Interview mit dem gebürtigen Saazer Petr Šimáček
Von Petr Kinst | Tageszeitung „Lucan“ vom 28. November 2018
Petr Šimáček arbeitete über dreißig Jahre als Redakteur beim Tschechischen Rundfunk, wo er die bekannten Sendungen „Achtung Kurve!“ sowie die „Plaudereien für Erwachsene“ oder die „Blasmusik-Hitparade“ gestaltete. Er ist auch Vorsitzender des „Vereins der Landsleute und Freunde der Stadt Saaz“ — und das seit dem Jahre 2000, als er den Verein gründete. Vor Jahren beteiligte er sich in Saaz an der Organisation verschiedener Schönheitswettbewerbe. Der bekannteste war die Wahl der „Miss Goldenes Getränk“ und danach der „Miss Hopfen und Bier“. In Prag besitzt er eine PR-Agentur, und in einer Kunstgalerie bereitet er Ausstellungen bekannter Künstler und Newcomer vor. Dort ist z. B. gerade eine Schmuckausstellung mit Werken von Zusana Bubilková zu sehen.
Erinnern Sie sich noch, wie der Verein der Landsleute und Freunde der Stadt Saaz gegründet wurde und warum?
Ich habe zu Saaz eine enge Beziehung – dank der patriotischen Erziehung durch meine Eltern und durch Otto Rohusch, mit dem ich schon als Gymnasialschüler im örtlichen Rundfunk zusammenarbeitete. Im Studio in der Poděbrad-Straße saß ich auf dem Stuhl des berühmten Zdenek Sverák[1], der in Saaz angefangen hat. Zu den Gründern des Vereins gehören außer mir auch Josef Zábransky[2] und Vladimír Halamásek[3].
Und die Gründe für die Gründung des Vereins?
Von Anfang an wollten wir das Interesse der Landsleute und Freunde der „Königlichen Stadt Saaz“ und des Saazerlandes an der Geschichte und Zukunft der Stadt wecken, sie organisieren und ihre Tätigkeiten zum Wohl der Stadt koordinieren. Wir wollten den Tourismus fördern und einen Raum schaffen, der zur Verbesserung des kulturellen Niveaus beiträgt und zur Prosperität der Stadt, mit dem Ziel des Wiederauflebens der einst so berühmten historischen Stadt. Wir wollten in den Bürgern einen gesunden Patriotismus wecken – und dies vor allem bei den Kindern und Jugendlichen.
Es gibt eine ganze Reihe von Projekten, an denen sich der Verein beteiligt. Welche davon würden Sie als die wichtigsten ansehen?
Ich würde das Welttreffen der Saazer zur Tausendjahrfeier der Stadt hervorheben. Am 11. September 2004 konnte Saaz zweieinhalbtausend gebürtige Saazer und Förderer mit ihren Familien aus der ganzen Welt willkommen heißen. Ein Gesellschaftsabend mit einem großen kulturellen Programm sowie Musik und Tanz beendete die zweitägigen Veranstaltungen. Teil der Feier auf dem Saazer Marktplatz war das Backen der größten Torte der Welt mit Tausenden brennender Kerzen, das im tschechischen „Guinness-Buch der Rekorde“ erwähnt wird.
Soviel ich weiß, war das nicht Ihr einziger Rekord.
Richtig. Ich organisiere auch große Musikfestivals, und dort fielen die Rekorde. Bei einem Blasmusikkonzert in der Prager Tesla-Arena tanzten 4340 Tänzer unter einem Dach zu dem Lied „Unter einem Dach“. Und in der Sazka-Arena traten in der größten Blasmusik-Show Europas sechzehn Kapellen auf.
Kehren wir zu Saaz zurück. Berühmt war ja auch Ihre Wette um ein Fass Bier hinsichtlich der Woche der Blasmusik im Saazer Sommerkino. Es ging darum, ob Sie das große Amphitheater mit Zuschauern füllen können.
Die Wette habe ich gewonnen. Eine ganze Woche lang füllten zweieinhalbtausend Zuschauer das Amphitheater, die mit Bussen aus allen Regionen der Umgebung kamen. Der damalige Bürgermeister der Stadt, Jiří Farkota, erklärte, dass wir der einzige Verein sind, der es fertig bringt, alle Plätze des Sommerkinos zu füllen. Das gewonnene Fass Bier – natürliche hatten wir noch weitere dazugekauft – hat der Organisationsstab ausgetrunken.
Können Sie noch einige Aktivitäten des Vereins nennen?
Es gibt Dutzende. Ich möchte die Projekte erwähnen, bei denen wir mit dem „Förderverein der Stadt Saaz|Žatec“ und seinem Vorsitzenden Otokar Löbl aus Frankfurt am Main zusammenarbeiten. Bestandteil des Projekts „Die Juden von Saaz“ ist eine ständige Ausstellung in der Saazer Synagoge. Wir wollen auch eine Gedenkstätte mit der Dokumentation der Geschichte des Saazer Militärflugplatzes einrichten, beginnend mit dem deutschen Anteil an der Geschichte des Flugplatzes, mit den Zwangsarbeitern bei seiner Erbauung, über die Situation nach 1945, die Luftbrücke zwischen Saaz und Israel im Jahre 1948, bis hin zur Gegenwart.
Mit dem ehemaligen Flugplatz hängt direkt der Nikolaus-Fliegerball zusammen, den Sie für Samstag, den 1. Dezember, im Restaurant „Hopfen- und Biertempel “ planen. Dazu soll sich eine Gesellschaft von Piloten und Kosmonauten einfinden. Wer soll kommen?
Unser Kosmonaut Vladimír Remek hat versprochen zu kommen, außerdem der Saazer Oldřich Pelčák, Reservemitglied der Besatzung, sowie die Legende unter unseren Jagdfliegern, Václav Válek, und weitere Kommandeure, Piloten und Mechaniker vom Saazer Militärflugplatz. Die ganze Aktion organisieren wir im Rahmen des hundertsten Jahrestages der Gründung der ČSR und zur Erinnerung an den Saazer Flugplatz.
Einige der avisierten Projekte wurden bisher nicht realisiert; z. B. das Johannes von-Saaz-Museum.
Dieses Projekt wird wiederum mit dem „Förderverein der Stadt Saaz|Žatec“ vorbereitet, aber es wird wahrscheinlich erst nach dem Erwerb eines geeigneten Gebäudes realisiert werden. Ein Erwerb, der bis jetzt noch nicht gelungen ist. An der finanziellen Absicherung arbeiten wir aber schon.
Letztes Jahr hatte der Film „Das Saazer Land “ Premiere, der die Stadt im Kontext der Geschichte zeigt – von der Urzeit bis zum Ende der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Bereiten Sie nicht etwas Weiteres vor?
Die Fortsetzung, beginnend mit der Saazer Geschichte in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts, ist eine heikle Angelegenheit, und das betrifft ja nicht nur Saaz. Auch das Geschichtsbuch „Žatec“[4], das im Jahre 2004 herausgegeben wurde, beschreibt diese Zeit nur sehr knapp, allgemein und vorsichtig. Zudem sind manche Dokumente aus Dauer nicht zugänglich oder nicht in Karteien erfasst. Aber wir werden sehen, was die Zeit noch bringt.
Also sagen Sie nicht definitiv nein?
Im nächsten Jahr werden wir eher versuchen, an noch lebende Saazer Zeitzeugen in Israel wegen eines Dokuments heranzutreten, das uns das Leben in der Zeit der 1. Republik näherbringen könnte. Dies würde an das schon fertige [tschechische] Filmdokument „Die Juden von Saaz“ anknüpfen, das auch auf Youtube zu sehen ist, wo Zeitzeugen über Geschichte und Gegenwart sprechen.
Der Film „Das Saazer Land“ beschäftigt sich besonders mit dem Zusammenleben von Tschechen und Deutschen. Sie engagieren sich sehr für diese Thematik. Warum?
Ohne Vergangenheit gibt es keine Zukunft, und da Saaz ja seit dem 18. Jahrhundert überwiegend deutsch war, ist es notwendig, diese Vergangenheit kennen zu lernen — und das mit allen positiven und negativen Aspekten. „Nicht das Vergangene ist Geschichte, sondern das Wissen und die Erkenntnisse des menschlichen Geistes über die Vergangenheit. Diese Erkenntnisse sind unvergänglich, und in ihren Zusammenhängen wird Geschichte offenbar.“ Das sagte der deutsche Historiker Johann Gustav Bernhard Droysen. Ich hoffe, dass es im Film gelungen ist, das zu deutlich zu machen. Es geht aber nicht nur um mein Engagement hinsichtlich des Zusammenlebens mit den Deutschen: Wenn es nicht die ursprünglichen Einwohner, die Juden, die Deutschen, die fleißigen Wolhynien-Tschechen und dann auch noch die in letzter Zeit hinzugekommenen tüchtigen Einwohner von Saaz gegeben hätte, wäre Saaz nicht die berühmte und schöne Stadt, die es heute ist.
In Deutschland nehmen Sie an verschiedenen Treffen teil. Sind Sie im Kontakt mit ehemaligen deutschen Einwohnern von Saaz? Leben noch viele von ihnen?
Es leben nicht mehr viele, aber immer haben sie Interesse an ihrer Geburtsstadt, verfolgen ihre Entwicklung und kommen regelmäßig hierher — privat oder auch manchmal jährlich mit Autobussen. Das gilt auch für die Folgegeneration, die schon in Deutschland geboren ist. Manche haben eine ganz intensive Beziehung zu der Stadt, aus der ihre Eltern oder auch ihre Großeltern stammen. Alles an Saaz gefällt ihnen, und sie schauen es sich staunend an.
Der Verein organisiert in Zusammenarbeit mit dem „Förderverein der Stadt Saaz|Žatec“ und der jüdischen Gemeinde Teplitz auch Gedenkakte für die Saazer Juden. Vor ein paar Tagen fand in der Saazer Synagoge die feierliche Verleihung des Titels „Gerechter unter den Völkern“ statt. Wie haben Sie diesen Akt, den Sie moderiert haben, persönlich wahrgenommen?
Die Saazer Synagoge betrete ich immer mit einem Gefühl der Demut. So war das auch bei der Anwesenheit der hohen Gäste, an ihrer Spitze der israelische Botschafter Daniel Meron. Ich bin froh, dass dieser an das bedeutende historische Ereignis erinnerte, als aus unserer Stadt militärische Hilfe an den kleinen Staat Israel ging. Aber nicht nur das: In Saaz ist sich kaum jemand darüber im Klaren, dass Häuser, bedeutende Villen und Hopfenmagazine, die sich um die Eintragung in die Liste des UNESCO-Welterbes bewerben, von Juden errichtet worden sind. Die meisten leben nicht mehr. Ehrendes Erinnern an sie ist ganz gewiss geboten, wie Otokar Löbl in der Synagoge sagte.
Wie schätzen Sie das Saaz von heute im Vergleich mit dem Zustand der Stadt vor achtzehn Jahren ein?
Die Trennung von der Verwaltung des ehemaligen Saazer Kreises hat sehr geholfen, so dass Saaz jetzt als eigenständige Stadt selbständig wirtschaftet und Entscheidungen trifft. Saaz verändert sich — auch dank des Gewerbegebiets Triangel — zu einer modernen, pulsierenden schönen Stadt mit großartiger Architektur. Ich bin froh, dass die neuen Stadtverordneten Zdenka Hamousová wieder an die Spitze der Stadt gewählt haben, die der Stadt auch als Senatorin sehr nützlich ist, und als stellvertretende Bürgermeister Radim Laibl und Jaroslav Spicka, die sich gut verstehen. Es sieht so aus, dass ein neuer Stadtrat endlich anfängt, für die Menschen, die Stadt und ihre Entwicklung ohne die früheren kleinkarierten Streitereien erfolgreich zu arbeiten. Und was tun? Unter anderem würden wir in Saaz eine Mehrzweckhalle brauchen und dazu einen Umbau des Eisstadions.
Was machen Sie im Berufsleben?
Ich beschäftige mich nur mit Dingen, die mir Spaß machen. Dazu gehört z. B. meine Kunstgalerie, in der ich Ausstellungen von renommierten und auch von weniger bekannten Künstlern veranstalte.
Zum Schluss: Ihre Wünsche?
Dass Saaz niemals schläft. Und dass alle, die Saaz „im Blut“ haben, der Stadt helfen und immer gern in ihre Stadt zurückkommen, so wie ich.
Der Beitrag unter dem Originaltitel „Gespräch der Woche: Es ist notwendig, dass Leute helfen, die Saaz im Blut haben“ wurde leicht gekürzt. Übersetzung Helmut Schneider, Redaktion Andreas Kalckhoff.
[1] Zdeněk Svěrák, tschechischer Schauspieler, Dramatiker und Drehbuchautor.
[2] Josef Zábransky, Saazer Geschäftsmann.
[3] Vladimír Halamásek (1929-2008), Philosoph, Historiker, Pädagoge, Journalist, Künstler.
[4] Petr Holodnák (Hg.), Žatec (dt. 1992)
Gerechter unter den Völkern
Saazer Bürger erhalten die höchste Auszeichnung des Staates Israel für Nichtjuden
Josef Širc, Jaroslava Říhová und Eliška Dvořáčková erhielten im Rahmen einer Gedenkveranstaltung in der Saazer Synagoge stellvertretend für ihre jeweiligen Eltern, die Geschwister Václav Širc und Marie Kelnerová, für die Rettung eines jüdischen Mädchens vor dem Holocaust den Titel „Gerechte unter den Völkern“. Die Geschwister Širc stammten aus Wolhynien in der Ukraine, von wo sie nach dem Zweiten Weltkrieg zur Neubesiedelung des Saazerlandes kamen. Der Ingenieur Václav Širc (1919-2002) lebte dort in Imling (Jimlín) und lehrte in Saaz an der Landwirtschaftsschule. Er ist Autor der Chronik seines Heimatortes Volkov, die er 1980 mit Hilfe von Petr Šimáček herausgegeben und veröffentlicht hat [1].
Václav Širc hatte zusammen mit seiner Schwester Marie noch in der wolhynischen Heimat das jüdische Mädchen Rachel Rabinovicz, das seine Familien verloren hatte, halb verhungert im Wald aufgefunden, mit Unterstützung ihrer eigenen Familie versteckt und somit vor dem Holocaust gerettet. „Ich, meine Mutter und meine Kinder, werden den Geschwistern ewig dankbar sein“, erklärte Rachels Tochter Yaffa Riesenfeld, die zu der Ehrung aus den USA angereist war. „Als ich mit meiner 93-jährigen Mutter sprach, die bereits vieles vergessen hatte, und sagte, dass ich zu dieser Zeremonie nach Saaz fahren würde, fing sie an zu weinen. Sie hat seit Jahren nicht mehr geweint.“
Die Ehrung „Gerechte unter den Völkern“ wird seit 1963 an Personen verliehen, die unter dem Nationalsozialismus ihr Leben riskierten, um Juden zu retten. Inzwischen wurden mit dem Titel mehr als 27.000 Menschen ausgezeichnet, einschließlich der Familienangehörigen, mit denen sie Juden beim Überleben geholfen haben. Den Geehrten wird eine Ehrenurkunde und eine Medaille verliehen. Letztere trägt jeweils den Namen des Retters und den Spruch: „Wer immer ein Menschenleben rettet, hat damit gleichsam eine ganze Welt gerettet.“ [2] Außerdem werden ihre Namen auf der Ehrenwand im Garten der Gerechten in der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem verewigt.
Die Auszeichnungen wurde vom israelischen Botschafter in der Tschechischen Republik, Daniel Meron, überreichte. An die zweihundert Gästen und Besucher nahmen an dem Festakt in der Saazer Synagoge teil, der von einem musikalischem Programm mit jüdischen Melodien begleitet war. Ausführende waren der Kammerchor der Saazer Musikschule und der Saazer Laienchor unter Leitung von Elizabeth Urbancová. Zu den Rednern und Gästen gehörten die Bürgermeisterin von Saaz und Senatorin Zdenka Hamousová, der Landeshauptmann der Region Aussig Oldřich Bubeníček, die Vertreter der jüdischen Gemeinde Teplitz Michál Lichtenstein und Gabriele Beck, Mitglieder des diplomatischen Korps, darunter der argentinische Botschafter Roberto Salafia, sowie die Veranstalter Petr Šimáček für die „Landsleute und Freunde der Stadt Žatec“ und Otokar Löbl für den „Förderverein der Stadt Saaz|Žatec“.
Die Ehrung der „Gerechten unter den Völkern“ war Teil des jährlichen Gedenkens an die jüdischen Opfer der „Kristallnacht“ 1938. „Wir halten diese Gedenkveranstaltungen ab, weil die Bedrohung der Juden durchaus aktuell ist und die meisten Menschen in Tschechien über die früheren Verfolgungen nicht viel wissen“, erklärte Petr Šimáček der Zeitung Žatecký Noviny, und Otokar Löbl ergänzte: „So wissen zum Beispiel in Saaz nur wenige Menschen, dass in ihrer Stadt, die UNESCO-Weltkulturerbe werden will, viele Häuser, Geschäfte und Hopfenlager von Juden erbaut wurden. Sie und ihre Nachkommen leben hier alle nicht mehr.“
Bericht des tschechischen Fernsehens „Televize Žatec“:
[1] Václav Širc: Stopy zaváté časem. Kronika Volkova a přilehlých obcí [= Spuren verschwinden mit der Zeit. Chronik von Volkov und angrenzenden Gemeinden]. Lipenec 1980.
[2] Zitat aus dem Mischna-Traktat Sanhedrin des babylonischen Talmuds.
Prager Frühling: Hoffnung auch für die deutsche Minderheit

„Als ich mich gestern an die Maschine setzte, war ich mir dessen bewußt, daß irgendwann einmal ein Redakteur oder irgendjemand anderer in einem Archiv diese Ausgabe suchen wird, um nachzulesen, wie es damals war …“ (Karl Forster)
Der „Prager Frühling“ und die folgende Okkupation der Tschechoslowakei durch die Sowjetunion jährt sich zum fünfzigsten Mal: Zeit, sich aus der Distanz dieses epochale Ereignis, das in einer Reihe mit dem politischen Aufbegehren der „Achtundsechziger“ in Europa gegen die alte Ordnung zu sehen ist, zu vergegenwärtigen, zu bewerten und in die Gegenwart einzuordnen. Für das Verhältnis von Tschechen und Deutsche war es insofern bedeutsam, als sich die deutsche Minderheit Hoffnungen auf größere Freiheit auch für sich selbst machte. Sie gehörte zu den entschiedensten Unterstützern von Dubceks Reformpolitik. Vorstandsmitglied Helmut Schneider berichtet über die Veranstaltung „50 Jahre Prager Frühling. Hoffnung und gewaltsames Ende eines sozialistischen Experiments“.
Der Förderverein der Stadt Saaz|Žatec hatte in Zusammenarbeit mit dem Deutsch-Slowakischen-Kulturverein Frankfurt und der Katholischen Akademie Rabanus Maurus zu einem informativen Abend eingeladen, bei dem in Form einer Podiumsdiskussion die Ereignisse rund um den „Prager Frühling“ sowie ihre Konsequenzen für die aktuelle Politik erörtert werden sollten.
Rund 200 Zuhörer fanden sich dazu am 16. August 2018 im „Haus am Dom“ ein. Nach einer kurzen filmischen Zusammenfassung der Geschehnisse begann, moderiert von Dr. Thoman Dürbeck, die erste Runde der Podiumsgespräche. Drei Zeitzeugen schilderten ihre persönlichen Erlebnisse, Befindlichkeiten und Erfahrungen während und nach der „Frühlingszeit“: Peter Repka (slowakischer Publizist und Schriftsteller), Ivana Palek (Tochter des seinerzeit einflussreichen Wirtschaftswissenschaftlers Jiři Kosta) und Libor Rouček (Abgeordneter im Europa-Parlament).
Im Anschluss an die individuellen anschaulichen Berichte der Zeitzeugen hatten die renommierten Journalisten Boris Reitschuster und Reinhard Veser die Aufgabe, die Thematik „Sozialistisches Experiment“ aus einem distanzierteren Blickwinkel zu analysieren. Im Mittelpunkt ihrer Ausführungen standen drei Themen. Zunächst wurde die historische Entwicklung der ČSSR in der Nachkriegszeit referiert und über ihre Position innerhalb des „Ostblocks“ durchaus kontrovers diskutiert. Außerdem beschäftigten sich die beiden Journalisten mit der Frage, ob und inwieweit ein engagiertes Eingreifen der Westmächte oder ein couragierteres Verhalten der Prager Regierung gegenüber der Sowjetmacht ein totales Scheitern der Reformen hätte verhindern können.
Einen aktuellen Bezug hatte das dritte Thema: Ist das heutige Russland unter Putin nach wie vor ein zu fürchtender aggressiver Staat? Boris Reitschuster nahm dazu eindeutig Stellung: Russlands Außenpolitik dürfe keinesfalls allzu tolerant akzeptiert werden. Eine lebhaften Publikumsdiskussion schloss sich an.
50 Jahre Prager Frühling
Warum? Zur Gründung des Fördervereins vor fünfzehn Jahren
Der folgende programmatische Text aus dem Gründungsjahr 2003 des Fördervereins ist fünfzehn Jahre danach immer noch aktuell. Er wird deshalb zur Erinnerung noch einmal veröffentlicht.
Von Otokar Löbl | Georgensgmünd 20. Mai 2003, überarbeitet am 6. Januar 2018
Man wird uns fragen: warum? Es gibt ja schon den Kulturkreis Saaz und den Heimatkreis in der Sudetendeutschen Landsmannschaft. Warum dann noch einen Verein für Saaz? Haben die Vereine vielleicht eine unterschiedliche Zielsetzung? Was verbindet uns andererseits mit den älteren Vereinen und Organisationen?

Otokar Löbl 2003
Ich möchte zuerst feststellen, was uns verbindet. Ich glaube, dies ist die Liebe zu unserer Heimatstadt Saaz, die jetzt Žatec heißt, wo viele von uns das Licht der Welt erblickt, ihre Kindheit oder Jugend verbracht oder von der ihre Eltern erzählt haben. Deswegen fühlen wir uns mit dieser Stadt und Landschaft verbunden. Damit enden aber in vielen Fällen auch schon die Gemeinsamkeiten. Die Wege, Interessen und Ziele gehen doch oft auseinander.
Dafür gibt es verschiedene Gründe: persönliche Erlebnisse und Erfahrungen, Erziehung und leider auch politische Einstellungen. Morde an Familienmitgliedern oder Verbrechen am eigenen Leibe und schließlich die ungerechte Vertreibung und Enteignung leben bei vielen traumatisch nach und belasten das Verhältnis zu den heutigen Stadtbewohnern. Dass diese Verbrechen nicht öffentlich untersucht, nicht zugegeben und schon gar nicht gesühnt wurden, führte bei vielen unserer Landsleuten zu Verbitterung und Hass auf alles, was tschechisch ist. Bei einigen wirkte sich außerdem die nationalsozialistische Erziehung prägend auf ihre politischen Überzeugungen aus. Dies alles nehmen wir mit mehr oder weniger Verständnis zur Kenntnis.
Unsere Sicht auf Saaz und das deutsch-tschechische Verhältnis ist allerdings in vielerlei Hinsicht eine andere. Wir wollen den „Saazer Weg“ beschreiten, der sich bemüht, Verletzungen zu überwinden und sich der Geschichte vorurteilslos und zukunftsgewandt zu stellen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es nicht nur auf deutscher, sondern auch auf tschechicher Seite Ressentiments und Irrtümer gibt, die zu überwinden sind. Deshalb wollen wir in historischen Seminaren und Veröffentlichungen den Menschen hüben und drüben die vollständige Geschichte der Stadt näher bringen. Vor allem die Jugend soll erfahren, dass es in der Vergangenheit nicht nur Schwarz und Weiß gibt, sondern dass Schuld und Leid zwischen Völkern meist gleichmäßig verteilt sind. Wir sind außerdem der Ansicht, dass Schuld immer persönlich ist und nachfolgende Generationen nicht damit gelasten werden dürfen.
Deshalb wollen wir nicht in der Vergangenheit leben, sondern Deutsche und Tschechen in der Gegenwart neu und vorurteilsfrei zusammenbringen. Das betrifft das kulturelle Leben ebenso wie Wirtschaft und Sport. Wir wollen Saaz, nicht zuletzt berühmt durch sein Bier, in Deutschland als Tourismusort bekannt machen und damit die hiesige Wirtschaft stärken. Damit soll die ehemalige Königsstadt in Böhmen ein Stück ihrer alten Bedeutung zurückerlangen. Auch wollen wir bei den Integrationsbemühungen in die EU nach unseren Möglichkeiten behilflich sein.
Wir sehen nach vorne. Dazu gehört, dass unbewältigte Geschichte gemeinsam aufgearbeitet wird. Altlasten gibt es dabei auf beiden Seiten. Vor allem aber wollen wir dazu beitragen, dass sich „unser“ Saaz als moderne, attraktive Stadt mit aufgeschlossenen Einwohnern und einer großen Vergangenheit präsentiert. Teil dieser Vergangenheit sind Deutsche, die diese Stadt über Jahrhunderte wirtschaftlich und kulturell prägten. Dieses deutsche Erbe, das in den Bauten der Stadt allgegenwärtig ist, zu erforschen, zu pflegen und als das Eigene zu verstehen: dazu wollen wir die heutigen Einwohner von Saaz|Žatec ermutigen.
Der Welt frei und offen begegnen
Der Förderverein stellt sich Fragen von tschechischen Gymnasiasten
Im Vorfeld der Mitgliederversammlung am 11. November 2017 in Saaz folgte der Förderverein einer Einladung des Gymnasiums Podersam zur Diskussion über die Zukunft von Deutschen und Tschechen. In Prag hatte er zuvor im „Haus der Minderheiten“ den Videofilm „Das Saazerland“ gezeigt. Am 9. September wurde wieder der Schändung der Saazer Synagoge in der „Reichskristallnacht“ gedacht (tschechischer TV-Bericht).
Vier Mitglieder des Fördervereins stellten sich am 10. November 2017 den Fragen der tschechischen Gymnasiasten von Podersam|Podbořany bei Saaz. Nachdem Otokar Löbl Ziele und Arbeit des Fördervereins vorgestellt hatte, sprach er über die Lehren, die uns der tschechische Philosoph Jan Patočka (1907-1977) zum Thema Freiheit und Demokratie geben kann. Patočka, ein Mitunterzeichner der „Charta 77“, verstand Freiheit nicht als Ausleben von Individualismus, sondern als Aufforderung zu eigenem Denken, Weltoffenheit und als freie Hinwendung zum Mitbürger. Löbl hob dabei hervor, dass selbständiges Denken und Recherchieren vor den Lügen, „Fake News“ und „alternativen Fakten“ schützt, die heute die Wirklichkeit zu verzerren drohen.
Die Schüler hatte erst einmal Fragen zu den Deutschen und den schrecklichen Nachkriegsereignisse in Saaz und Postelberg. Löbl verwies dabei auf die zweisprachige Dokumentation über den Fall Postelberg, die sich als Spende des Fördervereins in der Schulbibliothek befände. Eine Schülerin sprach darüber, dass es in ihrer Familie viele deutsche Vorfahren gebe und dass die Spuren der deutschen Vergangenheit auch im Podersamer Land noch sichtbar seien. Viele hätten dazu heute eine positive Einstellung. Die Antworten der deutschen Gäste Gerhard Gerstenhöfer, Andreas Kalckhoff und Helmut Schneider wurden aufmerksam vernommen und gaben Anlass zu neuen Fragen.
Danach kehrte das Gespräch in die politische Gegenwart zurück, in der das Verhältnis zu den Deutschen eine weniger zentrale Rolle einnimmt als die eigenen Probleme mit Freiheit und Demokratie. Tatsächlich äußerten die Schüler Unzufriedenheit und Ratlosigkeit hinsichtlich des Zustands ihrer Gesellschaft. Kalckhoff verwies als mögliche Antwort auf den tschechischen Politologen Bohumil Doležal, der beklagt, dass die von den Kommunisten zerstörte Zivilgesellschaft noch nicht wieder vollständig erneuert sei. Gesellschaft ist nämlich nicht nur eine Anhäufung von Individuen, die ihre eigenen Interessen verfolgen, sondern sie kann als Träger des Staates und Kontrolleur der Regierenden nur funktionieren, wenn ihre Mitglieder als Bürger gemeinsam handeln und gemeinsamen Werten verpflichtet sind. Statt auf den Staat, die EU oder die Parteien zu warten, so Kalckhoff, sei es an jedem Einzelnen, sich zu engagieren und zu widersprechen.

Gäste im Gymnasium, mit Lehererinnen (v.l.n.r.) Lehgrerin, Otokar Löbl, Helmut Schneider, Lehrerin, Gerhard Gerstenhöfer, Andreas Kalckhoff)
Gedenken an die „Reichskristallnacht“ (Tschechisches Fernsehen):
Literaturvorschlag zu Jan Patočka
Das Saazer Land im Film verewigt
Von Patrik Schumacher | Landesecho, Prag 15. Juni 2017
Am Pfingstmontag feierte die Dokumentation „Das Saazer Land – Eine Geschichte von Deutschen und Tschechen“ in Theater Saaz (Žatec) vor rund 400 Gästen ihre Premiere. Inhaltlich veranschaulicht der hundertminütige zweiteilige Film die ereignisreiche Geschichte der nordböhmischen Hopfenstadt Saaz (Žatec).
Für die Dreharbeiten der Doku in deutsch-tschechischer Koproduktion, zeigte sich das Filmstudio Sirius aus dem thüringischen Saalfeld verantwortlich. „Den Film haben wir innerhalb von drei Jahren gedreht, in denen wir vielen liebevollen Menschen begegnet sind, welche uns stets bei den Drehs geholfen haben“, sagte Jorg Schilling von Sirius.

Deutscher oder Tscheche? Saazer! Andreas Kalckhoff, Otokar Löbl, Petr Šimáček (v. l. n. r.) feiern die Premiere
ihrer Hommage an ihre Heimatstadt
Der Film „Das Saazer Land“ beleuchtet nicht nur die Geschichte von Tschechen, wie der Titel ankündigt. Sondern geht auch den Weg der Stadt und ihrer Entwicklung vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert nach. „Der Film will dem Zuschauer nahe bringen, in welcher Art und Weise die verschiedenen Nationalitäten zur Entwicklung der Region beitrugen, wie ihre Schicksale verknüpft waren und wie daraus auch ab und zu Konflikte entstanden, deren Ursprung jedoch weit von der beschriebenen Region entfernt lag“, erklärt Otokar Löbl, Vorsitzender des Ackermann aus Böhmen-Instituts, das sich der Erforschung der Geschichte der Stadt Saaz und ihres Umlands widmet und Co-Autor der Doku. Besonders wertvoll, so Löbl, sind die Erinnerungen der deutschen und tschechischen Zeitzeugen, die im Film zu Wort kommen. Ihre Berichte werden ergänzt durch Kommentare von weiteren Fachleuten. Sie zeichnen ein ausführliches Bild über die die Stellung, die die Stadt Saaz seinerzeit in Böhmen einnahm.
Neuer Glanz für alte Stadt
Ein bisschen ihrer damaligen Bedeutung möchte der Film, der in der Zusammenarbeit mit dem deutsch-tschechischen „Verein der Landsleute und Freunde der Stadt Saaz“ entstand, der Stadt heute zurück verleihen. Denn die spannende Geschichte der Stadt ist Ende des Zweiten Weltkriegs fast in Vergessenheit geraten. „Nur mit vereinten Kräften können wir es schaffen, Saaz sein verlorenes Gesicht wiederzugeben“, sagt Petr Šimaček, der Vorsitzende des Vereins. Zusammen mit Otokar Löbl und anderen Deutschen und Tschechen aus Saaz will Šimaček die Stadt wieder zu einem bedeutenden Ort auf der Landkarte Tschechiens zu machen. „Zu denen gehört die Stadt nämlich historisch und faktisch seit Jahrhunderten. Die Doku ist hier nur ein weiterer Schritt. „Einen so umfangreichen Film über Saaz gab es noch nie“, freut sich Šimaček.
Vor allem die jüngere Generation soll mithilfe dieser Doku angeregt werden, Interesse für die historische Stadt an der Eger (Ohře) und ihrer reichen Geschichte zu entwickeln. Deshalb wird diese Doku auch in manchen Schulen als Lehrmaterial eingeführt. Das, so hoffen die Filmemacher, schafft die Zukunft, die Saaz braucht.
Die Dokumentation „„Das Saazer Land – Eine Geschichte von Deutschen und Tschechen“ ist in deutscher und tschechischer Version auf Amazon erhältlich. Für den Herbst ist eine Vorführung des Films mit anschließender Diskussion im Pager Haus der nationalen Minderheiten geplant.
Das Saazer Land (DVD und Blu-Ray, deutsch und tschechisch) | Bestellung
Redaktioneller Nachtrag:
Der tschechische Fernsehsender ČT24 berichtete am 17. Juni 2017 über die Veranstaltung mit Stellungnahmen der Zeitzeugin Uta Reiff, des Historikers Petr Hlavaček, des Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Oldrich Latal sowie Petr Šimaček: