Ausstellung in der Saazer Synagoge

LZ-Was-haben-sie-den-getan.auch im Internet : www.saaz-juden.de

Bericht des Saazer Fernsehen über die Ausstellung

Ausstellung „Die Juden von Saaz“ in Nordböhmen eröffnet

Von Hannah Illing, Radio Prag 18. September 2014

Im nordböhmischen Žatec|Saaz hat vergangene Woche eine historische Ausstellung eröffnet: „Die Juden von Saaz“. Sie dokumentiert Geschichte, Kultur und Schicksal der Saazer Juden seit dem Mittelalter. Die 1200 jüdischen Einwohner trugen vor dem Zweiten Weltkrieg bedeutend zum Stadtleben bei. Konzipiert hat die Ausstellung der Förderverein der Stadt Saaz.

Rund 18.000 Einwohner hatte die Stadt Saaz in den 1930er Jahren. Etwa 1200 davon waren Juden. 10-15 von ihnen überlebten den Holocaust und kehrten nach 1945 in ihre Heimatstadt zurück. Dieses Zahlenspiel veranschaulicht aber nur einen Teil der Geschichte der Saazer Juden. Der Vorsitzende des Fördervereins der Stadt Saaz, Otokar Löbl, erzählt:

Otokar Löbl, Vorsitzender des Fördervereins der Stadt Saaz|Žatec

Die ersten Juden waren nachweislich schon 1350 in Saaz. Das steht so in den Stadtbüchern. Später gab es natürlich auch Pogrome, da sind die Juden teilweise verjagt worden. Aber erst durch die Toleranzgesetze im 18. Jahrhundert haben sich die Juden wieder aus den Dörfern in der Stadt Saaz angesiedelt. Sie haben dann sehr viel Handel getrieben und sich stark am kulturellen und wirtschaftlichen Leben beteiligt.

 

Heute lebt nur noch eine jüdische Familie in Saaz. Selbst die Juden, die nach dem Zweiten Weltkrieg zurückgekehrt waren, verließen ihre Heimatstadt bald Richtung Israel. Da die meisten Saazer Juden Deutsch sprachen, wurden sie von der tschechischen Bevölkerung damals nicht gern gesehen, erzählt Löbl. Der Unternehmer hat selbst Wurzeln in der Stadt: Fast alle seine Vorfahren waren Saazer Juden, die im Holocaust in den Vernichtungslagern Treblinka und Auschwitz ermordet wurden. Nur seine Großmutter und eine Tante überlebten. Heute setzt sich Löbl dafür ein, dass die Saazer Juden nicht in Vergessenheit geraten.

Dr. Andreas Kalckhoff

Dr. Andreas Kalckhoff

Deshalb hat er gemeinsam mit dem Förderverein der Stadt Saaz und mit dem Historiker Andreas Kalckhoff die Ausstellung „Juden in Saaz“ konzipiert. Der Adalbert-Stifter-Verein, die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien und der Deutsch-Tschechische Zukunftsfonds unterstützen das Projekt.

 Es handelt sich um eine Dokumentation mit Bildern und mit einer Schilderung der ganzen Geschichte der Saazer Juden von Anfang an: über die Rabbiner, über die Synagoge und über die Friedhöfe im Saazer Land. Die Ausstellung erzählt auch von der neueren Geschichte und von der Luftbrücke. Nach Vereinbarung können Besucher auch den neu restaurierten jüdischen Friedhof besuchen.

Anders als die Luftbrücke von Berlin ist die „Saazer Luftbrücke“ nur wenigen ein Begriff. Im ersten arabisch-israelischen Krieg im Jahr 1948 fungierte der Saazer Militärflugplatz, dessen Bau kurz vor Kriegsende noch Adolf Hitler in Auftrag gegeben hatte, als Ausgangspunkt für tschechische Waffenlieferungen nach Israel. Das Material stammte teilweise noch aus den ehemaligen Beständen der Wehrmacht.

Da wurden beispielsweise die Messerschmitt-Düsenjäger umgerüstet und nach Israel transportiert. Die Tschechoslowakei hat Israel damals voll unterstützt. So sind über 50 Tonnen Kriegsmaterial und Flugzeuge nach Israel gekommen – überwiegend vom Saazer Flugplatz aus.

Die Ausstellung „Die Juden von Saaz“ ist auch der Auftakt für ein neues Geschichtsmuseum, das in Saaz gerade in Planung ist. Otokar Löbl will es in den kommenden Jahren gemeinsam mit dem Förderverein und in Zusammenarbeit mit Stadt und Regionalmuseum Saaz verwirklichen. Dann soll auch die aktuelle Ausstellung von der Saazer Synagoge in das Museum umziehen.

Unsere Vision ist ein Museum der tatsächlichen Geschichte der Stadt, in der Juden, Tschechen und Deutsche wechselvoll gelebt haben – zeitweise auch sehr friedlich miteinander.

Die Ausstellung „Die Juden in Saaz“ ist eine Dauerausstellung. Wer sie besichtigen will, muss sich bei der Touristeninformation im Saazer Rathaus den Schlüssel borgen. Der Eintritt ist frei.

Die Ausstellung ist auch im Internet erreichbar unter  www.saaz-juden.de

Dauerausstellung „Die Juden von Saaz“ eröffnet

Die Saazer Synagoge hat jetzt wieder eine Bestimmung | Die jüdische Geschichte von Saaz ist nicht vergessen | Festliche Eröffnung mit der Prager Klesmer-Band „Trombenik“ | Warnung vor neuem Antisemitismus | Ausstellung auch mit deutschem Text | Eröffnung am 3. September 2014

Die Ausstellung des Fördervereins der Stadt Saaz|Žatec e. V. dokumentiert auf 14 Tafeln Geschichte, Kultur und Schicksal der Saazer Juden vom Mittelalter bis in die Nachkriegszeit und informiert auf weiteren drei Tafeln über die Luftbrücke von Saaz nach Ekron in Israel, die im Sommer 1948 maßgeblich zur Gründung des jüdischen Staates beigetragen hat. Es ist begrüßenswert, dass sie dank des Eigentümers Daniel Černý eine Heimstatt in der Saazer Synagoge gefunden hat, die damit eine neuer Bestimmung hat. Seit der Zerstörung ihrer Inneneinrichtung in der „Reichskristallnacht“ 1938 haben dort keine Gottesdienste mehr stattgefunden.

Jüdische Kaufleute gab es in Böhmen bereits im 10. Jahrhundert. Eine erste jüdische Niederlassung in Saaz soll sich nahe der Eger befunden haben. Die erste urkundliche Erwähnung von Juden in Saaz stammt aus dem Jahr 1350. Spannungen zwischen Christen und Juden aus religiösen und wirtschaftlichen Gründen gab es immer wieder mal, doch das Saazer Judenpogrom von 1541 war der Auftakt zur Vertreibung der Juden aus der Stadt. Die Vertriebenen zogen in die benachbarten kleineren Orte, wo sie unbehelligt leben konnten. Es dauerte 200 Jahre, bis die Wohnsitzbeschränkung der Juden in Böhmen aufgehoben wurde.

Ab 1850 ließen sich wieder jüdische Familien in Saaz nieder und eine neue Blütezeit jüdischen Lebens begann. Mit ihrem Bildungsdurst, ihrem Kunstsinn, ihrer Wirtschaftskraft und ihrem sozialen Engagement trugen sie nicht unerheblich dazu bei, dass Saaz zu einer wohlhabenden Stadt mit reichem Kulturleben wurde. Der Bau der Synagoge – die zweitgrößte Böhmens und berühmt für ihre Akustik –, die Errichtung eines prächtigen Portals für den neu angelegten Friedhof und der Bau respektabler Wohnhäuser waren der sichtbare Ausdruck ihres verdienten Wohlstands.

Durch biologistisch-rassistischen Antisemitismus, der Ende des 19. Jahrhunderts aufkam und vor allem von deutsch-nationalen Kräften getragen wurde, aber auch bei tschechischen Nationalisten Anklang fand, entstand eine neue Bedrohung für die Juden. Wie sich zeigen sollte, schützte ihr patriotisches, soziales und kulturelles Engagement sie nicht vor antisemitischem Hass. Das wurde in der 1. Tschechoslowakischen Republik schlimmer und fand seinen schrecklichen Höhepunkt im Holocaust während der deutschen Besatzung 1939-1945. Die Juden wurden zuerst aus Saaz vertrieben, dann im Ghetto Theresienstadt interniert und schließlich in Auschwitz ermordet. Nur wenige von den fast Tausend Saazern israelitischen Glaubens oder jüdischer Abstammung überlebten.

Eine kleinen Nachtrag erfuhr die große Geschichte der Saazer Juden durch ein heute fast unbekanntes Ereignis aus dem Sommer 1948: Die Tschechoslowakei lieferte am Nahost-Waffenembargo vorbei über eine Luftbrücke Militärgüter nach Israel, darunter Nachbauten der Messerschmidt Bf 109G aus den Škoda-Werken sowie deutsche Waffen, die 1945 zurückgeblieben waren. Dazu wurde ein deutscher Fliegerhorst bei Saaz benutzt, auf dem in diesen Sommermonaten auch einige der wenigen überlebenden Saazer Juden als Bodenpersonal und Zulieferer aushalfen. Zdeněk Klima hat aufgrund eigener Forschungen die entsprechenden Ausstellungstafeln mit Text und Bildern versehen.

Die Texte sind dreisprachig tschechisch, deutsch und englisch.

Zur Eröffnung spielt die Klesmer Band „TROMBELIK“ aus Prag

Die Ausstellung steht unter der Schirmherrschaft des Ministers für Kultur der Tschechischen Republik, Mgr. Daniel Herrman, und der Bürgermeisterin der Stadt Žatec/Saaz, Mgr. Zdeňka Hamousová.

Sie wird außerdem unterstützt vom Verein der Landsleute und Freunde der Stadt Žatec, von der Jüdischen Gemeinde Teplitz , der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in der Tschechischen Republik und der Botschaft des Staates Israel in der Tschechischen Republik.

Ausstellung auch im Internet

Mehr als Bierkultur

In der einstigen „Welthopfenhauptstadt“ Saaz treffen deutsche, jüdische und tschechische Geschichte aufeinander.

Von Peter Münch-Heubner, Prager Zeitung Nr. 35, 28. August 2014

Der Ackermann aus Böhmen beklagt den Tod seiner Frau (Holzschnitt, vor 1480)

Johannes von Saaz: „Der Ackermann aus Böhmen“ beklagt den Tod seiner Frau (Holzschnitt, vor 1480)

Immer Anfang September, am Ende der Hopfenernte, lockt Dočesná, das Hopfenfest von Žatec, Menschen aus ganz Tschechien und aus dem Ausland in die Stadt an der Eger. Dann wird das frühere Saaz zum Schauplatz eines Volksfestes, das von Fremdenführern in seiner Bedeutung gerne mit dem Münchener Oktoberfest verglichen wird. Doch anders als in München spielt beim Saazer Hopfenfest neben der Folklore auch die Kultur eine Rolle, treten auf der Hauptbühne auf dem Marktplatz neben Blasmusikkapellen wie in den vergangenen Jahren auch Mitglieder der Tschechischen Philharmonie auf. Das Programm auf den vielen Podien in der Stadt ist breit gestreut, reicht von Country- über Rock- bis hin zur U-Musik. Dass da auch schon eine Legende der tschechischen Musikszene wie Helena Vondrácková zu Gast war, unterstreicht die Popularität von Dočesná im ganzen Land.

Wer dann noch am späten Abend durch die Altstadtgassen wandert, der kann in die Geschichte der Stadt eintauchen. Es ist die Geschichte von Tschechen, Deutschen und Juden und sie spiegelt die Wechselfälle böhmischer Geschichte wider. Sie steht für deren dunkle Seiten ebenso wie für ihre großen Kapitel. Auch das Hopfenfest mit seiner langen Tradition tut dies: Als „Hopfenkranzfest“ stellte es früher den heiteren Höhepunkt im Leben der Bürger der Stadt dar, egal welche Sprache sie sprachen. Es verweist auf die Brautradition in der Region, die bis in das 13. Jahrhundert zurückgeht. Im 19. Jahrhundert galt Saaz als „Welthopfenhauptstadt“. 1933 dann aber missbrauchte Konrad Henlein, der sich gern als „Statthalter des Führers“ in Böhmen bezeichnete, den Festplatz als Bühne für seinen „völkischen“ Propagandaauftritt. Nach Anschluss der Sudetengebiete an das Dritte Reich wurde das Fest verboten, weil es keine „arischen“ Wurzeln hatte. Nach dem Krieg instrumentalisierten die kommunistischen Machthaber Dočesná in ihrem Sinne. Nun ist es wieder das, was es ursprünglich war, einfach nur ein Fest und eine Attraktion für Besucher, die von auswärts kommen.

Das Hopfenmuseum gewährt Einblick in die Geschichte und Kunst des Beirbrauens

Das Hopfenmuseum gewährt Einblick in die Geschichte und Kunst des Beirbrauens

Heute ist es, für diese Besucher eher ungewöhnlich, ein Biermuseum, das sie neben einem Regionalmuseum durch die Stadtgeschichte führt. Der Hopfen ist immer noch ein Wirtschaftsfaktor in der Region, wenngleich auch nicht mehr von so zentraler Bedeutung wie in der Vergangenheit. Häufig wird darauf verwiesen, dass sich das hier gebraute Bier deutlich von der internationalen Massenproduktion unterscheide. Die Traditionsbrauerei Žatec allerdings, die 1801 als „Bürgerbrauerei“ gegründet wurde, ist jetzt in den Mehrheitsbesitz des dänischen Bierkonzerns Carlsberg übergegangen.

Doch Žatec ist mehr als nur „Bierkultur“. Die historischen Sehenswürdigkeiten umfassen das Rathaus, die Stadttore, die Stadtbefestigung, die Kirchen, das Stadttheater, den Ringplatz, die Synagoge und die vielen alten Bürgerhäuser in der Altstadt sowie in Vierteln wie der Oberen und der Unteren Vorstadt. Zu den berühmten Persönlichkeiten, die hier wirkten, gehört Johannes von Saaz, der am Beginn des 15. Jahrhunderts sein bekanntes Werk „Der Ackermann aus Böhmen“ schuf. Johannes von Nepomuk besuchte die Lateinschule am Ort, die zum ersten Mal zu Beginn des 13. Jahrhunderts in den Quellen erwähnt wird. 1389 wurde der spätere Landespatron Böhmens und Bayerns Archidiakon von Saaz, bevor er noch im selben Jahr als Generalvikar nach Prag berufen wurde.

Saaz war zu diesem Zeitpunkt seit mehr als einem Jahrhundert „Königsstadt“. Das bedeutete die Gewährung von Privilegien, einer eigenständigen Gerichtsbarkeit sowie von Bürgerrechten, von denen die Landbewohner noch lange Zeit ausgeschlossen blieben. Die Könige Přemysl Otakar I., Václav I. und Přemysl Otakar II. hatten im 13. Jahrhundert die Geschichte Böhmens in jene Bahnen gelenkt, die das spätere Schicksal des Landes bestimmen sollten. Schon seit dem 12. Jahrhundert waren bayerische, fränkische und sächsische Siedler in die südlichen, westlichen und nördlichen Grenzregionen des Königreichs der Přemysliden gezogen. Nach 1200 warben die Herrscher in Prag im Zuge des geplanten „Landesausbaus“ deutsche Bauern, Handwerker und Händler für die dünn besiedelten Regionen gezielt an. 1266 wurden den Neusiedlern, die nun auch nach Saaz gekommen waren, als „Freien“ Sonderrechte zugestanden. In der Stadt, die 500 Jahre zuvor eine slawische Gründung mit dem Namen Lucko gewesen war, wuchs eine deutsche Bevölkerungsmehrheit heran. Als Datum der ersten urkundlichen Erwähnung aber gilt das Jahr 1004, weswegen man 2004 eine Tausenjahrfeier beging. Dieses Saaz sollte eine Stadt bleiben, deren Werden und Wachsen Deutsche und Tschechen in wechselseitigem Zusammenspiel bestimmen sollten – im Miteinander, aber auch schon bald im Gegeneinander.

Drei Böhmen

Ein umfangreiches Gewerbewesen entwickelte sich unter deutscher Ansiedlung. Dann kamen die Hussiten, die in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts Böhmen teilweise unter ihre Herrschaft bringen konnten. Diese Hussiten waren, wie der Osteuropa-Historiker Manfred Alexander betont, „keine rein tschechische Bewegung“. Auch Deutsche, unter ihnen Priester, hingen deren religiösen, theologischen sowie sozialen Ideen an. Das war auch in Saaz so. Gefordert wurde die Mitbestimmung der unteren Bevölkerungsschichten in den Ratsversammlungen des Landes. In vielen Städten Böhmens standen sich katholische deutsch-sprachige Ratsherren und sozial schwächere tschechische Unterschichten gegenüber. Deutsche katholische Familien verließen Saaz, das nach 1415 zur „Sonne der Hussiten“, zu einer mehrheitlich tschechischen Stadt, zu Žatec wurde.

Dr. Alfred Klepsch

Dr. Alfred Klepsch

Der Sprachwissenschaftler Alfred Klepsch verweist jedoch darauf, dass deutsche Hussiten in Žatec verblieben, in deren Kreis eine Assimilierung einsetzte. So wurde aus dem Bürgermeister „Meister Peter“ in den Ratsprotokollen „Petr Nemec“, wobei dessen neuer tschechischer Familienname immer noch auf seine deutsche Herkunft verwies.
Ratsprotokolle in deutscher Sprache finden sich in den Archiven, so die Ergebnisse der Untersuchungen von Klepsch, erst im „frühen 18. Jahrhundert“ wieder. Die Auswertung der Bürgermatrikel zeigt, dass ein erneuter und umfangreicher „Zuzug von Neubürgern mit deutschen Namen“ nach 1750 einsetzt. Klepsch schätzt, dass das „Saazer Land“ an der „Wende des 18. zum 19. Jahrhundert“ wieder eine mehrheitlich deutsch besiedelte Region war.

Die Existenz vieler Lehnwörter aus dem Tschechischen im ost-fränkischen Saazer Dialekt zeugt indes von einer kulturellen Vermischung. Als Saazer Bürger mit rein tschechischer Muttersprache stuften sich im Jahr 1910 allerdings nur noch 2,6 Prozent der Einwohner ein. Bis zur Volkszählung 1930 sollte dieser Anteil wieder steigen, 3.156 von insgesamt 18.100 Einwohnern ließen sich dann als Tschechen registrieren.

Saaz war ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Industriegebiet geworden. Rasch entwickelten sich Werke der unterschiedlichsten Produktionszweige. Generell verzeichnete das deutsch-böhmische Wirtschaftsgebiet nun einen Zuzug von Arbeitskräften aus dem tschechischen Kernland, der auch nach Gründung der Tschechoslowakei 1918 anhielt. Die beiden Böhmen waren nie vollkommen voneinander zu trennen.

Die Saazer Synagoge vor 1945

Die Saazer Synagoge vor 1945

Es gab aber auch noch das dritte Böhmen: 1930 umfasste die jüdische Gemeinde von Saaz 944 Angehörige. Wissenschaftliche Studien gehen jedoch davon aus, dass rund 10 Prozent der Bürger jüdischer Herkunft waren – die Zahl der „assimilierten Juden“ mit eingerechnet. 1939 wurden nur noch 25 von ihnen gezählt.

Am 8. November vorigen Jahres gedachte man in Žatec des 75. Jahrestages der Reichskristallnacht. Ort des Gedenkaktes war die Synagoge in der Langen Gasse (Dlouhá), deren Inneneinrichtung in dieser Nacht ausbrannte. 2010 bereits wurde im Regionalmuseum eine Ausstellung eröffnet, die durch die Geschichte der Juden von Saaz führt. Deren Gemeinde wurde im Jahre 1350 erstmals in den Quellen erwähnt.

Restaurant des Saazer Hopfe- und Biertempels

Restaurant des Saazer Hopfe- und Biertempels

Gefeiert wurde der Erfolg der Ausstellung im „Tempel des Hopfens und des Bieres“. Martin Komárek schrieb dazu kritisch, dass hier „blutige Geschichte sich in leutselige Bier Atmosphäre aufgelöst hat“. Doch Otokar Löbl, der selbst einer Saazer Familie mit jüdischen Wurzeln entstammt, die 1970 nach dem Prager Frühling die Heimatstadt verließ, hatte keine Probleme mit diesem Umtrunk. Er ist bekennender Bierliebhaber. Und die Geschichte der Juden der Stadt ist eng mit der hiesigen „Bierkultur“ verbunden: Die „Saazer Hopfenjuden“ haben in der Vergangenheit zum Aufstieg dieses Wirtschaftszweigs in der Region viel beigetragen.

Das Projekt „Die Juden von Saaz“ ist Bestandteil einer tschechisch-deutsch-jüdischen Zusammenarbeit, die unter dem Titel „Saazer Weg“ steht. Vorbereitet wurde die Ausstellung von der Jüdischen Gemeinde von Teplice, vom „Förderverein der Stadt Saaz/Žatec“ (Frankfurt am Main), vom Heimatkreis Saaz (Roth) sowie aus dem heutigen Žatec von der „Vereinigung der Landsleute und Freunde der Stadt Žatec“.

Der „Saazer Weg“ umfasst viele Initiativen. „Die den Saazer Weg gehen wollen“, so beschreibt es der Förderverein, „sind überzeugt: Ohne Erinnerung kann es keine Versöhnung geben, aber ewige Vorwürfe führen auch nicht zum Ziel.“ Man wolle miteinander aus der „Vergangenheit und ihren schrecklichen Ereignissen“ lernen, um „der gemeinsamen Zukunft von Tschechen und Deutschen im europäischen Haus“ ein neues und solides Fundament zu geben.

Dunkle Kapitel

Die „schrecklichen Ereignisse“ aber haben das Bewusstsein von Tschechen und Deutschen zutiefst geprägt. Das wissen auch Otokar Löbl und Petr Šimáček, die Vorsitzenden des Fördervereins und der „rodáci“ (Landsleute). Da steht auf der einen Seite der Massenmord von Postelberg, begangen von der Division unter General Španiel an der männlichen deutschen Bevölkerung von Saaz im Juni 1945. Und auf der anderen Seite ist Lidice bis heute der Ort, der an die vielen NS-Verbrechen, begangen an tschechischen Zivilisten, an Männern, Frauen und auch Kindern, erinnert.

Weil sich der Förderverein und die „rodáci“ gemeinsam dafür engagierten, wurde im Juni 2010 eine Gedenktafel für die Opfer von Postelberg eingeweiht. Der Förderverein organisierte 2012 in Deutschland eine Wanderausstellung mit dem Titel „Die wilde Vertreibung der Deutschen in Nordböhmen 1945“. Lidice und andere NS-Gewalttaten blieben hier ganz bewusst nicht unerwähnt.

Doch es gibt nicht nur diese dunklen Kapitel in der Geschichte. Löbl und Šimáček planen ein „Johannes-von-Saaz-Museum“ in Žatec, in dem das Zusammenleben von Deutschen, Tschechen und Juden in der Stadt im friedlichen Miteinander dokumentieren werden soll. In die wechselvolle Stadtgeschichte mit einzubeziehen wären in der neueren Zeit aber auch jene Neubürger, die nach der Vertreibung der Sudetendeutschen hier ansiedelten – oder auch angesiedelt wurden – und die aus dem tschechischen Kernland, aus Mähren und der Slowakei kamen oder die Roma, die hierher zogen und nach dem NS-Terror kommunistischen Repressalien ausgesetzt waren.

Geschichte ist in der Gegenwart präsent, sie soll aber nicht nur im neuen Museum in der Zukunft vor allen Dingen eines: zusammenführen. So sagte Löbl im Jahr 2010 anlässlich der Eröffnung der Ausstellung „Die Juden von Saaz“ in einem Gespräch mit der Tageszeitung „MF Dnes“: „Das Geschehene und die Mordtaten kann man nicht mehr (…) rückgängig machen (…) Es ist aber möglich, sich gegenseitig zu verzeihen (…) und vor einer Wiederholung der früheren Taten zu warnen.“

In der Geschichte Stärke suchen für Gegenwart und Zukunft, das ist in Anlehnung an den Historiker František Šmahel Löbls Motto. Die Geschichte von Žatec|Saaz bietet hierzu viele Ansätze.

Tschechen und Sudetendeutsche in den tschechischen Medien der letzten 20 Jahre

Von Luboš Palata

Luboš PalataDer Autor war Redakteur der traditionsreichen Tageszeitung „Lidové noviny“, die nach ihrer Einstellung durch die Kommunisten von Dissidenten 1988 im Untergrund neu gegründet wurde. Diese „Volkszeitung“, 1893 in Brünn aus der Taufe gehoben, hat seit den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts einen Ruf als Intelligenzblatt. Jetzt L. Palata bei der MF DNES, der meistverkauften Tageszeitung in der Tschechischen Republik. Der folgende Artikel wurde erstmals als Referat beim 11. Böhmerwaldseminar des Adalbert-Stifter-Vereins am 12. Mai 2012 in Písek vorgetragen und für den Abdruck redaktionell leicht gekürzt.

Lassen Sie mich Ihnen zu Beginn Auszüge aus einem Artikel vorlesen:

Es geht um die Sudetendeutschen und ihre Aussiedlung … In den Jahren 1938-1945 ist hier so manches passiert. Wir alle haben eine Ahnung davon, bis heute leben Menschen, die sich genau erinnern können. Doch auch in den Jahren 1945-1946 ereignete sich so manches. Daran erinnert sich  kaum jemand … An vielen Orten der ehemaligen Sudetengebiete spielten sich schreckliche Dinge ab. Mein Volk war berauscht vom Sieg, um den es sich nur wenig verdient gemacht hatte … Diese Nachkriegsgeschichte unseres Grenzlandes sagt uns so manch wichtiges über uns Tschechen an der Schwelle. Einer Entscheidung, ob es eine Entschuldigung geben soll oder nicht, muss etwas vorausgehen: die Erneuerung unseres geschichtlichen Bewusstseins – und auch unseres Gewissens.

Was würden Sie tippen: Aus welchem Jahr stammt dieser Artikel? Ich werde Sie nicht lange auf die Folter spannen. Er ist aus dem allerersten Jahrgang der Lidové Noviny, den ich in unserem Archiv gefunden habe, also vom Januar 1990. Die Tatsache, dass sich die Gedanken und Appelle, die darin enthalten sind, ohne die geringste Abänderung heute wiederholen ließen, sagt etwas aus. Zum einen über die Größe des Autors dieser Zeilen, Petr Příhoda, der für mich unter den tschechischen Publizisten einer der klügsten Köpfe ist, zum anderen aber auch darüber, welch kurzes Wegstück wir in den vergangenen 20 Jahren zurück gelegt haben. Aber dazu komme ich später noch.

Eine unbekannte Welt 

Es war Ende 1990, als ich als Student der Politologie an der Fakultät für Sozialwissenschaften der Karlsuniversität Prag in eine mir bislang ganz unbekannte Welt eintauchte: in die Welt der Geschichte Böhmens als gemeinsamer Heimat von Tschechen und Deutschen. Ehrlich gesagt, eine unbekannte Welt war für mich damals auch die Politikwissenschaft selbst, für die ich mich an meiner zweiten Hochschule angemeldet hatte, ohne zu wissen, was dieses Wort eigentlich bedeutet.

Was an dieser Welt, für deren Entdeckung ich vor allem Professor Rudolf Kučera und seinen Mitarbeitern und Kollegen danken möchte, am meisten faszinierte, war die Tatsache, dass ich – als Absolvent eines kommunistischen Gymnasiums Mitte der achtziger Jahre –  nicht die geringste Ahnung davon hatte. In den damaligen kommunistischen Lehrbüchern tauchten die Sudetendeutschen (ich bevorzuge allerdings den Ausdruck Naši Němci ,“Unsere Deutschen“, bzw. „Böhmische, mährische und schlesische Deutsche“) gleichsam wie Marsmännchen kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs auf und wurden nach Kriegsende – in einigen wenigen Sätzen – als Teil einer amorphen Masse von Nazis verdientermaßen aus Böhmen vertrieben.

Später begegnete ein junger, im Spätsozialismus aufwachsender Tschechoslowake wie ich diesen Deutschen nur noch von Zeit zu Zeit auf den Seiten von Rudé Právo, Mladá fronta oder auf den Fernsehschirmen als Verkörperung des Bösen an sich, als der weitaus größten Bedrohung, welche die der amerikanischen Imperialisten noch übertrafen. Demnach waren die Sudetendeutschen angeblich nicht nur dafür, mit Neutronenbomben das ganze tschechische Volk und alle anderen Völker des nach damaliger Terminologie so genannten „Lager des Friedens und des Sozialismus“ auszulöschen. Sie wollten etwas noch viel Schlimmeres: wieder nach Böhmen, in die Tschechoslowakei zurückkehren, wieder in den Wochenendhäusern, Dörfern und Städten wohnen, die in den Sudetengebieten lagen, mit deren Umrissen wir durch Karten, welche die Verkrüppelung der Tschechoslowakei durch das Münchner Abkommen dokumentierten, gut vertraut waren, die aber aus dem realen Leben ganz verschwunden waren. Während die Neutronenbombe eine kaum vorstellbare Bedrohung war, schien die Vorstellung eines Sudetendeutschen, der an die Tür eines Holzhäuschens schlägt, erheblich realistischer, und darum erfüllte sie auch besser ihren Zweck. Sie wurde deshalb von den Kommunisten mit besonderer Liebe am Leben gehalten.

Mit diesen Vorstellungen, von denen ich zwar ahnte, dass sie vielleicht nicht ganz der Wahrheit entsprachen, und ohne Ahnung, wie die Realität tatsächlich aussah, lauschte ich hingerissen den Vorlesungen von Rudolf Kučera und einigen seiner ähnlich denkenden Kollegen über das ertragreiche, tausend Jahre lange  Zusammenleben von Deutschen und Tschechen ohne nationale Grenzen, von den Peripetien der österreichischen und österreichisch-ungarischen Monarchie, von den deutsch-tschechischen Sprachkonflikten, von deutschen Ministern in tschechoslowakischen Regierungen, von sudetendeutschem antifaschistischen Widerstand und über die Schrecken der Nachkriegsvertreibung und Aussiedlung. Im Herbst 1990 traf ich dann auf einer Burg in Bayern die ersten sudetendeutschen Politiker und sprach mit ihnen, ebenso wie mit bayerischen Studenten der dritten Generation der Vertriebenen, die erstaunlicherweise entgegen den Verlautbarungen der kommunistischen Propaganda keine drei Köpfe, Teufelshörner oder einen Huf hatten.

Havel war seiner Zeit voraus – in Tschechien und in Bayern

Aufgrund meiner persönlichen Erfahrungen will ich nun darlegen, was für eine große Offenbarung die Erklärung von Václav Havel für die damalige tschechische Öffentlichkeit war, als er noch vor seiner Wahl sagte:

Ich persönlich verurteile – wie auch viele meiner Freunde – die Vertreibung der Deutschen nach dem Krieg. Ich habe sie immer für eine zutiefst unmoralische Tat gehalten, die nicht nur den Deutschen, sondern in vielleicht noch größerem Maße den Tschechen selbst sowohl moralischen als auch materiellen Schaden zugefügt hat.

Auf eine solche Erklärung war die damalige tschechische – und ich wage zu sagen, auch die sudetendeutsche – Öffentlichkeit nicht vorbereitet. Die einzige größere Debatte über die Nachkriegsvertreibung der Deutschen fand [bis dahin] unter den tschechischen Dissidenten im Rahmen der Charta 77 statt, der Inhalt dieser Diskussion blieb jedoch einer großen Mehrheit der Tschechen unbekannt.

Auch in dem neuen, demokratischen tschechischen Staat, der im Bewusstsein vieler Tschechen der älteren Generation keinesfalls an Masaryks „Erste Republik“, sondern an die „Dritte Republik“ der Nachkriegszeit unter Edvard Beneš anknüpfte, billigte man im Allgemeinen die Vertreibung der Sudetendeutschen, auf die sich [seinerzeit] – von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen – alle, von den tschechischen Demokraten bis hin zu den Kommunisten, geeinigt hatten. An einige wenige Kritiker der Vertreibung und ihres unmenschlichen Verlaufs, unter ihnen z. B. Pavel Tigrid, erinnerte sich fast niemand mehr.

Ein ähnliches Problem, nämlich die über vierzig Jahre fehlende Diskussion mit dem tschechischen Nachbar, gab es aber auch auf sudetendeutscher bzw. bayerischer Seite, welche auf die neue Situation nach der „Samtenen Revolution“ keineswegs besser vorbereitet war als die neuen demokratischen Politiker Tschechiens. Statt eine ähnlich entgegenkommende Geste wie Václav Havel zu wagen, wurden Forderungen nach einer umfassenden tschechischen Entschuldigung sowie der Abschaffung der Beneš-Dekrete
vorgebracht und das sudetendeutsche Recht auf Heimat oder Rückgabe des
Eigentums betont oder zumindest auf Entschädigungszahlungen.

Die Reaktion der [tschechischen] Presse, mit Ausnahme der Havel nahe stehenden Lidové Noviny, war dementsprechend. Wir müssen uns jedoch dessen bewusst sein, dass – außer bei Lidové Noviny – der Journalismus damals von Leuten beherrscht wurde, die in den Jahren zuvor im besten Falle stille Unterstützer des kommunistischen Regimes waren oder – im schlechteren – zu dessen größten Propagandisten und Demagogen gehörten. Natürlich gab es auch hier, wie so oft, eine kleine Zahl von Ausnahmen unter den damaligen Journalisten. Vielen von ihnen gehört heute mein Respekt.

Der festgefahrene sudetendeutsch-tschechische Konflikt bedrohte in dieser Phase sogar die deutsch-tschechischen Beziehungen, die sich durch das Entgegenkommen Havels und des Außenministers Jiří Dienstbier in der Frage der deutschen Einheit – Tschechien verzichtete auf eine Teilnahme an den 2+4-Gesprächen – auszeichneten. Besonders Dienstbier musste dafür in der tschechischen Presse viel Kritik einstecken.

Eigenartige Symbiose zwischen Altkommunisten und Sudetendeutschen

Als die tschechoslowakische Föderation begann, auseinander zu fallen, rückte das deutsch-tschechische bzw. sudetendeutsch-tschechische Thema für eine gewisse Zeit in den Hintergrund. Dies auch dank der Tatsache, dass die beiden Außenminister, Hans-Dietrich Genscher und Jiří Dienstbier, die eher emotional als faktisch begründete Aufregung durch den Abschluss eines neuen Vertrags besänftigen konnten. Die kleine Privatisierung und Restitutionsmaßnahmen sowie die erste und zweite Kupon-Privatisierung beendeten definitiv Überlegungen über eine Rückgabe des Eigentums an die Sudetendeutschen, zumindest in physischer Form.

In dieser Zeit begannen sich in der Journalistengemeinde, die vielleicht neben der Politik den größten Generationswechsel zu verzeichnen hatte – anders ging es auch nicht –, drei Strömungen heraus zu kristallisieren. Die erste, traditionelle Richtung bestand in der fortgesetzten Propagierung kommunistischer und nationaler Positionen gegenüber den Sudetendeutschen, deren Verkörperung Jan Kovařík, ehemaliger kommunistischer Diplomat, war. Kovařík war auch an der Aushandlung des Vertrags zwischen der Tschechoslowakei und der Bundesrepublik Deutschland in den siebziger Jahren beteiligt. Die Zeitung Právo dokumentierte im Hinblick auf ihre überwiegend kommunistische und ältere Lesergemeinde alle Verwicklungen der sudetendeutsch-tschechischen Beziehungen sehr detailliert und verwendete sie oft sogar als Aufmacher. Kovářík war – auch dank seiner noch vorhandenen Kontakte aus der kommunistischen Zeit – jedoch auch erster Ansprechpartner für die Führung der Sudetendeutschen, für deren Erklärungen und Gespräche Právo eine exklusive Veröffentlichungsmöglichkeit bot.

Zwischen Právo, das seinen „roten Anstrich“ nicht ganz los geworden war, und den Sudetendeutschen und ihrem Sprecher Franz Neubauer existierte in dieser Zeit eine bestimmte, eigenartige Symbiose, die wir, als Vertreter anderer Medien, etwas eifersüchtig verfolgten. Jan Kovařík hatte gegenüber uns den Vorteil, dass er offensichtlich der einzige Journalist war, der auf höchstem Niveau vom sudetendeutsch-tschechischen Thema leben konnte, wovon wir, die ebenfalls zu diesem Thema etwas publizierten oder dem wir uns in anderen Medien widmeten, nur träumen konnten. Noch größere Hardliner gab es in der rein kommunistischen Zeitung Halo noviny, die von uns jedoch nicht ernst genommen wurden und auch – wenn ich stellvertretend für meine Journalistengeneration sprechen darf – bis heute nicht ernst genommen werden.

Die „Neue Welle“ des tschechischen Journalismus

Dann gab es da meine Generation von Journalisten, die mit ihrer Arbeit erst kurz vor dem November 1989 begannen oder – wie in meinem Fall – erst danach. Uns kam entgegen, dass wir nicht belastet von einer entsprechenden Tätigkeit in der kommunistischen Vergangenheit waren oder – wie bei meinen etwas älteren Kollegen – doch nur in geringem Umfang. Andererseits lernten wir den richtigen Journalismus vielfach nach der Methode learning by doing, ähnlich eigneten wir uns so auch das nötige Wissen an. Mitte der neunziger Jahre stellte sich diese, nennen wir sie im weiteren „Neue Welle“ des tschechischen Journalismus eindeutig gegen die Vertreibung und bezeichnete sie ganz offen als unmenschlichen Vorgang, den ein demokratischer Staat nicht gutheißen könne. Einige von uns, wie etwa Martin Komárek von der Mladá Fronta Dnes, vertraten sogar die Auffassung: „Was gestohlen wurde, muss man zurückgeben.“

Außerdem existierte eine Gruppe älterer Journalisten und Publizisten, die man zusammenfassend als die „Achtundsechziger“ bezeichnen kann. Unter ihnen kristallisierte sich eine „sudetendeutsch-freundliche“ Strömung heraus, repräsentiert vor allem durch Emanuel Mandler und Bohumil Doležal, die noch weiter als Komárek ging und in einer Art Selbstgeißelung davon sprach, dass sich die die Tschechen Asche aufs Haupt streuen sollten und die Hauptursache der Vertreibung nicht der Zweite Weltkrieg oder der Nationalsozialismus, sondern der tschechische Chauvinismus und Nationalismus seien, der in Tschechien bis heute dominiere. Daneben gab es eine weitere, unserer „Neuen Welle“ des tschechischen Journalismus näher stehende Gruppe mit Leuten wie Václav Žák, Petr Příhoda, Jiří Hanák oder Josef Mlejnek, die mit uns gemeinsam allmählich einen gewissen journalistischen Mainstream bildeten.

Emanuel Mandler und Bohumil Doležal standen später hinter der Petition Smíření 95 („Versöhnung 95“), die sich als medialer Höhepunkt der Versöhnungsaktivitäten und der in den Medien aktiven tschechischen Intelligenz und Journalisten betrachten lässt. Sie forderte direkte Verhandlungen zwischen der tschechischen Regierung und den Sudetendeutschen, im Zuge derer offene Fragen der Vergangenheit gelöst werden sollten. Unter den Unterzeichnern finden wir heute in den Medien einflussreiche Persönlichkeiten, wie etwa den damals noch unbekannten Studenten Robert Časenský, heute Chefredakteur der Tageszeitung MF Dnes, Martin Zvěřina, heute Chefkommentator von Lidové Noviny, oder Pavel Šafr, der heute Chefredakteur der meist verkauften tschechischen Tageszeitung Blesk ist.

Ein Wundermittel namens Deklarace („Erklärung“)

Die politische Führung Tschechiens, darunter vor allem die tschechische Diplomatie unter Führung des tschechisch stämmigen Polen Josef Zieleniec, entschied sich jedoch, das Problem mit „München“ und den Sudetendeutschen über den Umweg „Berlin“ zu lösen. Das Projekt der „Deutsch-tschechischen Erklärung“ sollte den ursprünglichen Vorstellungen nach eine Art Tauschgeschäft sein: eine tschechische Entschuldigung für die Vertreibung, im Gegenzug die Aufgabe aller sudetendeutschen Eigentumsansprüche von deutscher Seite.

Die Berichterstattung über die „Deutsch-tschechische Erklärung“ begann erst kurz vor ihrer endgültigen Fertigstellung, da bei den schwierigen Verhandlungen der Grundsatz der Geheimhaltung gelten sollte. In Tschechien, wo sonst leider fast alles ausgeplaudert wird, gelang dies überraschenderweise auch. Ich erinnere mich sehr gerne an diese Zeit, denn niemals zuvor und niemals danach habe ich eine solche journalistische, in vielen Bereichen positive Anspannung rund um die deutsch-tschechischen Beziehungen erlebt wie bei der Deutsch-tschechischen Erklärung.

Als es einer Kollegin gelang, einen Teil des Textes in die Hände zu bekommen, wurde ihr anschließend – wahrscheinlich durch den tschechischen Geheimdienst – das Auto ausgeraubt. Entwendet wurden dabei ausgerechnet diese Dokumente zur Deutsch-tschechischen Erklärung, was gewöhnliche Diebe im Allgemeinen nicht interessieren dürfte. Dank meiner Kontakte zu deutschen Journalisten hatte ich damals als Redakteur von MF Dnes den Text der Erklärung als erster unter den tschechischen Journalisten überhaupt. Diese meine Exklusiv-Story war jedoch nach nur zwei Stunden dahin, da sich das tschechische Außenministerium entschied, nachdem es um vier Uhr nachmittags erfahren hatte, dass wir den Text  haben und veröffentlichen wollen, den Text selbst über die ČTK (tschechische Presseagentur) zu verbreiten.

Leider erfüllte die „Deutsch-tschechische Erklärung“ unsere Erwartungen auch in anderer Hinsicht nicht, zumindest nicht derjenigen, die der „Neuen Welle“ angehörten. Aus allen Schlussstrichen und Schlusspunkten waren lediglich Doppelpunkte geworden, halbherzige Versprechungen und Entschuldigungen, diplomatische Tänze und der Satz, dass „die Tschechische Republik und Deutschland ihre Beziehungen nicht mit Problemen der Vergangenheit belasten werden“. Als dann Helmut Kohl darüber hinaus im Liechtenstein-Palais verkündete, dass die Erklärung keine Eigentumsansprüche der Sudetendeutschen regle, war die Enttäuschung komplett.

Aber auch wenn wir und die Mehrheit meiner Kollegen von der „Neuen Welle“ uns nur wenig begeistert von der Erklärung zeigten, so verurteilten wir doch entschieden das, was die Kommunisten, die Anhänger des rechtsradikalen Sládek, aber auch ein Teil der Sozialdemokraten um sie im tschechischen Parlament inszenierten bzw. entfesselten. Nach der Erklärung begannen schließlich einige eingeweihte tschechische Diplomaten mit einer Art Aufklärungskampagne, die vor allem auf die „Neue Welle“ zielte. Mithilfe von Dokumente wiesen sie uns detailliert nach, dass eine Schwarz-Weiß-Sicht mit dem Ziel, uns bei den Sudetendeutschen zu entschuldigen und ihnen ihr Eigentum zurückzugeben, folgendes Problem nach sich ziehen würde: nach den Pariser Verträgen von 1947 war die Beschlagnahmung des Eigentums von Sudeten- bzw. Reichsdeutschen eine „teilweise“ Kriegsreparation des besiegten Deutschlands gegenüber der Tschechoslowakei als einem der Siegerstaaten. Außerdem hatte unsere „Neue Welle“ damals nicht berücksichtigt, dass den Sudetendeutschen von der Bundesrepublik eine teilweise Entschädigung gezahlt worden war.

Eine grundsätzliche Wende

Von der Gruppe um Bohumil Doležal und Emanuel Mandler wurde diese Ansicht scharf kritisiert. Dagegen gingen Právo und Jan Kovařík nach der deutsch-tschechischen Erklärung von einer rein anti-sudetendeutschen zu einer gemäßigten Rhetorik über und begannen, den durch die Erklärung begonnenen Aussöhnungsprozess zu unterstützen, was aus meiner Sicht eine grundsätzliche Wende bedeutete.

Nach der deutsch-tschechischen Erklärung kann ein gewisser Spannungsrückgang konstatiert werden, ebenso jedoch ein Rückgang des journalistischen Interesses an der sudetendeutsch-tschechischen Problematik generell auf tschechischer Seite. Ja, es gab die individuelle Entschädigung der NS-Opfer von deutscher Seite, es gab die ersten, von Abtasten und Wortgefechten gekennzeichneten deutsch-tschechischen Gesprächsforen, [es gab auch weiter] die alljährlichen Sudetendeutschen Tage und die Ansprachen des bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber, aber es schien, dass die ganz große Aufregung schon vorbei war. Um das Jahr 2000 rückte dann noch mal das Thema der Zwangsarbeiter in den Vordergrund, die wahrscheinlich letzte große Entschädigungsmaßnahme der Bundesrepublik, aber auch dies war nichts gegen die Spannung und die Anziehungskraft des Themas sudetendeutsch-tschechische Beziehungen in der ersten Hälfte der 90er Jahre.

Die Zeit; das Verschwinden der Generation derer, die Krieg und Vertreibung erlebt haben; entgegenkommende Gesten auf beiden Seiten der Grenze; die normale grenzüberschreitende Zusammenarbeit; der Beitritt Tschechiens zur Europäischen Union; und zum Schluss sogar der Empfang des bayerischen Ministerpräsidenten und des Sprechers der Sudetendeutschen Landsmannschaft, Bernd Posselt, beim tschechischen Premier Petr Nečas: alles das gab den sudetendeutsch-tschechischen bzw. deutsch-tschechischen Beziehungen eine andere Note.

Die Niederlage unserer Generation

Das meiner Ansicht nach größte Problem – und auf eine gewisse Art und Weise auch meine persönliche Niederlage – ist darin zu sehen, wie wenig es uns mit unseren eindeutigen Positionen hinsichtlich der Verurteilung der Vertreibung, der Entmythologisierung der Bedrohung durch Deutschland, Bayern und unsere ehemaligen deutschsprachigen Mitbürger und mit Vorschlägen wie z. B. der Errichtung eines Museums der böhmischen Deutschen (worüber ich schon Mitte der neunziger Jahre geschrieben habe) gelungen ist, die einbetonierte tschechische Politik in Bewegung zu bringen.

Ein bisschen besser gelang dies hinsichtlich der öffentlichen Meinung, aber auch dort mache ich mir keine großen Illusionen, dass vor allem bei der älteren Generation ein Umdenken stattgefunden hätte. Wenn ich über den Grund dafür nachdenke, dann könnte es sein, dass die Nachkriegsverbrechen [an unseren Deutschen] in Form von Morden, Vergewaltigungen, Folterungen in Konzentrationslagern und zum Schluss mit dem Abtransport in Viehwägen so schrecklich waren, dass schon ihr Eingeständnis für die Generation meiner Eltern, der die meisten tschechischen Politiker damals angehörten, eine so schmerzhafte Angelegenheit darstellt und demütigend ist, dass es fast unmöglich ist. Eine sudetendeutsch-tschechische Aussöhnung ist uns [Tschechen] also trotz aller Bemühungen einfach nicht gelungen.

Als Journalist verspürte ich jedoch nicht nur auf tschechischer, sondern auch auf sudetendeutscher Seite nicht genügend Demut und Anstrengungen und Willen zur Veränderung. Natürlich gab es Ausnahmen, aber ähnlich wie „München“, die Okkupation [der Tschechoslowakei] und die Verbrechen des Nationalsozialismus – der auch ein sudetendeutscher Nationalsozialismus war –, waren auch die tschechischen Verbrechen im Zuge der Vertreibung eine solche Schuldbelastung, dass weder Tschechen noch Sudetendeutschen sie überwinden konnten.

Mein Vater, der auch ein Kind der Kriegsgeneration ist, sagte mir, dass der November 1989 für ihn und seine Altersgenossen zu spät kam. Bis zur Rente verblieben ihm nur ein paar Jahre. Es gab nur wenige [ältere] Menschen, die [nach dem Ende des Kommunismus] den Mut und die Kraft hatten, im bürgerlichen Leben neu anzufangen. So gab es auch keinen deutsch-tschechischen Neubeginn für die Menschen, die bis zum Krieg in einem gemeinsamen Staat, einer gemeinsamen Heimat gelebt hatten. Wir Journalisten, die sich zwanzig Jahre ohne Erfolg darum bemüht haben, dass dies anders kommt – wie anders, das ist die andere Frage –, verspüren jetzt (und wahrscheinlich für immer) das Gefühl eines vergeblichen Kampfes. Ein vergeblicher Kampf der Kinder als Teil einer Familie, deren Eltern und Großeltern sich einst bis aufs Blut stritten, sich schrecklich wehgetan haben und bis zum Tod keinen gemeinsamen Weg mehr gefunden haben.

Lasst uns deshalb offen sagen: Die sudetendeutsch-tschechische Frage liegt heute schon auf dem Sterbebett. Die Generation von Zeitzeugen und direkt Beteiligten an diesem Konflikt verlässt uns, und es gibt niemanden, der sie ersetzt. Den in ganz Bayern und Deutschland zerstreut lebenden Sudetendeutschen widerfährt das Schicksal jeder Emigration, bei der die zweite und dritte Generation der Emigranten der Assimilierung unterliegt, im Falle unserer Deutschen zumal begünstigt durch die sprachliche Einheit mit der Umgebung. Ein Brandherd der gemeinsamen Geschichte ist heute vielleicht beseitigt, er schwelt nicht mehr, aber es wurde auf ihm auch nichts mehr neu gebaut oder wird neu gebaut werden. Vielleicht nur noch ein Kreuz und eine Gedenkstätte.

Die Sudetendeutschen machen keinen Spaß mehr

Heute habe ich es als Journalist mit einem Problem ganz anderer Art zu tun als etwa in den neunziger Jahren, als wir das Gefühl hatten, die tschechische Sicht auf die Vertreibung der Sudetendeutschen zumindest in Richtung einer tschechischen Entschuldigung oder des Bedauerns lenken zu müssen. Heute stoße ich bei den Kollegen der jüngeren Generation, die aktuell in den Medien zwar nicht die Mehrheit, aber doch einen bedeutenden Teil ausmachen – ich als 45jähriger bin da eher schon ein Veteran –, immer wieder auf absolutes Desinteresse. Kein Interesse an den Sudetendeutschen, keines an  der Erinnerung an die gemeinsame Geschichte, keines daran, überhaupt einen Standpunkt zur Vertreibung der Sudetendeutschen einzunehmen. Die grundsätzliche Haltung ist dabei, dass ihnen das eigentlich keinen Spass macht oder kein Interesse weckt, ebenso wie es auch die Chefs der tschechischen Medien nicht mehr interessiert, da sich mit den Sudetendeutschen keine Schlagzeile mehr produzieren läßt. Ich vereinfache sicher etwas, wenn ich  meine, dass die Sudetendeutschen nach der Auffassung der jüngsten tschechischen  Journalistengeneration in etwa auf dem Niveau der in Wien lebenden Tschechen anzusiedeln sind.

Man kann zwar vor allem bei jungen Menschen in den früher deutschen Städten des Grenzgebiets einen gegensätzlicher Trend  beobachten, was das Interesses an der Geschichte ihrer Wohnorte angeht. Dennoch muss ich feststellen, dass wir heute bei der Beschäftigung mit dem sudetendeutsch-tschechischen Thema mit Vergessen und Desinteresse kämpfen. Falls wir, denen daran liegt, dass dies nicht in Vergessenheit gerät, es nicht schaffen, uns dem entgegenzustellen, so kann es sein, dass während der nächsten 10-15 Jahre die Vertreibung ihre mentale Vollendung findet. Wenn wir zulassen, dass die Erinnerungen an das Zusammenleben von Tschechen und Deutschen in Tschechien verschwinden; falls wir Tschechen es zulassen, dass die Sudetendeutschen als Bestandteil der tschechischen Kultur im [bundes-] deutschen [Bevölkerungs-] Meer verschwinden, falls die Sudetendeutschen keinen Weg zur positiven Rückkehr in das tschechische Bewusstsein finden, dann hat die Vertreibung sieben Jahrzehnte nach dem Krieg ihren Zweck erfüllt. Das wäre das Traurigste, was passieren könnte.

Übersetzung: Wolfgang Schwarz | redaktionelle Ergänzungen in eckigen Klammern