. An dem Standort in Nordböhmen in der Region Ústí nad Labem (Aussig) sollen dabei über 500 neue Arbeitsplätze entstehen. Beim Ministerium für Industrie und Handel liegt ein Antrag des Unternehmens zur finanziellen Unterstützung der Investition vor, über den die tschechische Regierung heute entscheiden wolle.
Das berichtete die Internet-Site „prag aktuell“ am 24. Oktober 2013.
Quellen:
http://www.prag-aktuell.cz
Novinky.cz
Probleme und Chancen im deutsch-tschechischen Verhältnis
Auf dem Heiligenhof fanden sich Deutsche und Tschechen zur Tagung „Rückblendungen und Vergegenwärtigungen im deutsch-tschechischen Verhältnis“ (13.-18. Oktober 2013) zusammen. Das Ergebnis machte Hoffnung.
Die Bildungs- und Begegnungsstätte „Der Heiligenhof“ in Bad Kissingen ist für seine Bemühungen um die deutsch-tschechische Verständigung bekannt. Jährlich treffen sich hier Deutsche und Tschechen, um in angenehmer Atmosphäre ihr Wissen übereinander zu erweitern und aktuelle Themen zu diskutieren. Neun in Wissenschaft und Praxis der Völkerverständigung erfahrene Referenten informierten diesmal wieder ein großes Publikum zu grundlegenden wie tagespolitischen Fragen im Verhältnis der beiden Nachbarn. Erfreulich war die Teilnahme zahlreicher tschechischer Germanistik- und Geschichtsstudenten aus Pardubice|Pardubitz und Brünn|Brno. Denn es ist diese Jugend, die das nachbarschaftliche Verhältnis in der Zukunft gestalten wird. Dabei kann Wissen nicht schaden.
Kulturelles Gedächtnis
Das Verhältnis der Völker wird nicht unmaßgeblich durch ihre Erinnerung geprägt. Leider stimmt dieses historische Gedächtnis auf beiden Seiten nicht immer überein. Das gilt insbesonders für Völker, die sich in der Vergangenheit schweres Leid zugefügt haben. Wer persönlich Leid erlebt hat, betont seine eigene Opferrolle. Das Leid des anderen wird dagegen als selbstverschuldet angesehen. Jeder lehnt Kollektivschuld für sich selbst ab, schreibt sie aber dem anderen bedenken- oder gedankenlos zu. „Die Tschechen“ – „die Deutschen“: das sind klischeehafte, vorurteilsbeladene Stereotype über den Charakter und die historischen Taten des Nachbarn.
Man löst Stereotype und zweifelhafte Erinnerungen am besten auf, indem man ihren psychologischen Mechanismus und ihre politische Instrumentalisierung enthüllt. Udo Metzinger, Publizist und wissenschaftlicher Dozent aus Offenbach, referierte dazu über „Transformation der Erinnerung, oder: Was prägt unser politisches Gedächtnis?“ Er verwies dabei auf die Politisierung kollektiven Erinnerns durch Geschichtsmythen, Denkmäler und Gedenktage, Literatur und Film, Bildung und Unterricht. Nationale Symbole können durchaus widersprüchliche Erinnerungen beinhalten, um für eine möglichst große Anzahl von Menschen attraktiv zu sein. Um Wahrheit geht es dabei nicht, sondern um Identitätsbildung. Der Referent zitierte dazu den französischen Soziologen Maurice Halbwachs (1877-1945), demzufolge das kollektive Gedächtnis Vergangenheit unter einem aktuellen politischen und kulturellen Bezugsrahmen rekonstruiert. Die historische Wahrheit, um die sich die Geschichtswissenschaft bemüht, wird dabei meist nur am Rande berücksichtigt. Das kollektive Gedächtnis ist politisch geformt.
Das kann gefährlich werden, wenn es um Konfliktlösung geht. Unter den verschiedenen Möglichkeiten der Konfliktlösung ist Krieg die risikoreichste, kann aber unter bestimmten aktuellen Rahmenbedingungen als unausweichlich angesehen werden. Es kommt auf das kollektive Gedächtnis an. Glücklicherweise ist es heute in Europa aufgrund zweier verheerender Weltkriege so geartet, dass diese Möglichkeit ausgeschlossen wird. Als alternative Konfliktlösung sieht man die Integration Europas an, wobei besonders Ältere sogar in „Europa“ eine Frage von Krieg und Frieden sehen. Metzinger wies darauf hin, dass ein modischer Europaverdruss schneller als man denkt zu instabilen Verhältnissen führen könnte, bei denen Krieg als Konfliktlösung oft nicht fern ist. Zur Erinnerung zeigte er eine Europakarte, in die alle Kriege der vergangenen Jahrhunderte durch übereinander gelegte Schwärzungen eingezeichnet waren. Fast ganz Europa war tiefschwarz.
Instrumentalisierung der Vergangenheit
Auf ganz konkrete Weise illustrierte der Soziologe Lukáš Novotný von der Karlsuniversität Prag die politische Instrumentalisierung der Vergangenheit am Beispiel der tschechischen Präsidentenwahl („Zwischen Wahlkämpfen und Krisen: Aktuelles aus der tschechischen Innenpolitik“). In der Stichwahl zwischen Miloš Zeman und Karel Schwarzenberg ging es um die Bewertung der Beneš-Dekrete und der Vertreibung der Deutschen. Man beachte: Ein Wahlkampf des Jahres 2013 sollte an einer Frage des Jahres 1945/ 46 entschieden werden. So wollte es jedenfalls der gewiefte Zeman, der die deutschenfreundliche Haltung als politische Schwäche seines Konkurrenten erkannte. Schwarzenberg hatte die Exzesse der Wilden Vertreibung als Verbrechen bezeichnet, das heute vor dem Europäischen Gerichtshof in Den Haag verhandelt werden würde, und die Deutsche betreffenden Beneš-Dekrete mit Annahme der UN-Charta durch Tschechien (ex nunc) als aufgehoben erklärt. In drei Fernseh- und mehreren Radioduellen trieb Zeman ihn damit in die Enge.
Zeman spekulierte auf die kritische Haltung der Wähler gegenüber den Sudetendeutschen und ihren Forderungen. Sein Wahlerfolg schien ihm Recht zu geben, doch bei genauerer Betrachtung ist das eine Irrtum. Zeman gewann gegen Schwarzenberg mit etwa 55 % zu 45 %. Einen Sieg Zemans hatten die Meinungsforschungsinstitute allerdings bereits vor der Debatte über die Beneš-Dekrete vorausgesagt. Mit einem so guten Abschneiden Schwarzenbergs hatten sie dagegen nicht gerechnet. Novotný schloss daraus, dass diese Geschichtsdebatte keinen signifikanten Einfluss auf das Wahlergebnis hatte. Tatsächlich hielten heute nur noch 42 % der Tschechen die Vertreibung der Deutschen für gerecht, darunter sehr viele über Sechzigjährige – nur eine knappe Mehrheit gegenüber den 39 %, die sie für ungerecht halten. Umfragen in den ehemals deutsch besiedelten Gebieten zufolge habe man dort mehr Angst um die Wirtschaft als vor einer drohenden Rückkehr der Deutschen. Deshalb sei die Instrumentalisierung des kollektiven Gedächtnisses, die in früheren Zeiten so erfolgreich war, diesmal ohne Wirkung geblieben.
Erinnerungskultur und Zeitzeugen
Ein ganz anderer Kampf um die Erinnerung wurde in Deutschland geführt. Während die Sudetendeutschen und anderen Vertriebenen unter sich die Erinnerung an die verlorene Heimat wachhielten und eine friedliche Rückkehr für möglich ansahen, hatten die beiden aufnehmenden deutschen Staaten ein ganz anderes Interesse: die möglichst schnelle und schmerzlose Integration der „Flüchtlinge“, wie man sie damals nannte. Immerhin galt es, 15 Millionen Menschen Obdach und Arbeit zu verschaffen in einem weitgehend zerstörten Land, ohne dass es zu gesellschaftlichen Verwerfungen kam. Michaela Ast, freie Redakteurin und Kommunikationstrainerin aus Datteln, zeigte, wie sich das im Medium Film spiegelte („ Flucht und Vertreibung im bundesdeutschen Spielfilm der 1950er Jahre und heute“). Dort vermied man jede direkte Beschäftigung mit Flucht und Vertreibung, mit erlittenem Unrecht und erhoffter Rückkehr in die alte Heimat. Vielmehr wurden in sogenannten „Heimatfilmen“ Flüchtlingsschicksale als Ankunft in einer neuen Heimat thematisiert. Wenn es dabei Probleme gab, dann die der Besitzlosigkeit, des Statusverlustes und der Fremdheit, die es mit Hilfe verständnisvoller Nachbarn zu überwinden galt. Die Hoffnung wurde in diesen Filmen auf die anpassungsfähigen Jungen gesetzt, die beim Wiederaufbau gebraucht wurden.
Dieses Projekt Flüchtlingsintegration war im Großen und Ganzen erfolgreich. So verschwand denn um 1960 das Thema Flüchtlinge ganz aus dem Film. Erst mit der „Wende“ begann man, sich in einer Welle von Fernsehdokumentationen, meist mit Zeitzeugenbefragungen, und schließlich auch in Spielfilmen mit den Vertreibungen selbst und den damit verbundenen Leiden und Traumatisierungen auseinanderzusetzen. Anfangs vermied man noch die Frage nach Ursache und Schuld, doch spätestens seit dem Spielfilm „Habermann“ unter der Regie von Juraj Herz (Deutschland/ Österreich/ Tschechien 2009) hat sich auch das geändert. In erbarmungslosen Bildern zeigt er die Schuld auf deutscher wie auf tschechischer Seite. Das gleiche gilt für die Verfilmung von Pavel Kohouts 2000 erschienenem Roman „Die lange Welle hinterm Kiel“ (deutsch-österreichische Produktion 2012), dessen Vorführung zum Tagungsprogramm gehörte. Dass im einen Fall ein Tscheche Regie führte und im anderen die Romanvorlage von einem Tschechen stammt, der auch am Drehbuch mitarbeitete, verweist auf eine neue Art gemeinsamer Rekonstruktion der Geschichte.
Zeitzeugen spielen in der Erinnerungskultur eine große Rolle. Allerdings gilt, einem Bonmot von Alexander Mitscherlich zufolge, der Zeitzeuge als Feind des Historikers. Geschichte und Gedächtnis sind nämlich keine Synonyme. Das machte die Historikerin Susanne Greiter aus Eitensheim deutlich, die über ein eigenes Zeitzeugenprojekt referierte („Erzählte Geschichten und Geschichte im Familiengedächtnis“). Auch sie berief sich auf Maurice Halbwachs und seine These, dass soziale Rahmenbedingungen wie Familie und Öffentlichkeit maßgeblich die Erinnerung an das Erlebte beeinflussen. Dabei gibt es eine Wechselwirkung von kulturellem Gedächtnis und privater Erinnerung, die vor allem von Erzählmilieus und ihren Stereotypen beeinflusst wird. Dabei kann es vorkommen, dass Gehörtes oder Gelesenes sich mit der eigenen Erinnerung vermischt, dass Familiengeschichte aus Scham umgeschrieben wird und Täter im Rechtfertigungszwang zu Opfer mutieren. Das kann wiederum Auswirkungen auf das Gedächtnis der folgenden Generationen haben, wenn Familienloyalität zur unkritischen Übernahme ungeprüfter oder unüberprüfbarer Erzählungen verführt. Solche Geschichten können aber umgekehrt auch Generationenkonflikte auslösen, wenn die offizielle Geschichtsschreibung in eklatantem Widerspruch zu ihnen steht, d. h. wenn die Kinder der Erlebnisgeneration „von der Schule verdorben worden“ sind.
Opferrolle als Verständigungshindernis
Oft unbemerkt bleibt, dass Traumata oder Schweigen über das Erlebte bei den Kindern wiederum traumatische Spuren hinterlassen. Opferrollen werden oft über Generationen weitervererbt und das nicht nur in der Familie, sondern auch in gesellschaftlichen Kollektiven. Ganze Nationen und Schicksalsgemeinschaften gefallen sich in einer ewigen Opferrolle. Die Täter, das sind immer die anderen. So gedenken die Sudetendeutschen immer noch der Opfer vom 4. März 1919, als tschechisches Militär in demonstrierende deutsche Sezessionisten schoss. Auf der anderen Seite hatte ein tschechischer Präsident kein Problem damit, die drohende Herrschaft der deutschen Kanzlerin über Europa, vor allem aber über das kleine Tschechien an die Wand zu malen. Carsten Eichenberger aus Aspach, Mitarbeiter im Stuttgarter „Haus der Heimat“, führte dies in seinem Referat „Wie das Festhalten an Opferrollen Verständigung verhindert – Eine Bilanz nach zwei Jahrzehnten sudetendeutsch-tschechischer Verständigungsbemühungen“ aus.
Václav Havel fasste das schwierige historische Verhältnis seiner Nation zu den Deutschen in die Worte: „Deutschland ist unsere Inspiration, aber auch unser Schmerz.“ Wer im Opfer-Täter-Schema gefangen ist, hat für solche Zwischentöne keinen Sinn. Auch die Entschuldigung des Dichterpräsidenten für die Vertreibung kam nicht an. Nicht in Tschechien, das für sich die alleinige Opferrolle reklamiert. Und nicht bei der Sudetendeutschen Landsmannschaft, die auf die Entschuldigung mit neuen Forderungen reagierte. Wer sich selbst als Opfer sieht und den anderen als Täter, tut sich eben schwer mit Frieden und Verständigung, so Eichenberger. Gerne missversteht man dann die Absichten des anderen. Wenn die Tschechen von „Schlußstrich“ sprechen, denken die Sudetendeutschen, dass Unrecht unter den Teppich gekehrt werden soll. Wenn die Sudetendeutschen von „Recht auf Heimat“ sprechen, denken die Tschechen, die wollen ihr Eigentum zurück.
Opfer zu sein hat den Vorteil, so Eichenberger weiter, im Recht zu sein, nicht nach eigener Schuld suchen zu müssen und vielleicht eine Entschädigung zu bekommen. Es bedeutet aber auch, mit einer Deformation leben zu müssen, die aus einer Verletzung herrührt. Opfer sein heißt, etwas passiv erdulden. Die Versuchung, aus dieser Schwäche heraus selbst Unrecht tun, ist groß. Ein Weg aus dieser Misere wäre die Erkenntnis, dass auch die (kollektiven) Täter zuvor vielleicht Unrecht erlitten haben. Verständigung wird möglich, wenn sich jeder fragt, was die eigene Gemeinschaft der anderen im Laufe der Geschichte angetan hat. Eine solche Verständigung setzt freilich auch gleiches historisches Wissen, gleiche Begriffe, Kritikfähigkeit in eigene Fehler und Einfühlungsvermögen in den anderen voraus.
Verständigung erfordert Wissen
Dass Verständigung und Versöhnung unter diesen Voraussetzung möglich ist, bestätigte der Historiker und Publizist Andreas Kalckhoff aus Stuttgart in seinem Vortrag „Die Gedenktafel in Postelberg und ihre Geschichte“. Er beschrieb darin den langen Weg, den vertriebene Deutschböhmen gingen, um in Tschechien eine Gedenkstätte für die Opfer des Nachkriegsmassakers in Postelberg zu bekommen, bei dem nachweislich 763 Männer, Frauen und Kinder umkamen. Lange Zeit erschien dies unmöglich, weil selbst wohlwollende tschechische Politiker sich nicht in der Lage sahen, dies in den Gemeindeorganen durchzusetzen. Erst eine mehrjährige Kampagne zur Aufklärung der Öffentlichkeit mit Dokumentationen, Zeitzeugenauftritten, Ausstellungen, öffentlichen Lesungen, Theaterstücken, Podiumsdiskussionen und die Unterstützung lokaler wie landesweiter Medien führte zum Entschluss der Postelberger Stadtverordneten, auf dem Friedhof eine bescheidene Gedenktafel anzubringen. Nur „sine ira et studio“ – ohne Wut und Übereifer – und mit Einfühlung in die Verletzlichkeiten einer Nation, die selbst in einer Opferrolle lebt, in der die Deutschen die Täter sind, war dies möglich.
Ganz ähnliche Erfahrungen machte Wolfgang Kaiser, Vorsitzender des sudetendeutschen Heimatkreises Niemes („ Konkrete Erfahrungen deutsch-tschechischer Begegnungen auf Heimatkreisebene“). Durch regelmäßige Besuche in Niemes|Mimoň und den zahlreichen umliegenden Orten, die vom Heimatkreis betreut werden, konnte er die Freundschaft und das Vertrauen der Bürgermeister, Archivare und anderer Honoratioren gewinnen, die dennoch vermieden, sich durch schriftliche Einladungen oder Absender auf Postsendungen nach „drüben“ als Deutschenfreunde festzulegen, weil dies vielleicht politisch schaden könnte. (Der Berichterstatter kann hier ergänzen, dass Tschechen bei Kontakten zu Deutschen bei ihren Landsleuten leicht in den Verdacht geraten, sich bestechen zu lassen – zu welchem Zweck auch immer. Vor allem Vertreter aus dem Umkreis der Sudetendeutschen Landsmannschaft werden misstrauisch beobachtet, auch wenn sie das nicht immer wahrnehmen.) Kaisers Erfahrungsbericht zeigte, dass durch persönliche Kontakte und bescheidenes Auftreten in Tschechien mehr zu erreichen ist, als durch starke Fensterreden. Als Angehörige eines kleinen Volkes haben die Tschechen die nicht unberechtigte Sorge, in einem Augenblick der Unaufmerksamkeit vom großen Nachbarn Deutschland eingesackt zu werden.
Nationale Stereotype: selbstironisch oder humorlos
Eichenberger wies daraufhin, dass die deutsch-tschechische Verständigung auch durch das Ungleichgewicht gegenseitiger Aufmerksamkeit für einander erschwert wird. Während die kleine Nation der Tschechen das, was in Deutschland geschieht, jederzeit aufmerksam beobachte, finde das politische und wirtschaftliche Geschehen in Tschechien beim großen Nachbarn nur gelegentlich Beachtung. Es herrscht also in Deutschland ein Mangel an Wissen über Tschechien. Da wiegen dann die allgegenwärtigen Stereotype umso schwerer.
Der Germanistikprofessor Jan Čapek von der Universität Pardubitz|Pardubice stellte diese in einem launigen Vortrag mit reichem Anschauungsmaterial vor („Gegenseitige Wahrnehmung von Deutschen und Tschechen am Beispiel der gegenseitigen Stereotypen“). Stereotype, den Volkscharakter betreffend, dienen der Abgrenzung, und die scheint umso notwendiger, je ähnlicher sich die Völker sind. Interessant sind dabei nicht nur die Fremdzuschreibungen, sondern auch die Selbstzuschreibungen. Hier ist Selbstironie typisch für Gemeinschaften, die sich unterlegen fühlen. So gefallen sich die Tschechen durchaus in der Rolle des Schwejk, eines gerissenen, kreativen, flexiblen, lebenslustigen, disziplinlosen, toleranten und agnostischen Plebejers, der mit seiner Bauernschläue die „Großkopferten“ austrickst. Auf der anderen Seite sind die Deutschen ziemlich humorlos stolz auf ihre Ordnungsliebe, Organisationstüchtigkeit, Pünktlichkeit, Gründlichkeit, Direktheit und Professionalität. Stereotype können, verdichtet zu Karikaturen, amüsieren, aber man sollte nicht vergessen, dass sie ihre Wirkung aus einer Reduktion von Wirklichkeit ziehen. Halbe Wahrheiten können aber sehr gefährlich sein.
Die Tagung schloss mit einem Referat des Historikers und Publizisten René Küpper aus München: „Edvard Beneš – Annäherung an eine kontroverse Gestalt“. Sehr zu seinem Bedauern konnte der Berichterstatter es nicht mehr anhören.
- Tagungsteilnehmer vor der Karte Böhmens und Mährens
- Tagungspublikum
- Brünner Studenten
- Dr. Michaela Ast mit Tagungsteilnehmern