Von Prof. Dr. Adalbert Wollrab
Die tschechische Öffentlichkeit erfährt von „Postelberg“
Zu den schrecklichsten Ereignissen der Nachkriegsgeschichte zählt mit Sicherheit der Todesmarsch [1] der deutschen männlichen Bevölkerung der Stadt Saaz am 3. Juni 1945 von Saaz nach Postelberg und die Massenmorde in der Postelberger Kaserne, in Postelberg und in der Umgebung von Postelberg. Die Verbrechen in Postelberg wurden an der deutschen Zivilbevölkerung, an unschuldigen Männern, Frauen und sogar Kindern verübt.
Die Zusammenarbeit des damaligen Vorstandes des Kulturkreises Saaz e. V. unter Vorsitz von Prof. Dr. Herbert Voitl mit dem tschechischen Saazer Verein „Vereinigung der Landsleute und Freunde der Stadt Saaz“ (im weiteren benutze ich für diesen Verein die Abkürzung rodáci) ermöglichte es, dass in Saaz am 19. September 2002 eine Gedenkfeier für die Opfer der Postelberger Massaker, auch mit Einverständnis des Saazer Bürgermeisters, abgehalten werden konnte. Um die Dreifaltigkeitssäule [sogenannte „Pestsäule“] am Marktplatz in Saaz versammelten sich die angereisten [Deutsch-] Saazer Teilnehmer der Feier [2], und vor Vertretern der geladenen tschechischen Presse erstattete unser Saazer Landsmann Peter Klepsch einen Erlebnisbericht, den ich simultan in die tschechische Sprache übersetzte. Es folgte eine Fahrt zur Kranzniederlegung im Fasanengarten bei Postelberg und am Nachmittag eine umfangreiche Pressekonferenz im Hotel Motes in Saaz.
Eine breite tschechische Öffentlichkeit erhielt durch die Zeitungsartikel über diese Feier Kenntnis von den Verbrechen in Postelberg, und dies war der Auslöser dafür, dass sich Medien in der Tschechischen Republik eingehend mit dem Postelberger Massaker befassten. [Beträge dazu leisteten auch] die Wanderausstellung „Die Opfer der kommunistischen Macht in dem nordböhmischen Gebiet in den Jahren 1945-1946″, das in [erstmals n Laun und später auch in] Prag aufgeführte Theaterstück „Porta Apostolorum“[4] und die Sendung des tschechischen Fernsehens über die Morde in Postelberg „Auch Morde bewillkommneten den Frieden“). Diese medialen Ereignisse in der Tschechischen Republik rückten die Postelberger Verbrechen in das Bewusstsein der tschechischen Bevölkerung, und dies ebnete die Wege, die – so hoffe ich – in Postelberg zu einem Denkmal für die Opfer der Postelberger Massaker führen könnte.
Otokar Löbl beantragt eine Gedenktafel in Postelberg
Einen wichtigen Schritt in diese Richtung machte Herr Otokar Löbl, der Vorsitzende des „Fördervereins der Stadt Saaz“. Dies ist ein in der Bundesrepublik gegründeter Schwesterverein der rodáci unter dem Vorsitzenden Otokar Löbl, der sowohl deutsche als auch tschechische Mitglieder hat. In seiner Funktion als Vorsitzender des Vereins forderte Löbl im Dezember 2007 den Bürgermeister von Postelberg und den Postelberger Magistrat auf, im Sinne der Aufarbeitung der tschechischen Nachkriegsgeschichte für die Opfer des Postelberger Massakers ein Mahnmal mit einer Gedenktafel zu erstellen.
Der Magistrat der Stadt Postelberg war zunächst dagegen bzw. wollte nur einem Mahnmal mit Gedenktafel zustimmen, die der Opfer allgemein gedenkt – der Kriegsopfer, der tschechischen Opfer des Faschismus und auch der Opfer des Postelberger Massakers. Dem hat Herr Löbl nicht zugestimmt. Gegenüber der Saazer Zeitung „Denik Lucan“ sagte er am 26. August 2008, „dies erscheint mir wie ein Alibismus. In Saaz haben z. B. auch die Opfer im wolhynientschechischen Malin ein Denkmal [5]. Ich bin der Auffassung, dass auch die deutschen Opfer verdienen, geehrt zu werden“.
Der schwierigste Punkt der Verhandlungen mit dem Postelberger Magistrat bezog sich auf den Text des Mahnmals. Schließlich stimmte der Rat der Stadt einer sechsköpfigen Kommission zu, die auf der Sitzung der Postelberger Stadtverordnetenversammlung im 18. Februar dieses Jahres bestätigt wurde und die einen Vorschlag für einen Gedenkstein unterbreiten soll. Ihr gehören an: Jaroslav Vodicka für den Regionalverein der Wolhynientschechen, Michael Lichtenstein, der zweite Vorsitzende der jüdischen Gemeinde in Teplitz [6], Walter Urban, ein alteingesessener Postelberger [7], Petr Schöll, Mitglied des Finanzausschusses der Stadt Postelberg, Michal Pehr, ein Historiker und Vorsitzender der Christlich-Sozialen Partei in Laun, und Otokar Löbl. Die Kommission soll die Modalitäten ausarbeiten – wo das Denkmal stehen soll, wie es aussehen soll, die Inschrift der Gedenktafel und wie die Finanzierung erfolgen soll. Der Vorschlag der Kommission muss dann noch die Zustimmung im Stadtrat und der Stadtverordnetenversammlung finden. Die Kommission wird im Frühjahr dieses Jahres tagen.
Podiumsdiskussion in Prag
Im Rahmen der Wanderausstellung „Opfer der kommunistischen Macht in Nordböhmen in den Jahren 1945-1946 – War es gerechte Vergeltung, Rache oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit?“, die sich gerade in Prag befindet, gab es am 26. Februar 2009 eine Podiumsdiskussion in Novodvorská, einem Stadtteil in Prag. Zu dieser Veranstaltung, die als Informationsveranstaltung zu den Postelberger Geschehnissen gedacht war, lud Herr Löbl Bürger von Postelberg, das Stadtparlament und Mitglieder der Kommission ein, um ihnen die Möglichkeit zu eröffnen, sich in der Ausstellung und in der Podiumsdiskussion eingehend über die Postelberger Massaker zu informieren. In dieser Podiumsdiskussion schlugen die Emotionen hohe Wellen. Dies ergab sich auch daraus, dass zu der Podiumsdiskussion viele Kommunisten, angeführt von der Sprecherin des Zentralkomitees der tschechischen kommunistischen Partei, und Leute des extremen nationalistischen „Klubs des tschechischen Grenzgebietes“ gekommen waren.
Über die Podiumsdiskussion und die Ausstellung erschien in der „Mladá Fronta DNES“, der in der Tschechischen Republik meistgelesenen Zeitung, ein kurzer Artikel, den ich in deutscher Übersetzung anführe, um dem Leser einen Eindruck über den Verlauf der Podiumsdiskussion zu vermitteln:
Vertreibung oder Abschiebung (odsun)? Oder sollen wir heute Transfer sagen? Es schmerzt und brennt bis heute. Unerwartet hohe Emotionen rief eine Debatte über die Vertreibung, oder wenn sie so wollen, den „odsun“ der Sudetendeutschen hervor. Im Kulturzentrum Novodvorská wurde die Podiumsdiskussion von Otokar Löbl organisiert, der sich schon lange um eine Versöhnung zwischen Deutschen und Tschechen bemüht. Bei der Organisation der Podiumsdiskussion hat die „Mladá Fronta DNES“ geholfen. Ab und zu gab es Schreie aus dem Publikum, voller Emotionen, scharfe Wortgefechte – so als ob nicht schon sechzig Jahre seither vergangen wären. Die geladenen Gäste, die Historiker und Publizisten sprachen in versöhnlichem Geiste. Einer, der Schweizer Historiker Adrian von Arburg, appellierte an die Anwesenden: ‚Wir wollen uns vom Schachterldenken und von der Ideologie loslösen.‘ Seine tschechischen Kollegen, Michal Pehr und Vit Smetana wiesen darauf hin, dass die Vertreibung oder die Abschiebung (odsun) nur eine Reaktion darauf waren, wie sich die Sudetendeutschen vor dem Krieg benommen haben. Das entschuldigt aber nicht die Verbrechen, die nicht in Zweifel gezogen werden dürfen. Die Atmosphäre im Saal war dick. Ein Teil des Publikums wollte eine derartige Diskussion gar nicht zulassen: ‚Die Deutschen haben am Kriegsende in Prag hundert Menschen, Frauen und Kinder verbrannt‘, so argumentierte einer von ihnen. Ein weiterer erklärte, eine solche Debatte zu führen wäre schamlos in einem Prager Stadtteil, wo während des Krieges ein Fallbeil stand und viele unschuldige Leute starben. Die Atmosphäre war auch deshalb so schlecht, weil die Diskussion von einer provokativen Ausstellung begleitet wird, die von der Föderation unabhängiger Schriftsteller im Kulturzentrum veranstaltet wird. Sie versucht zu beweisen, dass die sogenannte Wilde Vertreibung, bei der Deutsche umgebracht und gefoltert worden waren, das planmäßige Werk der Kommunisten war. Damit waren die Historiker und die Publizisten und eine Reihe von Diskutierenden nicht ganz einverstanden: An den Verbrechen beim ‚Transfer‘ (ein neutrales Wort, das Vit Smetana vorschlug) hatten alle Bevölkerungsschichten einen Löwenanteil. Als eine Dame auf den antikommunistischen Charakter der Ausstellung hinwies, reagierte der Publizist Bohumil Doležal: ‚Aber ich bin ein Antikommunist – das darf man doch heute wohl sein! Und auch die übermäßig scharfe, persönliche Debatte, in der es aber keine Ohrfeigen gab, sondern nur Argumente, trägt dazu bei, dass man über alles reden darf.
Diese, vom Chefkommentator der „Mladá Fronta DNES“ Martin Komárek moderierte Podiumsdiskussion hat klar aufgezeigt, mit welchen Voreingenommenheiten, Aversionen und Hassäußerungen man sich auch heute immer noch bei dem Thema Aufarbeitung der Vergangenheit in der Tschechischen Republik auseinandersetzen muss. Die Kommission, die einen Vorschlag für ein Mahnmal in Postelberg erarbeiten soll, wird es nicht leicht haben. Es ist zu hoffen, dass es trotzdem ein Mahnmal für die Opfer des Postelberger Massakers geben wird und vor allem, dass es eine dem Gedenken würdige und der Wahrheit entsprechende Inschrift tragen wird, die den Opfern gerecht wird, und keine nichtssagende Formulierung.
Zur Ausstellung „Opfer der kommunistischen Macht“
Um nochmals auf die Ausstellung zurückzukommen. Sie hat sicherlich dazu beigetragen, dass viele, vor allem auch junge Tschechen, von den an Sudetendeutschen in Postelberg verübten Massenmorden Kenntnis erlangt haben, und dass der tschechischen Bevölkerung nach vielen Jahren kommunistischer Indoktrination neue Erkenntnisse über die Vertreibung gegen bisher festgefressene Klischees vermittelt wurden. Es ist leicht einzusehen, dass es sich für manche Tschechen dabei um einen schmerzlichen Erkenntnisprozess handelt. Die Ausstellung ist objektiv und entspricht den Tatsachen. Sie zeigt auf, dass die Kommunisten einen Löwenanteil der Schuld an den in Postelberg verübten Massakern tragen. Die Massenmorde waren, wie die Ausstellung dokumentierte, nicht eine Explosion des Volkszorns, sondern ein Akt der Staatsmacht. Sie wurden vom tschechoslowakischen Militär geplant, organisiert und von Einheiten der Svoboda-Armee durchgeführt. Die Svoboda-Armee, die der Kommunist General Svoboda befehligte [9], wurde nach Einnahme von Wolhynien [in der Ukraine] durch die Sowjetarmee zusammengestellt. Einer der Haupträdelsführer bei den Massenmorden in Postelberg, Oberleutnant Zícha (Deckname Petrov) wurde später Vorsitzender des Kreisnationalausschusses (Okresni národni vybor [wörtlich „Bezirksnationalausschusses“]) in Saaz und war Kreisvorsitzender der kommunistischen Partei in Saaz.
Die Täter waren allerdings nicht nur die Kommunisten. Sie hatten willige Helfer, vor allem extrem nationalistisch geprägte Tschechen, z. B . im Okresni národni vybor (Nationalausschuss) in Saaz. Dessen seinerzeitiger Vorsitzende Dr. Petraček war kein Kommunist und er war am Organisieren des Todesmarsches der Saazer Männer nach Postelberg maßgebend beteiligt gewesen. Eine entscheidende Rolle spielte schließlich auch die Habgier nach deutschem Eigentum und auch bei manchen Tschechen der Umstand, dass sie durch Dienste für die Nazis Dreck am Stecken hatten und sich durch übereifrigen „Patriotismus“ reinwaschen wollten.
Letztendlich war auch das Postelberger Massaker eingebettet in den Ablauf und in den Rahmen der Vertreibung der Sudetendeutschen, und [waren] die Massenmorde nur möglich, weil die Beneš-Dekrete die entsprechenden Rahmenbedingungen herstellten: durch Enteignung der Deutschen, deren Kennzeichnung [durch Armbinden], deren Einsatz zur Zwangsarbeit und Einweisung in Lager und nachträglich auch noch durch Legalisierung der an Deutschen nach Kriegsende begangenen Verbrechen. Schließlich hatten auch die Teilnehmer der Diskussionsrunde recht, welche behaupteten, dass an den an Sudetendeutschen verübten Verbrechen alle tschechischen Bevölkerungsschichten einen Anteil hatten: alle nach Kriegsende zugelassenen tschechischen Parteien haben im Kaschauer Programm der Vertreibung zugestimmt. Und die Vertreibung von Millionen von Menschen ist eines der größten Verbrechen des 20. Jahrhunderts.
Anmerkungen der Redaktion:
[1] Unter „Todesmarsch“ versteht man Märsche von Gefangenen von einem Lager zum anderen, die ohne Rücksicht auf die Gesundheit und ohne Verpflegung der Häftlinge über eine große Entfernung durchgeführt wurden, wobei der Tod der Häftlinge nicht nur in Kauf genommen, sondern durch Erschießung von schwachen und kranken Teilnehmern absichtlich herbeigeführt wird. Postelberg liegt 15 Kilometer von Saaz entfernt. Tatsächlich kamen auf dem Hin- und Rückweg einige Häftlinge zu Tode. Auch sind hunderte von ihnen tatsächlich insofern „in den Tod marschiert“, als sie in Postelberg ermordet wurden. Trotzdem ist dieser Marsch nicht mit den bekannten Todesmärschen, etwa dem von Brünn vergleichbar, erst recht nicht mit den Todesmärschen aus KZs , die den Tod der Marschierenden regelrecht zum Ziel hatten.Kranzniederlegung zur „Reichskristallnacht“ in Saaz
Tschechen und Deutsche gedenken der Leiden ihrer jüdischen Mitbürger
Tschechen und Deutsche trafen sich am Montag, den 10. November 2008 in Saaz|Žatec zu einem Gedenkakt an der Synagoge, die vor 70 Jahren in der sogenannten „Reichskristallnacht“ gebrandschatzt wurde. An der Feierlichkeit beteiligten sich Vertreter und Mitglieder der jüdischen Gemeinde Teplitz sowie städtische und staatliche Repräsentanten. In Saaz gibt es seit der Nazizeit keine jüdische Gemeinde mehr. Die Synagoge, die in kommunistischer Zeit als Lagerhalle diente, ist heute äußerlich renoviert, die Innenräume warten indes noch auf eine Wiederherstellung und angemessene Nutzung.
Vertreter des deutschen „Fördervereins der Stadt Saaz|Žatec“ und des „Heimatkreises Saaz“ sowie des tschechischen Vereins der „Landsleute und Freunde der Stadt Žatec“ legten am Haupteingang der Synagoge einen Kranz nieder. Ein jüdischer Geistlicher trug Verse aus den Alten Testament in Tschechisch und Hebräisch vor, der Kinderchor „Poupata“ sang jüdische und tschechische Lieder. Anschließend traf man sich im Saazer Rathaus, wo die Kinder ihre Aufführung fortsetzten. In Ansprachen wurde an in die schrecklichen Ereignisse während Nazi-Okkupation erinnert.
Der Vorsitzende des „Fördervereins“, Otokar Löbl, hob gegenüber der Presse den kulturellen Verlust hervor, den Saaz durch die Vernichtung der Juden und ihrer Gemeinde erlitten habe. Überlebende, die später zurückkehren wollten, seien wegen ihrer deutschen Sprache unerwünscht und wie alle Deutschen von Enteignungen betroffen gewesen. In der tschechischen Presse fand das Ereignis große Aufmerksamkeit. Anwesend waren neben Vertretern der Saazer Presse Redakteure der Zeitungen Svobodny Hlas (Louny), MF Idnes, Blesk, Pravo sowie Vertreter der Presseagentur CTK und des nordböhmischen Rundfunks.
An dem Gedenken beteiligten sich namentlich der Bürgermeister von Saaz, Erich Knoblauch, der Senator der Tschechischen Republik, Marcel Chládek, der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Teplitz, Oldrich Latal, sowie als weiteres Vorstandsmitglied Herr Loblowitz, der Vorsitzende des „Fördervereins der Stadt Saaz|Žatec“, Otokar Löbl, das Vorstandsmitglied des „Heimatkreises Saaz“, Helmut Wabra, das Mitglied des „Freundeskreises Deutsch-tschechischer Verständigung“, Bohuslav Řeřicha, der Vorsitzende des tschechischen „Vereins der Landsleute und Freunde der Stadt Žatec“, Petr Šimácek, und für die Wolynientschechen und den Verband der Freiheitskämpfer, Jaroslav Vodicka, außerdem weitere Mitglieder der genannten Vereine sowie Gäste.
- Gäste der Veranstaltung
- Löbl und Šimáček
- Auf den Weg zu der Synagoge
- Senator der ČR Marcel Chládek
- Der Direktor des Stadtmuseums Kopica
- Bürgermeister der Stadt Saaz Knoblauch
- Oldřich Látal, der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Teplice
Massaker an Sudetendeutschen
Wolfgang Kramer und Stefan Reiss | ZDF-Frontal 8. August 2006
Die Tschechen und die Opfer
Postelberg, das heutige Postoloprty, ist eine kaum bekannte kleine Stadt im Norden der Tschechischen Republik. In der Nachkriegszeit, im Juni 1945, geschah dort eines der schlimmsten Massaker an der deutschen Bevölkerung. Damals wurden mehrere hundert deutsche Bewohner der Ortschaften Postelberg und Saaz ermordet.
Im politischen und gesellschaftlichen Leben der Tschechischen Republik ist das Interesse an der Abschiebung der Deutschen und an den Vertreibungsverbrechen gering. Erst seit wenigen Jahren sind amtliche Prager Schriftstücke aus dem Jahr 1947 zugänglich, die die Ereignisse und Gräuel in Postelberg und Saaz belegen.
Aus den Dokumenten geht hervor, dass die Misshandlungen und Erschießungen von Offizieren und Soldaten der tschechoslowakischen Armee geplant und ausgeführt wurde. Die Einheiten standen unter kommunistischem Kommando. Beteiligt war auch eine Abteilung des tschechoslowakischen Armeenachrichtendienstes OBZ, die in der Sowjetunion ausgebildet wurde.
Soldaten erschossen Hunderte
Peter Klepsch hat als Betroffener die Ereignisse miterlebt. Der Zeitzeuge besuchte zusammen mit Frontal21 die ehemalige Kaserne in Postelberg. Dort trieben die Soldaten die Männer zusammen. Beim Rundgang über das Gelände ist er immer noch erschüttert: „Wenn man den Platz hinter mir als den Vorhof der Hölle bezeichnen möchte, war das hier bereits die Hölle.“ Angeblich sollten die Internierten auf ihre Verstrickung mit dem Naziregime geprüft werden. Doch die Soldaten erschossen Hunderte und verscharrten sie in Massengräbern; viele von ihnen wurden vorher grausam gefoltert.
Klepsch erinnert sich weiter: „Wir waren wie Kälber vor der Schlachtbank gewesen. Wir waren so eingeschüchtert.“ Schnell war den Inhaftierten klar, um was es wirklich ging, weiß Klepsch: „Am Mittwoch lief hier alles aus dem Ruder. Die Leute – soweit sie noch lebten – in dem Todesblock merkten, was man mit ihnen vorhatte. Sie schrien und tobten – und man hat hineingeschossen.“ Bei späteren Exhumierungen wurden hunderte Leichen gefunden. Klepsch, damals fast 17 Jahre alt und bei Kriegsende noch in Gestapo-Haft, kann die schrecklichen Ereignisse nicht vergessen.
Politiker fordert Schlussstrich
Doch im politischen Alltag der Tschechischen Republik spielt dieses Kapitel aus der Nachkriegsgeschichte so gut wie keine Rolle. Jan Zahradil, Europaabgeordneter und außenpolitischer Sprecher der Demokratischen Bürgerpartei (ODS) sagt im Hinblick auf die Abschiebung der Deutschen gegenüber Frontal21: „Es ist eine Sache – davon sind wir fest überzeugt -, die längst Geschichte ist, die vor über sechzig Jahren geschehen ist. Deswegen kann man daraus in der Gegenwart keine politischen und juristischen Konsequenzen ziehen.“ Seine Folgerung: „Wir müssen einen Schlussstrich darunter ziehen, damit wir in die Zukunft und nicht in die Vergangenheit schauen können.“
Es sind eher wenige wie der Regisseur Miroslav Bambusek und der Schriftsteller Eduard Vacek, die mit experimentellem Theater und einer ersten Ausstellung an die Verbrechen der Nachkriegszeit erinnern. Peter Klepsch bedauert dagegen, dass es in all den Jahren seit der Wende in der Tschechischen Republik noch immer nicht gelungen ist, mit einem Gedenkstein an das Massaker von Postelberg zu erinnern.
© ZDF 2006

Der Kreislauf der Gewalt
Von Uta Reiff | Erstmals veröffentlicht im Katalog zu der Ausstellung „Die Opfer der kommunistischen Macht in Nordböhmen in den Jahren 1945-1949“
Viele Menschen haben in den letzten siebzig Jahren Schreckliches erlebt, während und auch nach dem Ende des furchtbaren letzten Krieges. Über diese Erlebnisse wurde damals kaum gesprochen, sondern sie wurden verdrängt. In den Kriegs– und Nachkriegsjahren galt es als klüger, zu schweigen – speziell für Deutsche und Sudentendeutsche und, wie im vorliegenden Fall des Massenmordes in Postelberg (Postoloprty) und der Nachkriegsereignisse in Saaz (Žatec), das Erlebte tief in sich zu vergraben. Oft erst im Alter zeigt sich bei vielen Betroffenen eine Reaktivierung des Erlittenen in Form eines Traumas. Dabei brechen die erlebten Angsterfahrungen wieder auf und stürzen die Menschen in eine Krise. Die Erlebnisberichte in diesem Heft legen davon ein lebhaftes Zeugnis ab. Ich selbst war als siebenjähriges Kind mit meiner Mutter und meinem neunjährigen Bruder in Saaz im Frauenlager, von Juni 1945 bis Februar 1946. Ich habe daran schreckliche Erinnerungen. Auch meine Aussage ist in diesem Katalog, ebenso die Zeugenaussage meines Bruders Hans Jäckl, damals 17 Jahre alt. Mein Vater wurde in Postelberg ermordet.
Ich bin Systemische Familientherapeutin und Körperpsychotherapeutin. Das Wort „systemisch“ ist wichtig, denn eine „Systemische Therapie“ bedeutet, dass ich mich mit dem System von Beziehungen befasse, sei es in der Familie, einem Team in einem Betrieb, in Institutionen und Gemeinschaften, auch in Völkergemeinschaften. Die Körperpsychotherapie befasst sich mit der Tatsache, dass alle schlimmen und traumatischen Erlebnisse eines Menschen in dessen Körper und Psyche gespeichert werden. Die Menschen haben versucht, diese Ereignisse zu verdrängen, ins Unbewusste zu versenken, aber es gelingt meist nicht. Sie zeigen sich in Krankheit und Traumata. Durch Arbeit am Körper, die Garantie der Sicherheit durch den Therapeuten und vorsichtiges Herantasten an die Situation/ das Ereignis, das das Trauma bewirkte, können diese Traumata erlöst und verarbeitet werden, was oft eine große Verbesserung des seelisch-körperlichen Zustandes bewirkt.
Ein Trauma zu verarbeiten gelingt oft, wenn das Ereignis, das dem Trauma zugrunde liegt, anerkannt und gewürdigt wird. Oft mit dem Satz: „Ja, das war so und es war ganz schrecklich.“ Es ist dabei nicht nötig, die Einzelheiten und die Gründe für diese Taten darzulegen, oder die Schuldfrage zu klären. Es ist zur Heilung das Anerkennen nötig, dass das Ereignis stattgefunden hat und keine Wahnvorstellung ist. Es ist keine Anerkennung von Schuld nötig, zumal wenn die Täter nicht mehr leben und eine Schuldanerkenntnis gar nicht mehr gegeben werden kann, wie im vorliegenden Fall der Morde von Postelberg und der Ereignisse in Saaz. Es erscheint mir wichtig, gerade das hier zu betonen.
Die Ereignisse in Saaz und Postelberg liegen Jahrzehnte zurück, und es wäre absurd von Schuld der nachgekommenen Generationen zu sprechen. Psychologisch gesehen, sind oft Täter und Opfer in einer unlösbar erscheinenden Verstrickung aneinander gebunden oder miteinander verbunden, d. h. Opfer und Täter sind oft ein und derselbe Personenkreis oder Angehörige eines Kreises, einer Gemeinschaft, eines Volkes, die sich schicksalhaft abwechseln in den Rollen von Täter und Opfer. Die Geschichte und die Psychologie lehren uns, dass die jeweiligen Opfer bzw. deren Kreis oder Gemeinschaft oder deren Volk – egal welcher Nationalität – wieder zu Tätern werden würden, und die Täter – oder deren Kreis – wieder zu Opfern, wenn sich irgendwie die Gelegenheit bieten würde. So wechseln sich diese schicksalhaften Verstrickungen, quer durch alle Familien, Gemeinschaften und Völker ab, oft rasch im einzelnen, privaten Leben oder Familienkreis, oft erst nach Jahren oder Jahrzehnten im großen Kreis von Gemeinschaften oder Völkern. Es ist wie ein schreckliches Karussell, wie ein Totentanz.
Das hier ausgeführte Modell von Opfern und Tätern, das sich ständig wiederholt, ist in der Psychologie wohlbekannt. Da kommt dann oft noch der „Retter“ hinzu, der aber auch zum Täter oder zum Opfer werden kann. Die Rollen wechseln immer wieder, und es ist unser aller Aufgabe diesen schrecklichen Automatismus zum Stillstand zu bringen
Auch in der Psychotherapie ist es letztlich unmöglich herauszufinden, wann wer womit angefangen hat. Der Täter wird immer einen Grund finden, das Opfer zu strafen, und das Opfer wird sich rächen und leider nicht nach einer Erklärung suchen, warum es zum Opfer wurde. Diese Erfahrung haben wir alle schon gemacht, z. B. im Familienkreis. Die griechischen Tragödien, die von Blut triefen und sich nur von Rachegedanken nähren, sind ein deutlicher Beweis dafür, dass dies offensichtlich schon seit Urzeiten gilt: Es wird Rache geübt, und neue Untaten folgen, unter denen meist Unschuldige leiden.
Es gilt also folgendes: Das schreckliche Rad Opfer-Täter kann angehalten werden durch die Anerkennung der Leiden des Opfers und Öffentlichmachung der Tat durch den Täter bzw. den Täterkreis, der Gemeinschaft oder dem Tätervolk. Geschieht die Anerkennung der Tat nicht, bleibt in einer Familie, einer Gemeinschaft oder einem Volk der bittere Nachgeschmack und … meist leider Rachegedanken. Und die Untaten beginnen von neuem oder besser, sie setzen sich fort, das Opfer wird bei nächster Gelegenheit wieder zum Täter usw. usf.
Im Fall Postelberg und Saaz ist im Licht der obigen psychologisch-historischen Erkenntnisse folgendes zu sagen: Eine Öffentlichmachung in Form z. B. eines Mahnmals für diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit wäre nicht nur eine psychische Hilfe für die Opfer und deren Nachkommen, sondern vor allem für die Täter bzw. deren Nachkommen, denn damit könnten sie ihre seelische Reinheit wiedergewinnen und die Scham für diese Taten ablegen. Wenn Deutschland sich nicht zu den furchtbaren Verbrechen der Nazizeit bekannt hätte, so wären die Folgen für die seelische Gesundheit des deutschen Volkes der Nachkriegszeit katastrophal gewesen – und auch für die Wiederaufnahme in die Völkergemeinschaft. Die Nachkommen der Täter, egal auf welcher Seite, tragen keine Schuld, aber es ist für sie von großer Bedeutung, sich dazu zu bekennen, damit die Scham nicht fortbestehen muss.
Ziel einer humanistischen menschlichen Gemeinschaft, die diesen Namen verdient, kann es nur sein, diesen Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt zu stoppen. So, dass nicht mehr auf jede Tat die Rache folgt und auf die Rache wieder die Tat oder Untat der Gegenseite. Wir müssen aufhören, uns über Generationen und Jahrhunderte hinweg gegenseitig die Schuld zuzuschieben und damit eine Rechtfertigung zu finden für unsere Taten oder Untaten, für unsere angeblich gerechtfertigte Vergeltung.
Seit dem blinden Racheakt von Postelberg sind nun fast 64 Jahre – drei Generationen – vergangen, und es wäre gut, ein Denkmal in Postelberg zu errichten. Ob die Ermordeten Untaten oder Verbrechen begangen haben, das wusste und weiß niemand, es gab kein Gericht und keine Rechtsprechung für sie. Nun müssen sie sich vor ihrem Schöpfer verantworten, nicht mehr vor einem irdischen Gericht. Für uns Nachkommen der Toten und für die Überlebenden wäre ein solches Denkmal in Postelberg auch und vor allem ein Platz der Trauer, wo wir unserer Toten gedenken und für sie beten könnten, für sie, die nie ein Grab bekommen haben, sondern verscharrt wurden wie tote Hunde. Wir, die Überlebenden, die Angehörigen und Nachkommen der Opfer, wollen keine Rache, keine Schuldzuschreibung an die Nachkommen der Täter, sondern wir wollen unseren Toten die ewige Ruhe wünschen und in Liebe an sie denken.
Mein Vater hat mir sehr gefehlt.
Gedenkakt zum Brand der Saazer Synagoge
Anläßlich des Jahrestages der „Reichskristallnacht“ fand am Montag, den 12. November 2007, um 15.00 Uhr in Saaz|Žatec ein stiller Gedenkakt statt. Die Vorsitzenden des deutschen „Fördervereins der Stadt Saaz|Žatec“ und des tschechischen „Vereins der Landsleute und Freunde der Stadt Saaz“, Otokar Löbl und Petr Šimáček, legten in Anwesenheit von Vertretern der jüdischen Gemeinde Teplitz am Haupteingang der Synagoge einen Kranz nieder. Anschließend fand eine Besichtigung der in Renovierung befindlichen Innenräume des Synagoge sowie eine Pressekonferenz im Hotel „U hada“ statt.
Die Saazer Synagoge, 1871-1872 errichtet, ist das zweitgrößte derartige Bauwerk in Böhmen. In der „Reichskristallnacht“ brannte sie innen aus, Schlimmeres konnte die beherzte Saazer Feuerwehr verhindern. Mittlerweile ist das ehemalige Gotteshaus außen wiederhergestellt. Berühmt für seine Akustik, soll es nach seiner Innensanierung kulturellen Zwecken dienen. In Saaz gibt es seit dem Holocaust keine jüdische Gemeinde mehr. Heute ist die jüdische Gemeinde Teplitz für Saaz zuständig.
In der regionalen und überregionalen tschechischen Presse fand dieses Ereignis große Aufmerksamkeit. Anwesend waren außer Vertretern der Saazer Presse Redakteure der Zeitungen Svobodny Hlas (Louny), MF Idnes, Blesk, Pravo, außerdem Vertreter der Presseagentur CTK und des nordböhmischen Rundfunks. An dem Gedenkakt und der Pressekonferenz nahmen außerdem der stellvertretende Bürgermeister von Saaz Ales Kassal, der ehemalige Bürgermeister Bohuslav Kunes, der Vorsitzender der jüdischen Gemeinde Teplitz, Oldrich Latal, sowie als weiteres Vorstandsmitglied Herr Loblowitz teil, sodann Jaroslav Vodicka für die Volynientschechen und den Verband der Freiheitskämpfer, Bohuslav Řechiřa, Vorsitzender des „Deutsch-tschechischen Freundeskreises“, sowie Mitglieder der oben genannten Vereine und viele andere teil.
Wanderausstellung über Verbrechen an Deutschen während der Vertreibung
Von Andreas Wiedemann | Tschechischer Rundfunk 7, Radio Prag, 20. Februar 2007
Seit Mai vergangenen Jahres zieht eine Wanderausstellung durch einige nordböhmische Städte. Diese informiert den Besucher über Gewalttaten und Exzesse, die im Zuge der so genannten wilden Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg begangen wurden. Am Montag machte die Ausstellung in Teplice|Teplitz Station.
Im Mittelpunkt der Ausstellung steht der Zeitraum zwischen Mai und September 1945, als Hunderttausende Deutsche aus den böhmischen Ländern vertrieben wurden. Im Zuge dieser so genannten wilden Vertreibung kam es zu zahlreichen Gewalttaten und Exzessen. Gerade darüber soll der Besucher informiert werden, erläutert Eduard Vacek, Präsident des Verbandes unabhängiger Schriftsteller, der die Ausstellung initiiert hat:
Es geht vor allem um Dokumente, um zeitgenössische Fotos und persönliche Aussagen von denen, die während der Vertreibung der Sudetendeutschen von den Exzessen betroffen waren und das entweder als direkte Opfer oder als Kinder oder Familienangehörige. Die Ausstellung will alle Ereignisse erfassen, die sich in Nordböhmen abgespielt haben. Dieses Gebiet gehörte nach dem Krieg nicht zur amerikanischen sondern zur sowjetischen Zone. Der Raum der uns interessiert, reicht ungefähr von Chomutov|Komotau bis nach Liberec|Reichenberg,
so Eduard Vacek.
Zum Beispiel wird die so genannte „Säuberungsaktion“ in Postoloprty|Postelberg bei Žatec|Saaz dokumentiert. Die Tschechoslowakische Armee und Einheiten des Nachrichtendienstes sowie der militärischen Abwehr sollten Ende Mai 1945 die Stadt von den Deutschen „säubern“. In der Folge wurden zwischen 700 und 800 deutsche Männer erschossen. 763 Tote wurden 1947 in einem Massengrab bei Postoloprty entdeckt. Solche und weitere Verbrechen gehen nach Ansicht der Ausstellungsmacher vor allen Dingen auf das Konto ganz bestimmter Gruppen, wie Eduard Vacek erklärt:
Wir wollen gerade zeigen, welchen Anteil die Kommunisten und das Militär an der Aussiedlung der Deutschen beziehungsweise an konkreten Exzessen hatten.
Die Ausstellung trägt denn auch den Titel „Opfer der kommunistischen Macht im nordböhmischen Grenzgebiet in den Jahren 1945-1946.“ Die Kommunisten hatten nach dem Krieg Schlüsselpositionen in der Tschechoslowakischen Volksarmee und im Innenministerium inne und tragen deswegen die Hauptverantwortung für die tragischen Ereignisse bei der Vertreibung der Deutschen, meint Eduard Vacek. Die Fokussierung auf den kommunistischen Anteil ist allerdings so scharf geraten, dass wichtige historische Zusammenhänge in der Ausstellung fehlen.
Auf der ersten Texttafel wird die Gründung der Kommunistischen Partei in der Tschechoslowakei im Jahr 1921 als „die Wurzel des Bösen“ bezeichnet. Hinweise auf die sechsjährige Besatzung durch die Deutschen, auf NS-Gräueltaten und auch auf die Rolle der tschechoslowakischen Exilregierung in England bei der Vorbereitung der Vertreibung fehlen hingegen.
Paul Neustupny, ein Tscheche, der 1968 nach Berlin gegangen ist und sich für die Versöhnung von Tschechen und Sudetendeutschen einsetzt, betont, warum die Ausstellung dennoch wichtig ist:
Wenn wir Tschechen nicht über unsere eigene Geschichte aufgeklärt sind, dann betrügen wir uns weiterhin selbst. Wir haben ein Verständnis, dass wir immer diejenigen waren, die gelitten haben. Das muss aufhören. Wir tragen selbst auch Schuld. Wie wir mit den Sudetendeutschen umgegangen sind, ist eine Schande.
Was ist das „Gute“ für den Sterbenden?
Eine deutsch-tschechische Tagung über Sterbebegleitung
und Palliativmedizin in Saaz| Žatec
Von Andreas Kalckhoff und Michael Popović | Hessisches Ärzteblatt 12/ 2006
Am 14. und 15. Oktober 2006 fand in Saaz|Žatec (Tschechien) eine Tagung „Der Ackermann aus Böhmen“ statt. Titelgebend war das gleichnamige Streitgespräch aus der Feder des Humanisten Johannes von Saaz, der um 1400 in der berühmten deutsch-böhmischen Stadt wirkte. Die Klage des „Ackermanns“ gegen den grausamen Tod in Form eines literarisch-philosophischen Streitgesprächs erschien den Veranstaltern gut geeignet als Einstieg in ein multidisziplinäres und transkulturelles Gespräch über würdiges Sterben. Dabei ging es auch um einen Austausch unterschiedlicher Erfahrungen von Tschechen und Deutschen in ihren jeweiligen Gesellschaften mit diesem heftig umstrittenen Thema.
Veranstalter des zertifizierten Workshops waren für die Landesärztekammer Hessen Dr. med. Michael Popović und für die Tschechische Akademie der Wissenschaften MUDr. Ivan Pfeifer CSc in Zusammenarbeit mit Otokar Löbl und dem Förderverein der Stadt Saaz|Žatec e. V. sowie dem tschechischen Verein der Landsleute und Freunde der Stadt Žatec.
In ihrem schriftlichen Grußwort umriss die Präsidentin der Landesärztekammer Hessen, Dr. med. Ursula Stüwe, die Problematik aus ärztlicher Sicht:
In unserer Gesellschaft des demographischen Wandels, die mit wachsenden sozialen Problemen zu kämpfen hat, sind wir an einem Scheideweg angelangt: Der eine Pfad weist in die Richtung des niederländischen Modells, das Sterbehilfe auf Verlangen ermöglicht. Der andere, den wir als Ärztinnen und Ärzte beschreiten und weiter ausbauen möchten, führt zum würdevollen Sterben und damit in die ‚Palliativmedizin’, die dem unheilbar Kranken Unterstützung und Linderung seiner Schmerzen in der letzten Lebensphase zukommen lässt.
Einige Juristen fordern eine Liberalisierung des Strafrechts bei der Sterbehilfe, doch dagegen wenden sich die Ärzte in ihrer Mehrheit vehement:
Wir möchten nicht, dass Ärzte sich an der Tötung von Menschen beteiligen – auch nicht als Gehilfen“, erklärte Bundesärztekammerpräsident Prof. Dr. Jörg-Dietrich Hoppe auf dem 66. Deutschen Juristentag in Stuttgart. Die Präsidentin der Landesärztekammer Hessen, Ursula Stüwe bezieht eindeutig Position: Ärztliches Ethos und Standesrecht verbieten die Beteiligung am assistierten Suizid. Die deutsche Ärzteschaft setzt deshalb auf eine Verbreitung der Palliativmedizin: Mit einer für alle Menschen erreichbaren palliativmedizinischen Versorgung nähme die Angst des Einzelnen vor einem qualvollen Sterben ab und damit auch sein Wunsch nach Hilfe beim Suizid.
Der Patient, der Arzt, die Gesellschaft
Läßt man einmal die teilweise hoch emotionalisierte Debatte mit dem Reizwort „Euthanasie“ beiseite – und das taten die Tagungsteilnehmer erfreulicherweise –, kann man die Problematik der Sterbehilfe als klassischen Interessenkonflikt beschreiben zwischen dem todkranken Patienten als buchstäblich Leidendem, dem helfenden Arzt als Handelndem und der umgebenden Gesellschaft als Fordernde. Der Schwerkranke und Sterbende will möglichst wenig leiden, der Arzt will aus Berufsethos heilen und nicht töten, die Gesellschaft will regulierend eingreifen – aus ordnungspolitischen Motiven, aber auch aus ökonomischen. Stüwe wies auf die „immer knapper werdenden finanziellen Ressourcen“ hin.
Der Leidende, das ist im „Ackermann aus Böhmen“ nicht die sterbende junge Frau des Klägers wider den Tod, sondern der hinterbliebene Ehemann. Aber die Angehörigen des Sterbenden spielen ja auch heute keine unwesentliche Rolle, weil sie im Notfall die Stellvertreter und Willensvollstrecker des Todkranken sind.
Vor Johannes von Saaz war aber weder das Leiden des Sterbenden noch der Angehörigen ein Thema. Denn man sorgte sich nicht um den sterbenden Körper, sondern allein um die unsterbliche Seele. Erst mit Johannes änderte sich das: In seinem „Ackermann“ thematisiert er das Leiden des Menschen hier auf Erden, die Ungerechtigkeit (und freilich auch Unausweichlichkeit) des willkürlichen Todes, die Machtlosigkeit der Ärzte angesichts des Todes – und nicht zuletzt das Recht des Menschen auf ein erfülltes Erdenleben.
Drei Vorträge von Prof. PhDr. Vaclav Bok (Universität Budweis), Dr. phil. Andreas Kalckhoff (Stuttgart) und PhDr. Petr Hlavaček (Prodekan der Hussitischen Fakultät Prag und Gastdozent des Instituts für Osteuropäische Geschichte in Leipzig) über Person, Werk und Vorstellungen des Johannes von Saaz bereiteten die Teilnehmer auf die Probleme der Gegenwart vor. Vaclav Bok überraschte mit neuen Forschungsergebnissen über Johannes von Saaz oder Tepl. In einem Interview mit dem regionalen Fernsehsender hob er hervor, dass das Werk „Der Ackermann und der Tod“ eines der seltenen Werke der Weltliteratur sei, das in Böhmen entstanden ist. Er zeigte sich beeindruckt von dem ernsthaften Streitgespräch der Ärzte, Juristen und Ethiker über sein Lieblingswerk. Andreas Kalckhoff hob das humanistische Menschenbild des „Ackermanns“ hervor. Demnach liege der Trost angesichts des Todes eher in einem erfüllten Leben als in einem erhofften Jenseits:
Für solch ein menschenwürdiges, vernunftgelenktes Leben, wie es Johannes von Saaz feiert, setzen wir uns heute noch ein.
Petr Hlavaček schließlich sprach über Personen und Strömungen in Europa und Böhmen, die zu Lebenszeiten von Johannes von Bedeutung waren.
Vom Recht auf den eigenen Tod
„O Herr, gib jedem seinen eigenen Tod / das Sterben, das aus jenem Leben geht, darin er Liebe hatte, Sinn und Not“: Mit diesem Vers Rainer Maria Rilkes eröffnete Dr. med. Gisela Bockenheimer-Lucius vom Senckenbergschen Institut für Geschichte der Medizin ihr Referat über medizinethische Aspekte von Sterbehilfe und Sterbebegleitung. Sie stellte dabei die platonische Frage in den Mittelpunkt: Was ist das Gute für den Patienten? Daran hätten sich die Ärzte strikt zu orientieren, aber die Frage sei auch nicht immer leicht zu beantworten. Der Patient hat nicht nur Angst vor Todesqualen, sondern oft auch vor einem langen Sterben in halber oder ganzer Bewusstlosigkeit, er fürchtet das Ausgeliefertsein und Alleinsein im Tode, das ihm eine „seelenlose Apparatemedizin“ bescheren könnte. Für viele habe der eigene Tod eine hohe symbolische Bedeutung: Er soll ihr Leben zu einem würdigen Abschluss bringen, dessen Umstände und Zeitpunkt sie selbst bestimmen wollten.
Auf der anderen Seite irren Patienten aber auch hinsichtlich ihrer Befürchtungen – und Ärzte nicht minder, was verbleibende Lebenszeit und Lebensqualität angeht. Selbst bei unstrittigen medizinischen Sachverhalten sind Erleben und Urteil, was sinnlos oder nutzlos sei, individuell verschieden, von subjektiven Einschätzungen und kulturellen Einflüssen abhängig. Patientenentscheidungen, auf diagnostische oder therapeutische Maßnahme zu verzichten, erscheinen dem Arzt deshalb oft unvernünftig und führen zu Konflikten. Trotzdem ist der Arzt nicht berechtigt, das durchzusetzen, was er für das „Gute“ hält, sondern der Patient hat ein Recht darauf, dass sein Wille respektiert wird – selbst dann, wenn er unvernünftig erscheint.
Aber auch wenn der Patient selbst keine Entscheidung trifft oder sein Wille nicht mehr feststellbar ist, heißt das noch nicht, dass der Arzt sein Leben verlängern darf oder muss. Wenn nämlich der Sterbeprozess eingesetzt hat, gibt es keine ärztliche Indikation für lebenserhaltende Maßnahmen. Doch halten sich immer noch nicht alle Ärzte daran, sonst wären Patientenverfügungen, die sich nur auf die Sterbesituation beziehen, überflüssig. Aber auch wenn der Sterbeprozess noch nicht unaufhaltsam begonnen hat, gilt es für den Arzt abzuwägen, welches Handlungsziel er mit Blick auf den individuellen Patienten und seinen Willen verfolgen will, ob belastende diagnostische und kurative Maßnahmen noch gerechtfertigt sind. Der Patient habe ein Recht darauf, so Bockenheimer-Lucius, nicht am Sterben gehindert zu werden.
Von der Pflicht, lebenserhaltende Maßnahmen einzustellen
Dieser medizinethische Standpunkt wurde aus der Sicht des Zivilrechts bestätigt. Dr. jur. Katharina Deppert, ehemalige Vorsitzende Richterin des 1. Zivilsenates des Bundesgerichtshofs, spitzte das wie folgt zu:
Einer Rechtfertigung bedarf nicht erst und nur die Beendigung einer lebenserhaltenden Maßnahme, vielmehr muss sich der Arzt bereits bei der Behandlungsaufnahme und zu jeder Zeit der Weiterbehandlung auf eine (mutmaßliche) Einwilligung des Patienten berufen können … Allzu leicht wird übersehen, dass sich aus dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht ergeben kann, lebenserhaltende Maßnahmen einzustellen und, was gleichfalls zu beachten ist, solche Maßnahmen – etwa das Einsetzen einer PEG-Sonde – gar nicht erst zu ergreifen.
Eine ohne wirksame Einwilligung vorgenommene ärztliche Behandlung sei laut BGH-Urteil vom 18. März 2003 eine rechtswidrige Körperverletzung.
Die Feinheiten des Rechts bringen es aber mit sich, dass diese Urteile an gewisse Voraussetzungen gebunden sind. Schwierigkeiten liegen in der möglichen Unsicherheit und Strittigkeit der ärztlichen Prognose, die wesentliche Abwägungsprobleme bei der Indikation mit sich bringen. Bedingung für die Unterlassung lebensverlängernder Maßnahmen ist, dass die Krankheit einen „irreversiblen tödlichen Verlauf“ genommen haben muss, worunter die Richter verstehen, dass der Patient ohne lebenserhaltende Ernährung nicht mehr lebensfähig wäre. Das gilt also auch für Wachkoma-Patienten.
Anderseits bedeutet „ohne wirksame Einwilligung“, dass eine wirksame Patientenverfügung vorliegt, sofern der Patient nicht mehr einwilligungsfähig ist. Die Patientenverfügung aber droht dadurch relativiert zu werden, dass sie in Zukunft nicht mehr verbindlich sein soll, wenn der Patient spätere medizinische Entwicklungen nicht berücksichtigen konnte, bei deren Kenntnis er mutmaßlich anders entschieden hätte (Vorschlag des Deutschen Juristentages 2006). Andererseits will man die Bindungswirkung von Patientenverfügungen nicht auf „Hilfe beim Sterben“ beschränken, sondern auf Wachkoma-Patienten ausdehnen. Für einen Nicht-Mediziner sei es schwierig, so Deppert, hierzu eine Meinung zu äußern. Doch die Beispiele von Wachkoma-Patienten, die beim Juristentag vorgestellt wurden, ließen in höchstem Maße daran zweifeln, ob die Erhaltung des Lebens auf dieser Stufe der Existenz noch ein humanes Anliegen sei.
Im Falle einer Zeugin Jehovas, die unter keinen Umständen eine Bluttransfusion wollte, hat das Bundesverfassungsgericht den Rechten des nicht den Zeugen Jehovas zugehörigen Ehemannes und der Kinder den Vorrang gegenüber dem Selbstbestimmungsrecht der Patientin eingeräumt. Deppert stimmte diesem Urteil grundsätzlich zu, gestand aber gleichzeitig ein, dass sie diese Entscheidung für höchst problematisch hält. Hier wurde deutlich, dass die Wertvorstellungen der Mehrheitsgesellschaft einen wesentlichen Anteil an den medizinethischen und juristischen Festlegungen haben. Logik und Konsequenz bleiben dabei durchaus auch mal auf der Strecke. Die Rechtsauffassung, die von Deppert vorgetragen wurde, war in ihrer Klarheit und Eindeutigkeit auch für einen Nichtjuristen nicht nur nachvollziehbar, was eines der Ziele dieser Veranstaltung war, sondern auch für Juristen fachlich unwiderlegbar.
Vom Umgang der Gesellschaft mit Todkranken
Damit wären wir bei der Gesellschaft, die für sich in Anspruch nimmt, auch das Sterben der Menschen ethisch, juristisch und ökonomisch zu kontrollieren. Das ist heute so und war früher nicht anders. Dr. med. Michael Popović, Hauptgeschäftsführer der Landesärztekammer Hessen, lieferte in zwei Beiträgen eine Tour d’Horizon über die Geschichte der Euthanasie und Sterbebegleitung und ihren Wandel im Zuge von Entchristlichung, Säkularisierung, Aufklärung und Materialismus, bis hin zu den Extremen von Nationalsozialismus und Bolschewismus:
Der Umgang mit Sterben und Tod war und ist immer Ausdruck der soziokulturellen Entwicklung in den jeweiligen Epochen … Für die Kultur des Umgangs mit der Menschenwürde, vor allem dann, wenn der Mensch am schwächsten ist und der größten Zuwendung bedarf, spielen Zeitgeist, Religion, Philosophie und Ideologie, speziell die Säkularisierung eine besondere Rolle. Letztere meint allgemein jede Form von Verweltlichung, im engeren Sinn aber die durch den Humanismus und die Aufklärung ausgelösten Prozesse.
Der Wunsch, in höchster Sterbensnot sein Leben abzukürzen, ist nicht neu. Aus dem Mittelalter haben wir ein Andachtsbild, das die Anfechtungen eines Sterbenden mit den provokativen Spruchbändern zeigt: „Es gibt keine Hölle“ – „Mach’s wie die Heiden“ – „Töte dich selbst.“ Der Titel des Bildes lautet: „Versuchung des Glaubens“. Die Selbsttötung ist im Christentum streng verboten, Selbstmörder kommen in die Hölle. Christoph Wilhelm Hufeland, ein Arzt, der Wieland, Herder, Goethe und Schiller zu seinen Patienten zählte, schrieb in diesem Sinne 1803:
Wenn ein Kranker von unheilbaren Übeln gepeinigt wird, wenn er sich selbst tot wünscht (…), wie leicht kann da, (…) der Gedanke aufsteigen, sollte es nicht erlaubt, ja sogar Pflicht sein, jenen Elenden etwas früher von seiner Bürde zu befreien (…)?
Hufeland, der durch sein Werk „Makrobiotik oder die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern“ (1796) berühmt wurde, war jedoch strikt dagegen:
Soviel Scheinbares ein solches Räsonnement für sich hat, so sehr es selbst durch die Stimme des Herzens unterstützt werden kann, so ist es doch falsch (…) Sie hebt geradezu das Wesen des Arztes auf. Er soll und darf nichts anderes tun als Leben zu erhalten, ob es ein Glück oder Unglück sei, ob es Wert habe oder nicht, dies geht ihn nichts an. Und maßt er sich einmal an, diese Rücksicht in sein Geschäft aufzunehmen, so sind die Folgen unabsehbar, und der Arzt wird der gefährlichste Mann im Staate. Denn ist einmal diese Linie überschritten, glaubt sich der Arzt einmal berechtigt, über die Notwendigkeit eines Lebens zu entscheiden, so braucht es nur stufenweise, um den Unwert und folglich die Unnötigkeit eines Menschenlebens auch auf andere Fälle anzuwenden.
Popovic erinnerte an die unsäglichen Folgen der biologistischen Medizin und deren Protagonisten Binding und Hoche, die zu den kriminellen Missbräuchen der Zwangseuthanasie unter den Nationalsozialisten führte. Er wies darauf hin, dass die Bewältigung des Problems der „Medizin ohne Menschlichkeit“ (Mitscherlich und Miehlke) zunächst zum „Bad Nauheimer Ärztegelöbnis“ und dann zum „Genfer Gelöbnis“ des Weltärztebundes zur Folge hatte. Deshalb sagt Bundesärztekammerpräsident Prof. Dr. Jörg–Dietrich Hoppe heute:
Jeder Mensch hat das Recht auf Leben und auf ein Sterben in Würde – nicht aber das Recht, getötet zu werden“, und: „Jeder Patient muss sich zu jeder Zeit sicher sein, dass Ärztinnen und Ärzte konsequent für das Leben eintreten und weder wegen wirtschaftlicher, politischer noch anderer Gründe das Recht auf Leben zur Disposition stellen. Diese Sicherheit ist nur zu garantieren, wenn Ärztinnen und Ärzte aktive Hilfe zum Sterben, also eine gezielte Lebensverkürzung durch Maßnahmen, die den Tod herbeiführen, kategorisch ablehnen.
Nun hat allerdings die klassische Euthanasie-Debatte, bei der es um Tötung ohne oder gegen den Willen der Betroffenen geht, wenig zu tun mit der Tötung auf Verlangen, die wir als „aktive Sterbehilfe“ bezeichnen. Aber die Gefahr, dass das Selbstbestimmungsrecht des Patienten von überforderten Angehörigen und gedankenlosen Ärzten missbraucht werden könnte, ist nicht von der Hand zu weisen. Außerdem könnte ein soziales Klima entstehen, in dem auf Schwerstkranke ein moralischer Druck ausgeübt wird. Popović zitierte dazu den Nationalen Ethikrat der Bundesrepublik (2006):
Es muss schon im Ansatz der Eindruck vermieden werden, durch die Bereitstellung und Förderung von Möglichkeiten der Suizidbeihilfe lege die Gesellschaft den Schwerkranken und Sterbenden ein freiwilliges Abschiednehmen aus der Mitte der Lebenden nahe, wenn sie diesen zur Last zu fallen drohen.
In einen Gespräch mit den Regionalfernsehsender, stellte Herr Dr. Popovic den Sinn dieser Veranstaltung dar. Es soll der Bevölkerung in der Tschechischen Republik, Deutschland und Europa deutlich gemacht werden, was unter palliativer Medizin zu verstehen ist, nämlich die Würde des Menschen auch im Sterbeprozess zu erhalten, Schmerzen ärztlicher Kunst entsprechend zu lindern und seinen Sterbevorgang menschlich zu begleiten. Werde dies verstanden, so würde in dieser stark säkularisierten Welt nicht die Forderung des Töten auf Verlangen erhoben. Sterben und der Tod verliere viel von seinem Schrecken und werde wieder ein Teil des Lebens.
Aus der Geschichte müsse man lernen, gerade in Böhmen, dem Schmelztiegel von Kulturen. In dieser Region, in der es nach einer langer produktiven Phase der Kulturen zu Streitigkeiten während der Reformationszeit, der Defenastrationen und späterer übler nationalistischer Machenschaften und Verbrechen auf böhmischen Boden kam. Hier, im reanimierten Herzen Europas, eröffneten sich Chancen, wenn im humanistischen Geiste zusammengearbeitet würde, um aus den Tiefen der Geschichte Wege zu einer neuen Zukunft zu eröffnen.
Den Tagen mehr Leben hinzufügen
Der Tod sei, so erklärte Popović, für den Arzt weniger ein Teil des Lebens als eine medizinische Niederlage. Untersuchungen zufolge meide das medizinische Personal normalerweise den Kontakt mit dem Sterbenden, sehe ihm nicht mehr in die Augen, verringere die Besuche, reagiere nur zögerlich auf Klingelsignale.
Auf der anderen Seite werden in vielen Fällen weiter diagnostische und kurative Maßnahmen durchgeführt, obwohl man eigentlich weiß, dass der Patient nicht mehr zu heilen ist: Darauf wies Prof. Dr. med. E. G. Loch, Vorsitzender der Akademie für Fort- und Weiterbildung der Landesärztekammer Hessen, in seinem Referat hin. Anschaulich schilderte er, wie in Krankenhäusern Todkranke bei ihrer Einlieferung ungeachtet ihres moribunden Zustands nach allen Regeln apparativer Kunst vermessen und versorgt würden. Hier äußere sich eine Hilflosigkeit, die von mangelhafter Ausbildung und Organisation herrühre. Nicht nur der einzelne Arzt, auch das Krankenhaus als Institution sei hinsichtlich palliativer Versorgung und Sterbebegleitung oft überfordert.
Prof. Dr. med. Ulrich Gottstein, der Gründer des Evangelischen Hospitals für Palliative Medizin (Frankfurt/ Main) machte deutlich, dass die Palliativmedizin eine sehr aktive Medizin sei, aber mit geändertem Therapieziel bei unheilbaren, tödlichen Krankheiten. Unter Verzicht auf belastende Diagnostik, quälende Therapien und lebensverlängernde Maßnahmen wie künstliche Ernährung und Beatmung erleichtere diese Form der Intensivmedizin dem Todkranken durch Schmerzbehandlung und psychische Betreuung das Sterben. Es gehe in dieser Situation darum, die Lebensqualität zu maximieren, nicht die Lebensdauer. Prof. Loch zitierte dazu die englische Ärztin Cicely Saunders:
Wir können dem Leben nicht mehr Tage hinzufügen, aber den Tagen mehr Leben.
Dieser Leitgedanke sei maßgeblich für die Gestaltung der Inhalte ärztlicher Fortbildung. Unerlässlich ist dabei eine breitere palliativmedizinische Aus-, Weiter- und Fortbildung, die Beachtung von Interdisziplinarität und Multiprofessionalität und die Koordinierung von medizinischer Betreuung und Pflege. Wichtig ist weiter die Bildung organisatorischer Schnittstellen zwischen Hausarzt, Klinik und Hospiz, die auch ambulant tätig sein müssten. Prof. Loch dazu:
Verständlicherweise erfordert dies große finanzielle Ressourcen, was zwangsläufig die Politik auf den Plan ruft. Nur durch eine flächendeckende Versorgung ist hier Abhilfe zu schaffen, weil die Zahl der Betroffenen (…) durch die zunehmende Lebenserwartung wächst.
Das demographische Problem wirke sich zudem auch auf die häusliche Pflege aus: Die Familien würden bislang – zumal die Liegezeiten in Krankenhäusern immer die kürzer würden – immer noch die größte Pflegeleistung erbringen; aber wer wird, wenn die Kinderzahl weiter zurückgeht und Single-Haushalte zunehmen, die alleinstehenden Sterbenden betreuen?
Patienten als ökonomische und soziale Bedrohung?
Hier wird deutlich, dass es wiederum die Gesellschaft ist, die letztlich darüber bestimmt, wie der Mensch stirbt. Wenn sie erlaubt, dass Todkranke ihrem Leben mit ärztlicher Hilfe vorzeitig ein Ende machen, wird das möglicherweise zur sozialen Norm entarten. Wenn sie anderseits nicht genügend Geld zur Verfügung stellt, um den Sterbenden ein betreutes, schmerzfreies und menschenwürdiges Ende zu ermöglichen – einen „guten Tod“ –, werden die Menschen weiterhin nach aktiver Sterbehilfe rufen.
Prof. Gottstein stellte mit seiner Klinik eine beispielhafte Einrichtung vor, die allen Erfordernissen und Erwartungen hinsichtlich Sterbehilfe und Sterbebegleitung entspricht. Aber wir wissen, dass es noch viel zu wenige solcher Einrichtungen gibt. Dr. Popović referierte die aktuellen medizinpolitischen Empfehlungen zu Palliative Care, und Prof. Loch beschrieb die entsprechenden ärztlichen Bildungsmaßnahmen. Das alles macht Hoffnung – aber können wir sicher sein, dass diese auch erfüllt wird?
Die Referate der tschechischen Kollegen, Dozent MUDr. Martin Bojar, ehemaliger Gesundheitsminister der ČR und gegenwärtig Vorsitzender der Neurologischen Klinik II der Prager Karlsuniversität, und MUDr. Zdenĕk Kalvach, Leiter der Inneren und Geriatrischen Abteilung III ebendort, ließen erkennen, dass die Lage in ihrem Land noch um einiges angespannter ist als bei uns. Ähnlich wie im übrigen Europa stecke auch in Tschechien die Palliativpflege erst in den Anfängen, erklärte Bojar, und auch die Pflegekapazitäten seien sehr unzureichend.
Dieser Mangel führe dazu, assistierte in seinen Vortrag Kalvach, dass es zu „wilder Euthanasie“ durch Pfleger und Ärzte komme. Da aktive Sterbehilfe auch in Tschechien verboten sei, fange man oft Therapien erst gar nicht an, weil man sie danach nicht mehr ungestraft abbrechen könne. Von einer Selbstbestimmung des Patienten sei dabei überhaupt nicht die Rede. Stattdessen gebe es eine erschreckend hohe Zahl an Selbstmorden, mit denen sich Schwerstkranke den Zumutungen eines Klinik- oder Heimaufenthalts entzögen. Die Hauspflege spiele nur eine untergeordnete Rolle, weil die Angehörigen nicht sicher sein könnten, dass sie im Ernstfall für den Kranken oder Sterbenden einen Platz im Krankenhaus oder in einem Hospiz bekämen. Deshalb weigerten sie sich auch, ihn vorübergehend wieder nach Hause zu nehmen.
Es werde oft die Meinung geäußert, der Ruf nach „Euthanasie“ sei eine Folge von Säkularisierung und Glaubensferne in der nachkommunistischen Gesellschaft. In Wirklichkeit, so Bojar, sei in Tschechien aber der Euthanasiebegriff nicht auf die aktive Sterbehilfe eingeengt, ob mit oder ohne Willen des Patienten, sondern meine im ursprünglichen Sinne des Wortes den „guten Tod“ durch Linderung des Leidens und schlösse damit Palliative Care ein.
Zuletzt entwarf Bojar ein düsteres Bild: Viele unheilbar kranke und alte Patienten seien Neurologiefälle. Solche Patienten verursachten durch ihre intensive und teure Medikation exorbitante Kosten: pro Patient würden oft Medikamente im Wert von 1.200-3.500 Euro pro Tag ausgegeben. Sie würden deshalb angesichts der ungünstigen demographischen Entwicklung zu einer großen sozialen Last, ja zu einer ökonomischen und sozialen Bedrohung.
Im Gespräch mit dem Regionalfernsehen zeigte sich Bojar ebenso wie Prof. Bok von der Ernsthaftigkeit und hohen Qualität der indisziplinären Diskussion der Teilnehmer beeindruckt. Wertvolle Diskussionsbeiträge lieferten besonders Prof. Gottstein und Prof. Erazim Kohak, philosophische Fakultäten Boston (USA) und Prag, zu medizinethischen und philosophischen Fragestellungen.
Und wie sieht es bei uns aus? Die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin schätzt, dass täglich etwa 220.000 Menschen unter behandlungsbedürftigen Tumorschmerzen zu leiden haben, dazu kommt noch eine Vielzahl anderer belästigender oder quälender Krankheitssymptome. Ihnen allen verspricht man, dass sie demnächst palliativ gut versorgt sein werden – während die Gesundheitskosten ständig steigen und die Kassen leer sind. Werden wir unsere Versprechungen halten können?
Dr. Stüwe setzte im Grußwort ihre Hoffnung in die Reformpläne der Bundesregierung, die vorsähen „dass unheilbar kranke Menschen einen Anspruch auf spezialisierte ambulante Palliativversorgung erhalten sollen“. Und sie gab sich überzeugt, dass ein Symposion wie dieses dazu beitragen könne, „dass Irrwege vermieden werden und die Notwendigkeit eines konsequenten Ausbaus der Palliativmedizin deutlich wird“. Dem schließen sich die Verfasser gerne an.
Dr. phil. Andreas Kalckhoff, geboren 1944 in Saaz, war Teilnehmer der Tagung mit dem Referat „Die Geburt des freien Menschen: Der Ackermann aus Böhmen“. Er ist Historiker, arbeitet als Wissenschaftsjournalist und hat mehrere Bücher zur Geschichte des Mittelalters verfasst.
Dr. med. Michael Popović, Eppstein